Die Geschichte Lateinamerikas war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einem hohen Maß politischer Gewalt geprägt. Während in Zentralamerika Tausende Menschen Bürgerkriegen zum Opfer fielen, etablierten sich in Chile, Argentinien und Uruguay in den sechziger und siebziger Jahren so genannte "neue autoritäre Regime". Ihre Legitimation leiteten sie im Schatten des Kalten Krieges aus einer vermeintlichen oder tatsächlichen Bedrohung von Staat und Gesellschaft durch oppositionelle, linksgerichtete Gruppen ab. Mit der Machtergreifung der Militärs gingen exzessive Repressionsmaßnahmen gegen jede Form der Opposition einher. Sie wurden weitgehend geheim und unter völliger Missachtung bestehender Rechtsnormen organisiert. Gegner der Militärregierungen wurden zu Tausenden zu "Staatsfeinden" erklärt, entführt, gefoltert und ermordet. Von der Mehrzahl der während der Diktaturen "Verschwundenen" fehlt bis heute jede Spur.
Wenngleich die Militärregime im südlichen Lateinamerika mit der "Doktrin der Nationalen Sicherheit" 1 die gleiche ideologische Orientierung verband und sie die Verfolgung Andersdenkender im Rahmen der "Operation Condor" untereinander koordinierten, so zeigen sich zwischen den einzelnen Ländern dennoch deutliche Unterschiede hinsichtlich der Art und des Ausmaßes der Verbrechen. Die Zahl der ermordeten Regimegegner etwa reichte von wenigen Hundert bis zu mehr als Zehntausend Opfern. Nach Angaben der Wahrheitskommission und ihrer Nachfolgeorganisation sind in Argentinien inzwischen über 12 000 Fälle von "Verschwundenen" dokumentiert. In Chile beläuft sich die Zahl der "Verschwundenen" und Ermordeten nach konservativen Schätzungen auf 3 500 bis 4 500. In Uruguay gehen Menschenrechtsorganisationen von mindestens 210 "Verschwundenen" aus.
Unterschiede bestehen auch hinsichtlich der Dauer der Militärregierungen und des Verlaufs der Transition. Zwar liegen die Machtergreifungen durch die Militärs zeitlich nah beieinander (Chile 1973, Uruguay 1973 und Argentinien 1976). Nach Argentinien (1983) und Uruguay (1985) kehrte Chile allerdings erst 1990 zur Demokratie zurück. Während in Argentinien die Niederlage im Falkland/Malvinas-Krieg den endgültigen Kollaps der Militärregierung auslöste, wurde die Rückkehr zur Demokratie in Chile und Uruguay durch Verhandlungen zwischen dem Militär und zivilen Kräften eingeleitet.
Ungeachtet dieser unterschiedlichen Voraussetzungen sahen sich alle drei Länder nach der Rückkehr zur Demokratie gleichermaßen mit dem politisch brisanten Erbe staatlich organisierter Verbrechen konfrontiert. 2 Neben den Regierungen, den Parlamenten und der Justiz waren es insbesondere die Vertreter der Täter- und Opfergruppen, das Militär und die Menschenrechtsbewegungen, die den staatlichen Umgang mit dem Erbe der Diktatur prägten. Selbst nachdem Grundsatzentscheidungen (über Amnestien, Wahrheitskommissionen etc.) getroffen und umgesetzt worden waren, brachten diese das Thema der Vergangenheitspolitik 3 immer wieder auf die politische Agenda.
Wenn im Folgenden die unterschiedlichen Wege der Aufarbeitung in Chile, Argentinien und Uruguay im Vergleich dargestellt und spezifische Merkmale der Vergangenheitspolitik in Lateinamerika herausgearbeitet werden, so sind dabei drei Fragen von besonderem Interesse: Welche Instrumente und Mechanismen kamen in den einzelnen Ländern zur Anwendung? 4 Lässt sich eine zeitliche Sequenz der Aufarbeitungsprozesse feststellen? In welchem Zusammenhang stehen Demokratisierung und Vergangenheitspolitik?
Anders als in Chile und Uruguay wurde der Übergang zur Demokratie in Argentinien durch einen Kollaps der Militärregierung eingeleitet. Die Bedingungen für eine strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen des Staatsterrorismus schienen deshalb zunächst günstig. Präsident Raúl Alfonsín (1983 - 1989) versprach eine umfassende Aufarbeitung und reagierte damit auch auf den öffentlichen Druck einer starken, im Widerstand gegen die Diktatur geeinten Menschenrechtsbewegung und die breite gesellschaftliche Unterstützung ihrer Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit. 5
Der "Nationalen Kommission über das Verschwindenlassen von Personen" (CONADEP) gelang es, in neun Monaten mehr als 50 000 Seiten Beweismaterial über Art und Ausmaß der Repression zusammenzutragen. In ihrem Abschlussbericht dokumentierte sie 8 963 Fälle gewaltsamen "Verschwindenlassens" und lokalisierte 340 ehemalige Gefängnis- und Folterzentren. Auf einer Liste, die ursprünglich geheim bleiben sollte, wurden außerdem über 1 300 Personen genannt, die aktiv an der Repression beteiligt gewesen waren. Die Wirkung des Berichts war gewaltig. Innerhalb weniger Wochen wurde die knapp 500 Seiten lange Buchfassung unter dem Titel "Nie Wieder" (Nunca Más) über 150 000 Mal verkauft. 6 Ein Verzicht auf die strafrechtliche Verfolgung der Täter schien danach kaum mehr denkbar.
Die Hoffnung auf eine Bestrafung aller Schuldigen sollte jedoch schon bald enttäuscht werden. Denn die Strategie Alfonsíns zielte von Anfang an auf eine klare Begrenzung der Strafverfolgung auf die Führungszirkel der Militärdiktatur und wenige paradigmatische Fälle so genannter "Exzesstäter", die zum einen durch die Prozessführung vor Militärgerichten und zum anderen durch eine weite Auslegung des "Befehlsnotstandes" erreicht werden sollte. Erst als sich das Oberste Militärtribunal weigerte, ein Urteil in eigener Sache zu sprechen, wurden die Prozesse gegen die neun Mitglieder der ersten drei Militärjuntas dem zuständigen Zivilgericht übertragen. Die öffentlichen Anhörungen, in denen über 800 Zeugen gehört wurden, gipfelten in der Verurteilung fünf ehemaliger Juntamitglieder zu bis zu lebenslänglichen Haftstrafen. Vier Offiziere wurden freigesprochen. Die Prozesse gegen die Angehörigen der Militärjunta gelten als Meilenstein im argentinischen Demokratisierungsprozess. In keinem anderen lateinamerikanischen Land waren die Hauptverantwortlichen eines Militärregimes durch ein demokratisch legitimiertes Zivilgericht verurteilt worden. Besondere Bedeutung erlangte das Urteil insofern, als es die Strafverfahren gegen den Willen Alfonsíns auf untere militärische Ränge ausweitete. Hatte die Regierung gehofft, dass die Strafverfolgung mit dem "Prozess des Jahrhunderts" ihr Ende finden würde, so wurden in seiner Folge über 400 weitere Offiziere vorgeladen.
Ungeachtet seiner zunächst schwachen Ausgangsposition entwickelte sich das Militär unterdessen wieder zu einem Störfaktor mit maßgeblichem politischem Einfluss. Seine Führung verweigerte jede Zusammenarbeit bei der gerichtlichen Aufarbeitung der Verbrechen und forderte eine "politische Lösung" der Prozesse. Auf die wachsenden zivil-militärischen Spannungen, die sich in verschiedenen Militärrevolten manifestierten, reagierte die Regierung mit politischen Maßnahmen zur Eingrenzung der Strafverfolgung. Mit der Verabschiedung des so genannten "Schlusspunktgesetzes" (Ley de Punto Final) wurde im Dezember 1986 eine Frist von 60 Tagen festgesetzt, nach deren Ablauf keine weiteren Klagen gegen ehemalige Mitglieder der Militärregierung mehr eingereicht werden konnten. Erst eine weite Auslegung der Gehorsamspflicht durch das "Befehlsnotstandsgesetz" (Ley de Obediencia Debida) zeigte die von Alfonsín gewünschte Wirkung: Im Juni 1987 sank die Zahl der Militärs, die sich wegen Menschenrechtsverbrechen zur Zeit der Diktatur vor Gericht verantworten mussten, von 370 auf etwa 40.
Neben der regressiven Wende in der Vergangenheitspolitik war es besonders das wirtschaftspolitische Scheitern, das einen drastischen Vertrauensverlust der Regierung Alfonsín und ihren vorzeitigen Rücktritt zur Folge hatte. Vor dem Hintergrund des deutlich gesunkenen öffentlichen Interesses an der Menschenrechtsproblematik verfügte Alfonsíns Nachfolger Carlos Menem 1989 und 1990 die Begnadigung von Militärs, die bereits verurteilt worden waren oder noch vor Gericht standen. Eine Politik des Schlussstrichs, so die Begründung der peronistischen Regierung, sei die unabdingbare Voraussetzung für die Konsolidierung der Demokratie, für ökonomische Stabilität und nationale Einheit. Die Rhetorik der Versöhnung bildete auch den Rahmen für politische Initiativen der Wiedergutmachung: Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet verabschiedete das argentinische Parlament in den Jahren zwischen 1992 und 1994 - auf Drängen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission - Gesetze zur finanziellen Entschädigung der ehemaligen politischen Häftlinge und der Angehörigen von "Verschwundenen". 7
Neuen Auftrieb erhielt die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Erbe der Diktatur erst wieder im März 1995 durch öffentliche Geständnisse einstiger Handlanger der Militärregierung. In einem Interview mit dem argentinischen Journalisten Horacio Verbitsky schilderte Fregattenkapitän Francisco Scilingo die Praxis der so genannten "Todesflüge", bei denen in den Jahren 1976 und 1977 Hunderte Gefangener aus Flugzeugen über dem Rio de la Plata in den Tod gestürzt worden waren. Der Stabschef des argentinischen Heeres reagierte auf das Geständnis mit einer historischen Rede, in der er erstmals die Verantwortung der Streitkräfte für die Verbrechen des Staatsterrorismus übernahm und die "Gehorsamspflicht" bei unmoralischen Befehlen in Frage stellte.
Auch die Massendemonstrationen zum 20. Jahrestag des Militärputsches im März 1996 hatten die Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit neu belebt. Nachdem den Angehörigen der Opfer von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission ihr "Recht auf Wahrheit" bestätigt worden war, eröffneten verschiedene Gerichte des Landes so genannte "Wahrheitsprozesse". Diese konnten aufgrund der Amnestiegesetze zwar keine Strafen verhängen, die Erforschung und Dokumentation der Diktaturverbrechen aber weiter vorantreiben. Seit 1998 ist auch in die strafrechtliche Aufarbeitung wieder Bewegung geraten. Nach der Verhaftung des ehemaligen chilenischen Diktators Augusto Pinochet in London und im Kontext der vom spanischen Richter Baltazar Garzón angestoßenen Auslieferungsverfahren gegen lateinamerikanische Militärs versuchten argentinische Anwälte und Richter zunächst, die Lücken der Amnestiegesetze zu nutzen, um neue Strafverfahren zu eröffnen. Ehemalige Mitglieder der Militärregierung, darunter auch der einstige Juntachef Jorge Rafael Videla, müssen sich seitdem erneut vor Gericht verantworten, unter anderem wegen ihrer Beteiligung an der systematischen Entführung und Zwangsadoption der Babys von "Verschwundenen".
Mit dem Amtsantritt von Präsident Nestor Kirchner im August 2003 hat der Prozess der Aufarbeitung in Argentinien abermals an Dynamik gewonnen. Bereits kurz nach seiner Wahl kündigte Kirchner an, auf dem Gelände der Mechanikerschule der Marine, dem größten Folterzentrum der Diktatur, eine Gedenkstätte einzurichten. Kirchner trat in der Folge offen für eine Revision der unter Alfonsín verabschiedeten Amnestiegesetze ein, deren "irreversible Nichtigkeit" ein Gericht bereits im März 2001 erklärt hatte. Nachdem auch das Parlament das Schlusspunkt- und das Befehlsnotstandsgesetz annulliert und das Oberste Gericht im Juni 2005 deren Verfassungswidrigkeit endgültig bestätigt hatte, wurden die Strafverfahren wieder auf das gesamte Spektrum der Verbrechen ausgeweitet. Ende 2005 befanden sich nach Informationen der Menschenrechtsorganisation Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS) 180 Militär- und Polizeiangehörige wegen Verbrechen des Militärregimes in Haft, gegen etwa 400 weitere Personen wird ermittelt.
Anders als in Argentinien zeichneten sich in Uruguay schon früh Widerstände gegen eine umfassende Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Militärregierung ab. Abgesehen von den Folgen des verhandelten Übergangs, der das Militär in einer Position relativer Stärke beließ, zählten dazu der vergleichsweise geringe politische Einfluss der Menschenrechtsbewegung sowie das begrenzte öffentliche Interesse an Maßnahmen der Aufarbeitung. Von Bedeutung war schließlich vor allem, dass Präsident Julio María Sanguinetti von Anfang an bemüht war, eine politische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu vermeiden. Ein Schlussstrich, so seine Argumentation, sei die notwendige Voraussetzung für Befriedung und Versöhnung.
Am 1. März 1985 kündigte Sanguinetti eine Amnestie für politische Häftlinge der Diktatur sowie die Einrichtung einer Sonderkommission an, um die Rückkehr uruguayischer Staatsbürger aus dem Exil zu erleichtern. Seine Antrittsrede enthielt jedoch keinen Verweis auf Maßnahmen der Aufklärung oder der Strafverfolgung. Ganz in diesem Sinne regelte das "Gesetz zur Nationalen Befriedung" (Ley de Pacificación Nacional) lediglich die schnelle Freilassung der verbleibenden Häftlinge der Diktatur. Ende 1985 verabschiedete das Parlament außerdem ein Gesetz zur Wiedereingliederung von Beamten, die während der Diktatur aus politischen Gründen entlassen worden waren.
Neben der sofortigen Freilassung der politischen Häftlinge und der strafrechtlichen Verfolgung der Verbrechen der Militärregierung hatten Menschenrechtsorganisationen bereits Ende 1984 die Einrichtung einer Wahrheitskommission gefordert. Die auf Initiative der Opposition eingesetzten parlamentarischen Untersuchungskommissionen zur Aufklärung des Schicksals der "Verschwundenen" sowie des Mordes an zwei prominenten uruguayischen Politikern (Zelmar Michelini und Héctor Gutiérrez Ruiz) erhielten jedoch keine politische Rückendeckung durch die Regierung. Sie wurden außerdem nicht mit den notwendigen Kompetenzen ausgestattet, um ihrem öffentlichen Auftrag gerecht werden zu können. Die Ergebnisse der Kommissionsarbeit blieben deshalb vage, wurden nicht öffentlich diskutiert, hatten keine politischen Folgen und fanden in der Bevölkerung kaum Beachtung.
Nach dieser für die Opfer und ihre Angehörigen bitteren Enttäuschung richteten sich die Hoffnungen der Menschenrechtsbewegung auf die wachsende Aktivität der Gerichte bei der Aufklärung und juristischen Verfolgung der Verbrechen. Angesichts der steigenden Zahl von Strafanzeigen, die im Dezember 1986 bereits 734 Fälle mutmaßlicher Menschenrechtsverbrechen umfassten, forderten Präsident Sanguinetti und die Militärführung jedoch immer nachdrücklicher eine "politische Lösung" zur Beendigung der Prozesse. Vor dem Hintergrund unmittelbar bevorstehender richterlicher Vorladungen von Militärangehörigen ließ sich Ende 1986 ein Teil der Opposition mit dem Argument einer vermeintlich drohenden Staatskrise von der Notwendigkeit einer weitreichenden Amnestie überzeugen. Das "Hinfälligkeitsgesetz" (Ley de Caducidad) setzte der Strafverfolgung von Militär- und Polizeiangehörigen ein abruptes Ende.
Als Folge massiver öffentlicher Kritik an der Entscheidung des Parlaments begann im Januar 1987 eine zweite Phase der Auseinandersetzung: ein Prozess der zivilgesellschaftlichen Mobilisierung, der auf eine Volksabstimmung über das "Hinfälligkeitsgesetz" zielte. Trotz des entschiedenen Widerstands der Exekutive gelang es den Mitgliedern der "Kommission für ein Referendum", in knapp elf Monaten die für einen Volksentscheid erforderliche Zahl von Unterschriften zusammenzutragen. Im März 1989 veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Servicio Paz y Justicia außerdem die Ergebnisse einer umfangreichen Untersuchung über die verheerenden Ausmaße der Diktaturverbrechen. 8 Gleichwohl wurde die Ley de Caducidad durch das Plebiszit vom 16. April 1989 mit knapper Mehrheit bestätigt. Den Befürwortern der Amnestie hatte dabei die Warnung vor einer Staatskrise in die Hände gespielt.
Versuche der Menschenrechtsorganisationen, vor dem Hintergrund der Ereignisse in Argentinien Mitte der neunziger Jahre die institutionelle Aufarbeitung der Verbrechen der Militärregierung wieder anzustoßen, blieben zunächst ohne Erfolg. Erst der Amtsantritt von Präsident Jorge Batlle im März 2000 markierte einen vergangenheitspolitischen Richtungswechsel. Batlle veranlasste im August 2000 die Einrichtung einer "Kommission für den Frieden" (Comisión para la Paz). Sie wurde beauftragt, Informationen über das Schicksal der uruguayischen "Verschwundenen" zu sammeln, zu analysieren und systematisch auszuwerten. Wenngleich ihre Kompetenzen ebenso begrenzt blieben wie die Reichweite ihrer Untersuchungen, so war die Arbeit der Kommission doch insofern von Bedeutung, als sie das Erbe der Diktatur von Neuem auf die politische Agenda brachte. Als die Kommission im April 2003 der Öffentlichkeit ihren Abschlussbericht präsentierte, erkannte der Staat darin erstmals offiziell seine Verantwortung für die Verbrechen der Vergangenheit an. 9
In der aktuellen, vom Linksbündnis Frente Amplio getragenen Regierung haben vergangenheitspolitische Auseinandersetzungen weiterhin Konjunktur. Präsident Tabaré Vásquez hat die Stabschefs von Heer, Marine und Luftwaffe offiziell dazu aufgefordert, Informationen über das Schicksal der "Verschwundenen" herauszugeben. Erstmals seit Beendigung der Militärdiktatur wurde auf dem Gelände militärischer Einrichtungen nach sterblichen Überresten der Opfer gegraben. Auch die Reichweite der Ley de Caducidad und ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung werden wieder diskutiert. Einige Strafverfahren sind inzwischen wieder aufgenommen worden. Fünf uruguayischen Militärs und einem Polizisten droht außerdem die Auslieferung nach Argentinien - wegen Verbrechen im Kontext der "Operation Condor". In Uruguay wurde allerdings bisher kein einziger Militärangehöriger für die während der Diktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen rechtskräftig verurteilt.
Was die Zahl ihrer Opfer betrifft, steht die chilenische Diktatur im Schatten des argentinischen Militärregimes. Offiziell dokumentiert waren bis 1994 3 068 Tote; 10 selbst konservative Schätzungen gehen jedoch von 3 500 bis 4 500 Toten und "Verschwundenen" aus. 11 Dazu kommen Tausende von Inhaftierten (150 000 bis 200 000), Gefolterten (vermutlich mehr als 100000, namentlich dokumentiert sind 28 500 Personen) und ins Exil Getriebenen (bis zu 400 000).
Die Frage der Aufarbeitung der Regimeverbrechen war eines der zentralen Themen im Übergangsprozess. Bereits 1978 hatten die Militärs eine Amnestie für alle bis zu diesem Zeitpunkt begangenen Regimeverbrechen verabschiedet (eine Ausnahme bildete die Ermordung von Orlando Letelier, des ehemaligen Außenministers der Regierung Salvador Allendes, in Washington 1976). Die Amnestie war ein aus Sicht der Militärs nicht verhandelbarer Eckpunkt für einen zukünftigen Demokratisierungsprozess. Das Militärregime hatte außerdem kurz vor dem Machtwechsel Richterstellen am Obersten Gerichtshof neu besetzt, um einer Bestrafung der Diktaturverbrechen vorzubeugen.
Mit diesen Restriktionen sah sich die erste nachautoritäre chilenische Regierung unter Präsident Patricio Aylwin konfrontiert, die ihr Amt im März 1990 antrat. Bereits im April 1990 setzte Aylwin die so genannte "Nationale Kommission Wahrheit und Versöhnung" ein, die sich aus acht Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, auch aus dem rechten politischen Spektrum, zusammensetzte und zudem über einen technischen Stab verfügte. Aufgabe der Kommission war es, die während der Diktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen, bei denen die Opfer zu Tode gekommen waren, zu untersuchen und zu dokumentieren, ohne allerdings richterliche Funktionen wahrzunehmen. 12 Die Kommission nahm Stellung zu den Ursachen des Militärputsches, hinterfragte die Interpretation der Militärs, dass es eine Bürgerkriegssituation gegeben hatte, beschrieb die Praxis der Repression und sprach von systematischen Menschenrechtsverletzungen durch die Staatsorgane. Zudem kritisierte sie die passive Rolle der Justiz während der Militärherrschaft, veröffentlichte Zahlen über die Opfer und Verschwundenen und gab Empfehlungen zu Wiedergutmachungsleistungen an die Opfer oder ihre Angehörigen. Diese wurden später weitestgehend umgesetzt (unter anderem mittels einer Nachfolgeorganisation der Wahrheitskommission). Die Führung der Streitkräfte, vor allem des Heeres und der Marine, wies den Bericht der Wahrheitskommission als einseitig zurück.
Nach der Veröffentlichung des Berichts verlagerte sich die Auseinandersetzung über die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in die Gerichte. Für einige Verbrechen, die nicht unter die Amnestie fielen, wurden die Schuldigen verurteilt, unter anderem auch der ehemalige Geheimdienstchef Manuel Contreras. Die Strafen fielen jedoch überwiegend milde aus; außerdem wurde den Angehörigen oder ehemaligen Angehörigen der Sicherheitskräfte die Unterbringung in einem gesonderten Gefängnis garantiert.
Lange Zeit hatte der harte Kern des alten Regimes um Augusto Pinochet immer wieder versucht, die Aufarbeitung der Vergangenheit mit Drohgebärden - Manövern und Alarmübungen der Streitkräfte - zu behindern. So war es absehbar, dass nach dem definitiven Abtreten Pinochets vom Oberbefehl des Heeres im März 1998 eine neue Phase in der Auseinandersetzung mit der Diktaturvergangenheit einsetzen würde. Durch die Verhaftung des Generals in London im Oktober 1998 und seinen erzwungenen Aufenthalt dort bis Anfang März 2000 hat sich der Prozess der Aufarbeitung beschleunigt. Allerdings wäre es falsch, die Entwicklungen nach 1998 allein auf die Verhaftung Pinochets zurückzuführen. Bereits vorher war es zu wichtigen Veränderungen und Initiativen gekommen. Ende 1997 - noch bevor Pinochet aus dem Amt als Oberkommandierender des Heeres ausschied - waren bereits gegen 251 Personen Gerichtsverfahren wegen Menschenrechtsverletzungen eingeleitet worden. Bereits vor seiner Verhaftung in London gab es in Chile 17 Ermittlungsverfahren gegen Pinochet. 13 Nach seiner Rückkehr nach Chile konnte Pinochet einer Verurteilung nur deshalb entgehen, weil ihn die Gerichte zunächst wegen Altersdemenz für nicht verhandlungsfähig erklärten. Nachdem eine Untersuchung des US-Senats zu Tage förderte, dass der ehemalige Diktator ein millionenschweres Bankkonto in den Vereinigten Staaten besitzt, muss er sich seit dem Jahre 2005 erneut vor Gericht verantworten; dieses Mal nicht nur wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen, sondern auch wegen Steuerhinterziehung.
Zu diesen Entwicklungen in der Rechtsprechung hatten nicht zuletzt personelle Veränderungen in der Justiz beigetragen. Nach und nach traten die von Pinochet ernannten Richter in den Ruhestand (wobei die Regierung eine aktive Rolle spielte); ihre Nachfolger stellten bei ihren Urteilen mehr und mehr die gewandelten politischen Rahmenbedingungen in Rechnung. So legten die Gerichte teilweise das Amnestiegesetz neu aus, indem erst die Straftat aufgeklärt und dann amnestiert wurde. Einzelne Richter stellten das Gesetz sogar in Frage, da es hinsichtlich der Amnestierbarkeit bestimmter Verbrechen gegen internationales Recht verstoße. Eine juristische Neuinterpretation erfuhren auch die Fälle der "Verschwundenen", die rechtlich als immer noch entführt galten, solange keine Leiche gefunden wurde. Die Verbrechen dauerten somit an; so konnten sie weder amnestiert noch entsprechende Verfahren eingestellt werden.
Der Zwangsaufenthalt des früheren Diktators in London und die nachfolgende juristische Verfolgung Pinochets in Chile haben zu einem weiteren Macht- und Prestigeverlust des Generals und seiner Kernanhänger in Chile geführt. Bereits im August 1999 wurde ein "runder Tisch", die so genannte "Mesa de Diálogo", eingerichtet. Der Verteidigungsminister von Präsident Eduardo Frei (1994 - 2000), Edmundo Pérez-Yoma, hatte Anwälte von Menschenrechtsorganisationen, renommierte Historiker und weitere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie Vertreter der Kirchen und der Streitkräfte eingeladen, sich am Dialog über die Lösung der noch anstehenden Probleme bei der Aufarbeitung der Vergangenheit - wie etwa dem Thema der "Verschwundenen" - zu beteiligen. Die Abschlusserklärung der "Mesa de Diálogo" zu den Menschenrechten vom Juni 2000, die sowohl von Opferanwälten als auch von Vertretern der Streitkräfte unterschrieben worden war, stellt ein Kompromisspapier dar. So wird in der gemeinsamen Erklärung festgestellt, dass während der Militärherrschaft von Angehörigen des Staatsapparates schwere Menschenrechtsverletzungen begangen worden waren, die von den Unterzeichnern verurteilt werden und in Zukunft verhindert werden sollen. Dieser Grundkonsens war neu und ging über die Ergebnisse der Wahrheitskommission von 1991 hinaus. Über den Putsch und seine Ursachen bestanden demgegenüber weiterhin unterschiedliche Meinungen - unter den an der "Mesa de Diálogo" Beteiligten wie auch in der chilenischen Gesellschaft. Darauf wurde in der gemeinsamen Erklärung gleichfalls hingewiesen.
Der 30. Jahrestag des Putsches gegen Salvador Allende war 2003 sowohl in Chile als auch im Ausland Anlass für eine erneute breite Debatte über die Ursachen und Folgen der Machtübernahme durch das Militär im Jahr 1973. In einer Fernsehansprache stellte Präsident Ricardo Lagos am 13. August 2003 unter dem Titel "No hay mañana sin ayer" ("Es gibt kein Morgen ohne Gestern") die Grundzüge seiner Menschenrechtspolitik vor und kündigte die Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung politischer Haft und Folter während der Militärdiktatur (Comisión Nacional sobre Prisión Política y Tortura) an. Über einen Zeitraum von mehreren Monaten (November 2003 - Mai 2004) wurden insgesamt 35 865 Personen befragt. Der 1 300-seitige Abschlussbericht wurde am 28. November 2004 von Präsident Lagos der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Bericht identifiziert 802 meist geheime Haftzentren und beschreibt die Folterpraktiken. Insgesamt 28 459 Personen werden als Folteropfer anerkannt. 14 Sie sollen mit monatlichen Zahlungen von umgerechnet 150 bis 160 Euro entschädigt werden. Noch vor Veröffentlichung des Berichts der Kommission hatte Anfang November 2004 General Juan Emilio Cheyre in seiner Funktion als Oberkommandierender des Heeres die institutionelle Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen anerkannt, die durch nichts zu rechtfertigen seien.
Während der chilenische Prozess der Aufarbeitung lange Zeit von außen eher kritisch bewertet wurde - auch wenn die schwierigen Rahmenbedingungen mit Pinochet als Oberbefehlshaber des Heeres in Rechnung gestellt wurden -, gilt Chile mittlerweile fast als eine "Erfolgsgeschichte" oder als ein Modellfall in Lateinamerika: 15 In keinem anderen lateinamerikanischen Land, das unter einer Militärdiktatur gelitten hatte, sind die Verbrechen umfassender aufgeklärt und dokumentiert worden; in keinem anderen Land sind mehr Militärs angeklagt (und verurteilt) worden; in keinem anderen Land sind die Opfer ähnlich umfassend (nach Opferkategorien) entschädigt worden. Bereits Mitte 2003 summierten sich die staatlichen Entschädigungsleistungen auf rund 650 Millionen US-Dollar. Seit Beginn des Transitionsprozesses bis Ende 2005 sind 94 Personen wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt worden (davon 20 zu lebenslanger Haft), weitere 405 Gerichtsverfahren sind noch nicht abgeschlossen. Dies sind beachtliche Ergebnisse, wenn man die schwierigen Ausgangsbedingungen berücksichtigt. Wie der chilenische Fall zeigt, ist die Aufarbeitung der Diktaturverbrechen ein langwieriger Prozess, der durch die Auseinandersetzung über die Deutung der Vergangenheit 16 und die sich wandelnden Machtverhältnisse geprägt ist und dessen Ergebnisse immer nur als vorläufig anzusehen sind.
Mit Blick auf die Entwicklungen in Chile, Argentinien und Uruguay lassen sich mindestens vier verschiedene Phasen der Aufarbeitungsprozesse unterscheiden. Sie sind eng mit den jeweiligen Stadien im Prozess der Demokratisierung verknüpft. Unmittelbar nach dem Übergang steht zunächst durchgehend die Suche nach der "Wahrheit" über die Regimeverbrechen im Vordergrund. Gerechtigkeit wird nur im Rahmen des Möglichen, das heißt der politischen Machtverhältnisse durchgesetzt. In der zweiten Phase geht es vorwiegend um die Befreiung der Justiz aus politisch bedingten Beschränkungen bei der Aufarbeitung von Regimeverbrechen. In einer umfassenderen Perspektive soll als eine zentrale Komponente im Konsolidierungsprozess der Rechtsstaat gestärkt werden. In dieser und in der nächsten Phase werden außerdem häufig Maßnahmen der symbolischen und der materiellen Wiedergutmachung initiiert.
In einer dritten Phase, bereits mit einem gewissen zeitlichen Abstand zum Regimewechsel, wird unter veränderten politischen Rahmenbedingungen - meist vor dem Hintergrund einer geschwächten Machtposition der Vertreter des autoritären Regimes - erneut ein Prozess der Wahrheitssuche eingeleitet. Ausgelöst wird diese Phase oft durch spektakuläre Ereignisse wie etwa "Geständnisse" der Täter oder die neuerliche Einleitung von Strafverfahren. Eine zentrale Rolle kommt nun den Medien und vor allem den Gerichten zu. In der vierten Phase werden - auch bedingt durch einen Generationswechsel im Militär und in den politischen Führungspositionen - Politik und Recht wieder zusammengeführt. Nun geht es darum, ohne den vorherigen Druck der autoritären Machthaber einen gesellschaftlichen und politischen Konsens über die Ursachen und Folgen der Diktatur und das Ergebnis ihrer Aufarbeitung zu erreichen. Zur Diskussion stehen dabei die zukünftige Verankerung der Regimeverbrechen im kollektiven und kulturellen Gedächtnis der betroffenen Gesellschaften, aber auch die politisch gewollten Grenzen der juristischen Aufarbeitung dieser Verbrechen. Die genannten Phasen lassen sich in der Praxis nicht eindeutig voneinander trennen und überschneiden sich häufig.
1 'Diese Doktrin
behauptet die äußere und innere Sicherheit als
wichtigste Aufgabe des Staates; staatliches Handeln untersteht zu
diesem Zweck keinen (menschen-)rechtlichen Beschränkungen und
Kontrollen. So legitimiert die Doktrin erhebliche
Verschärfungen vorhandener Sicherheitsgesetze.'
2 'Zur komparativen Analyse der
Aufarbeitungsprozesse vgl. Alexandra Barahona de Brito, Human
Rights and Democratization in Latin America: Uruguay and Chile,
Oxford 1997; Luis Roniger/Mario Sznajder, The Legacy of Human
Rights Violations in the Southern Cone. Argentina, Chile, and
Uruguay, Oxford 1999.'
3 'Zum Konzept der Vergangenheitspolitik
vgl. Ruth Fuchs/Detlef Nolte, Politikfeld Vergangenheitspolitik:
Zur Analyse der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen in
Lateinamerika, in: Lateinamerika-Analysen, 9 (2004), S. 59 -
92.'
4 'Vgl. hierzu Ruth Fuchs/Detlef Nolte,
Vergangenheitspolitik in Lateinamerika. Instrumente und Sequenzen,
in: Joachim Landkammer/Thomas Noetzel/Walther Ch. Zimmerli (Hrsg.),
Erinnerungsmanagement. Systemtransformation und
Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, München
2006, S. 133 - 160.'
5 'Zur Vergangenheitspolitik in
Argentinien vgl. Ruth Fuchs, Staatliche Aufarbeitung von Diktatur
und Menschenrechtsverbrechen in Argentinien. Die
Vergangenheitspolitik der Regierungen Alfonsín (1983 - 1989)
und Menem (1989 - 1999) im Vergleich, Hamburg 2003.'
6 'Vgl. Comisión Nacional sobre
la Desaparición de Personas, Nunca Más, Buenos Aires
1984.'
7 'Zur Entschädigungspraxis in
Argentinien vgl. María José Guembe, Economic
Reparations for Grave Human Rights Violations: the Argentinean
Experience, in: Pablo de Greiff (Hrsg.), The Handbook of
Reparations, Oxford - New York 2006, S. 21 - 54.'
8 'Vgl. Servicio Paz y Justicia, Uruguay
Nunca Más. Informe sobre la violación de derechos
humanos (1972 - 1985), Montevideo 1989.'
9 'Vgl. Informe Final de la
Comisión para la Paz, in:
http://www.serpaj.org.uy/serpajph/documentos/d_copazfinal.pdf
(27.7. 2006)'
10 'Dies ist die im Bericht der
chilenischen Wahrheitskommission (Comisión Nacional de
Verdad y Reconciliación) und ihrer Nachfolgeorganisation
(Corporación Nacional de Verdad y Reconciliación)
genannte Zahl der Opfer der Repression.'
11 'Siehe die ausführlichen
Begründungen für die Zahl der Opfer unterschiedlicher
Formen der Repression bei Steve J. Stern, Remembering Pinochet`s
Chile, Durham & London 2004, S. xxi und S. 158 - 161.'
12 'Zur chilenischen
Wahrheitskommission vgl. Informe de la Comisión Nacional de
Verdad y Reconciliación, drei Bände, Santiago de Chile
1991; Guido Klumpp, Vergangenheitsbewältigung durch
Wahrheitskommissionen - das Beispiel Chile, Berlin 2001.'
13 'Vgl. J. Samuel Valenzuela, Los
derechos humanos y la redemocratización en Chile, in: Manuel
Acántara/Leticia M. Ruiz Rodríguez (Hrsg.), Chile.
Política y modernización democrática,
Barcelona 2006, S. 164, 178.'
14 'Dies sind die Zahlen, die im
Informe Complementario der Kommission vom Mai 2005 genannt werden.
http://www.comisiontortura.cl/'
15 'Vgl. J. S. Valenzuela (Anm.
13).'
16 'Vgl. hierzu S.J. Stern (Anm.
11).'