Eine kleine schwarz-weiße Fotoserie bleibt besonders in Erinnerung: Marino Marini sitzt auf einer seiner Pferdeskulpturen und nimmt Posen ein, die an eine Zirkusnummer erinnern. Der Italiener reitet mal rückwärts auf seinem übermannsgroßen Werk, mal hält er sich stocksteif oder umklammert den Hals des Pferdes. Der Künstler schaut dazu ernst, nur einmal hat er ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Fotos wie diesen begegnet man in der neuen Ausstellung im Kunst-Raum des Deutschen Bundestages häufig. Sie trägt den Titel "Miracolo" und zeigt neben den Fotografien aus dem Atelier des Bildhauers einzelne bedeutende Skulpturen und Grafiken.
Mit ihrer Eröffnung am 20. September wurde zugleich ein "Wunder" gefeiert, wie auch Bundestagspräsident Norbert Lammert feststellte. Marinis Reiterskulptur "Miracolo - L'idea di un'immagine", ein Bronzeguss von 1969/70, gelangte schon 2003 nach Berlin und konnte mit der Fertigstellung des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses am Spreeufer aufgestellt werden. Zuvor stand die von den Mäzenen Irene und Rolf Becker gestiftete Skulptur auf der Rampe des Kulturforums nahe des Potsdamer Platzes - heute ragt sie, verstärkt durch die enorme Treppe, noch höher hinaus in den Himmel und ist dabei, ein echtes Wahrzeichen für das neue Parlamentsviertel zu werden. Das Reiterstandbild, imposante viereinhalb Meter groß, dessen rätselhafter Titel übersetzt soviel heißt wie "Die Idee zu einem Bild", gibt es weltweit drei Mal. Ein Guss der Bronze steht in Jerusalem, einer in Tokio und der dritte in Berlin.
Mit dem Wechsel zum neuen Standort entstand die Idee zur aktuellen Ausstellung, zu der die Skulptur auch räumlich in enger Beziehung steht. Denn der Reiter steht genau oberhalb der großen Freitreppe des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses, unter der sich, im Hohlraum unter den Stufen, der Kunst-Raum des Bundestages öffnet. Hier, am Ufer der Spree, werden die Werke Marinis noch bis 7. Janur 2007 gezeigt. Geöffnet hat der Kunst-Raum dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr.
Die Ausstellung zeigt ausgewählte Stücke, die für das variationsreiche Werk Marinis und seine Suche nach neuen stilistischen Ausdrucksformen stehen. Eine kleine Auswahl an Skulpturen, wie "Il Grido" aus der Neuen Nationalgalerie, und kleinere Figuren, verdeutlichen Marinis Arbeitsweise in Studien unterschiedlicher Größe.
Marini (1901 - 1980) gilt neben Alberto Giacometti und Henry Moore als einer der bedeutendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts. Unter dem Eindruck etruskischer Reiterfiguren, die im Boden seiner toskanischen Heimat gefunden wurden, befasste er sich mit dem Motiv Pferd und Reiter, das er immer weiter entwickelte und variierte. Ein Erlebnis in einer Kriegsnacht war der Anstoß für die Auseinandersetzung mit diesem Motiv. Er sah einen Reiter von seinem scheuenden Pferd stürzen. Das aufbäumende Tier wurde für ihn zum Monument des Scheiterns und Leidens, aber auch ein Sinnbild für dessen Überwindung. So steht die Skulptur für ein letztes Aufbäumen gegen die wachsende Unmenschlichkeit, für den Verlust von Halt, doch letztlich hält der Mensch sich daran fest mit der Kraft zum Positiven.
Die Ausstellung zeigt zudem eine Reihe von grafischen Arbeiten verschiedener Techniken aus der Fondazione Marino Marini in Pistoia. Sie sind ebenfalls Studien zum Leitmotiv von Pferd, Reiter und Akrobat, meist in feinen Strichen ohne räumliche Tiefe.
Eine weitere Entdeckung sind die Fotografien von Helmut Lederer und Herbert List aus den 50er-Jahren. Lederer, selber Bildhauer, besuchte Marini in seinem Atelier, um die Skulpturen zu dokumentieren. Daraus ist ein Fotoband entstanden, in dem er Marini mit der Kamera auf seine Art interpretiert. Er zeigt Details und macht Oberflächenstudien, die für sich schon eigene Kunstwerke sind. Und der Fotograf Herbert List war es, der den über 50-jährigen Marini als Zirkusjungen auf der Pferdeskulptur in Szene setzte. Ein wunderbarer Kontrast zu dem rauhen Reiterbild oberhalb der Ausstellung.