Wenngleich der "öffentlichen Raum" auf der politischen Agenda weit oben rangiert und allerorts seine Förderung proklamiert wird, bleibt er seltsam unbestimmt. Nicht nur, dass Soziologen und Planungshistoriker, Marketingfachleute, Kommunalpolitiker und Architekten jeweils etwas anderes darunter zu verstehen scheinen. Schon der Begriff selbst weckt ein Panoptikum an Assoziationen. Nach wie vor ist die allgemeine Erwartung beherrscht von jenen Plätzen, die man aus Italien oder Spanien kennt: Klare räumliche Fassung, erkennbar historisch und gewachsen, immer etwas los, das Wetter stets warm und sonnig. Allein, die Wirklichkeit sieht anderes aus. Weshalb es nur folgerichtig ist, auch die Grauzonen dieser Wahrnehmung einmal ins Visier zu nehmen.
Der von Claus Wiegandt herausgegebene Band geht auf akademische Abschlussarbeiten in München zurück und versammelt sieben Aufsätze, die das Terrain abstecken. So beschäftigt sich Stefan Zöller mit Konzepten für die Umgestaltung der ‚Münchner Freiheit' genannten Platzanlage in Schwabing, wobei die Diskrepanz zwischen gestalterischen Defiziten und einem - aufgrund des Nebeneinanders ganz unterschiedlicher sozialer Gruppen - "funktionierenden" Leben evident wird. Keinerlei Kausalität zwischen Gestalt und sozialer Funktion? Zumindest lässt sich erahnen, dass in der städtebaulichen Praxis gesellschaftstheoretische Überlegungen nur bedingt eine Rolle spielen. Einen gänzlich anderes Motiv treibt Benjamin David um: Er untersucht unter Auswertung von Daten des Kreisverwaltungsamtes die temporäre Öffentlichkeit, das heißt die organisierten Events auf Straßen und Plätzen, sowie deren räumliche Verteilung in der bayrischen Hauptstadt. Und kommt zu dem Befund, dass sich der öffentliche Charakter zahlreicher Teilräume örtlich und zeitlich ständig verändert.
Ähnlich wie beim ‚Channel Switching' der Fernsehzuschauer orientieren sich die Individuen in der Stadt diskontinuierlich im Raum. Nach wie vor jedoch sieht man die Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit, die Konfrontation mit dem Fremden, Ungewohnten und Nicht-Vorhersehbaren, als konstitutiv für die Res Publica an. Dass jedoch zwischen diesen Polen zahlreiche Übergänge bestehen, gerät dabei aus dem Blick. Zudem unterliegt die zeitgenössische Gesellschaft einem so schleichenden wie gravierenden Wandel, der beispielsweise in Begriffen wie Erlebnis-‚ Risiko-, oder Multi-Optionsgesellschaft fassbar gemacht werden will. Zwar generiert der Kanon dieser Schlagworte kein zweifelsfreies Verständnis ihres Inhalts. Ein neuer Begriff von Identität aber ist in jedem Falle vonnöten. Diese wiederum ist ohne eine gewisse Raumbindung auch heute nicht zu haben. Denn die mediatisierte Öffentlichkeit vermag die räumlich erfahrbare nicht einfach zu ersetzen.
Das offenbart schon die Nutzung von Einkaufszentren und Fußgängerzonen, wie Monika Popp illustriert: Seit Rem Koolhaas mit der These reüssierte, dass sich die Rolle des öffentlichen Raums in den zeitgenössischen amerikanischen und europäischen Städten auf dessen konsumptiven Charakter reduziert habe, wird das Shopping von manchem als die letzte verbliebene "öffentliche Handlungsweise" interpretiert. Sei doch der öffentliche Stadtraum von Kaufmechanismen geregelt, und werden doch alle anderen Bereiche urbanen Lebens vom System des Kaufens und Warenverkaufs verdrängt. Insofern repräsentieren die Shopping Center den Strukturwandel der Industriegesellschaft. An die Stelle von Massenfertigung und serieller Architektur tritt eine differenzierte Produktpalette, individuelle Dienstleistungen und "zur Ware gewordene Erlebnisse", die sich neue Standorte und neue Räume zur adäquaten Entfaltung der neuen Potenziale suchen. Und weil das Marketing zunehmend die atmosphärischen Qualitäten der Einkaufsumgebung - auch außerhalb des eigentlichen Ladens - in einen direkten Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Erfolg setzt, wird dem öffentlichen Raum eine entscheidende Bedeutung zugesprochen. Nur: Es handelt sich dann natürlich um einen durch bestimmte Interessen einschlägig strukturierten und gestalteten Raum. Ist der wiederum repäsentativ für die breite Öffentlichkeit inklusive aller "Randgruppen"?
Zweifel sind angebracht, zumal er immer auch eine Bühne zur Selbstdarstellung der je eigenen Wertepräferenzen bildet. Sehen und Gesehenwerden gehören, nicht nur bei den jungen Hedonisten, unabdingbar dazu. Insofern hat der öffentliche Stadtraum heute ebensoviel milieudifferenzierende wie einheitsstiftende Funktionen. Somit erweist sich der Zusammenhang von Normen und Benehmen in unterschiedlich geprägten öffentlichen Räumen als wichtige Frage - besonders da sich die Standards des Sozialverhaltens gelockert haben. Viele Verhaltensweisen, die früher verboten oder inopportun waren, sind längst erlaubt, zumindest gebräuchlich. Um so überraschender, wenn Martin Klamt schlussfolgert, dass bestimmte Regeln für ein Verhalten in den jeweiligen Räumen von den Nutzern akzeptiert werden - und zwar unhinterfragt.
Angesichts der Komplexität des Themas sind aufeinander abgestimmte und widerspruchsfreie Aussagen vom vorliegenden Bändchen nicht zu erwarten; es entschädigt indes mit einem entschiedenen Engagement für sein Thema. Gleichwohl bleibt eine Erkenntnis: Der öffentliche Raum liegt inmitten eines Spannungsfeldes zwischen Liberalität und Toleranz einerseits und gesellschaftlicher Konvention und öffentlicher Ordnung andererseits, wobei die Grenzen immer fließende sind.
Claus-C. Wiegandt (Hg.): Öffentliche Räume - öffentliche Träume. Zur Kontroverse über die Stadt und die Gesellschaft. Lit Verlag, Berlin 2006; 128 S., 15 Euro.