Das Wort "Büro" kommt vom lateinischen "burra" und heißt eigentlich "Tuch auf dem Tisch" oder "zottiges Gewand". Dieser Begriff, so die Kölner Design-Professorin Birgit Mager, "beschreibt sehr präzise die Funktion der frühen Büro-Dienstleister, die von Markt zu Markt zogen, dort ihre Gewänder und Tücher ausbreiteten und ihre Leistungen des Wiegens und Wägens, des Schreibens und Rechnens, des Beratens und Entscheidens dort erbrachten, wo die Kunden waren". Mit der Zeit wurden die mobilen "Bürokraten" in Gebäuden und großen Magazinen zusammengefasst. Nun kamen die Kunden in die auf diese Weise zentralisierten Büros - die Angestellten verkauften ihre Dienstleistungen "hinter ihren Tischen thronend".
Die "Bürofabrik" entstand, die in ihrer Anfangzeit die Organisationsprinzipien der Industrie übernahm. Anweisungen, Chefs und die Stechuhr bestimmten von nun an den Alltag der Beschäftigten. Die Unternehmen praktizierten "Management by Kasperletheater", wie es der Berliner Arbeitszeitexperte Michael Weidinger ironisch beschreibt. "Seid ihr auch alle da?", war die entscheidende, ständig wiederholte Frage. Bis heute dominieren in vielen Büros Anwesenheitszwang sowie eine zeitfressende Sitzungs- und Abstimmungskultur. Präsenz und volle Terminplaner signalisieren Fleiß, Belastbarkeit und Unentbehrlichkeit.
An anderen Arbeitsplätzen sind Arbeitszeit und Anwesenheit nicht mehr unbedingt identisch. Die Geschäftsführung fragt nicht nach, ob auch alle da sind - statt dessen hat sie die "Vertrauensarbeitszeit" eingeführt. Die "Burras" werden jetzt wie in vergangenen Zeiten an wechselnden Orten aufgeschlagen: beim Kunden, auf Messen, im Auto, Zug oder Flugzeug, vielleicht auch im Heimbüro oder gar auf der sonnigen Urlaubsterrasse. Als Folge stehen die von den Unternehmen bereitgestellten Räume zeitweise leer.
Eine Studie des deutsch-schweizerischen Instituts für Arbeitsforschung hat ergeben, dass Angestellte im Schnitt nur 60 bis 70 Prozent ihrer Arbeitszeit im Firmengebäude verbringen. Nicht einmal die Hälfte davon sitzen sie am eigenen Schreibtisch; in Beratung und Vertrieb liegt die Auslastung noch niedriger. Firmen interessieren sich deshalb für Alternativen: Die Büromöbelindustrie und die IT-Branche haben einen lukrativen Markt entdeckt und präsentieren Produkte wie "Caddies" (fahrbare Rollcontainer), "Docking Stations" (frei verfügbare Arbeitsplätze mit Anschlüssen für tragbare Computer) oder bequeme Sitzgelegenheiten für "Büro-Bistros", wo Mitarbeiter kommunizieren und ihre Kreativität entfalten sollen.
Gibt es sie überhaupt als Massenphänomen, die modernen Nomaden ohne festen Schreibtisch, die scheinbar unabhängig von Zeit und Raum arbeiten? "Der Wandel vollzieht sich langsam", glaubt Design-Expertin Mager. Jeder dritte deutsche Büroarbeiter sitzt nach wie vor im klassischen Einzelzimmer, und die meisten stechen wie seit Jahrzehnten jeden Tag ihre Karten. Das Ausmaß der elektronisch unterstützten Arbeit von zu Hause aus werde ebenfalls überschätzt, sagt der Chemnitzer Soziologe Frank Kleemann, der in einer Studie die "Wirklichkeit der Teleheimarbeit" untersucht hat: "Aus Kalkül und Wunschdenken heraus haben Prognosen große Zahlen produziert."
Das bedeutet freilich keineswegs, dass sich nichts verändert: Ein wachsender Teil der Beschäftigten ist durchaus mit der Umgestaltung von "Bürolandschaften" konfrontiert. Managementstrategien setzen dabei auf Vielfältigkeit: Die klosterähnliche "Denkerzelle" taugt ebenso wenig zum Leitbild wie das einst modische Großraumbüro. Letzteres war wegen der künstlichen Beleuchtung, der Belästigung durch Lärm und Rauchen, der fehlenden Möglichkeit zu individueller Belüftung und vor allem wegen der sozialen Kontrolle unter den Beschäftigten stets umstritten. Heute sei es nicht mehr zeitgemäß, Arbeitsräume "nach einem einheitlichen Konzept" zu gestalten, betont der Büroplaner Peter Martin. Er empfiehlt flexible "Kombibüros", die sowohl konzentrierte Einzelarbeit zulassen als auch Teamprozesse befördern. Die Möbelindustrie hat Systeme entwickelt, die eine rasche Umgestaltung erlauben: zum Beispiel einen zehn Meter langen Tisch, der für Besprechungen geeignet ist, sich aber mit Hilfe von Trennelementen auch in acht abgeschirmte Arbeitsplätze verwandeln lässt.
Kommunikation gilt als Schlüsselkompetenz der modernen Büroarbeit. Das alte Fabriksystem versuchte die Gespräche zwischen den Arbeitenden zu unterbinden. Nicht nur, weil sie von der (körperlichen) Schufterei abhielten, sondern auch, weil in ihnen ein subversives Potenzial lag, das sich gegen Chefs und Vorgesetzte richten konnte. In der Informationswirtschaft dagegen sind kreative Pausen ausdrücklich erwünscht. Firmen wie SAP oder IBM haben überall Teeküchen oder Sitzecken eingerichtet, um den zwanglosen Austausch zu fördern: Sogar der gemütliche Pausenschwatz in der Cafeteria dient so der "Kompetenzsicherung". "Das Rauchen mit Kollegen, der Flurfunk des Klatsches, das gemeinsam eingenommene Essen in der Kantine" werden Teil eines "gesteuerten Wissensmanagements zur permanenten Optimierung des Wertschöpfungsprozesses", analysiert der Berliner Arbeitsforscher Jan Engelmann.
Techniken wie E-Mail oder Videokonferenz haben den schnellen Kontakt vereinfacht. Für viele berufliche Aktivitäten aber ist die persönliche Begegnung nach wie vor zwingend. Die neue Büro-Architektur schafft hierfür gezielt soziale Räume, sie inszeniert Bindung und Geselligkeit. Die heimelige Kaffeehaus-atmosphäre richtet sich auch an Telewerker und Mitarbeiter im Außendienst. Manchmal sind diese fast dankbar, wenn ihnen eine bestimmte Menge an Pflichtterminen vorgeschrieben wird. Sie schätzen regelmäßige Sitzungen und feste Verabredungen in Projektgruppen als willkommene Abwechslung vom eher einsamen Alltag. Die belastenden Anforderungen an Mobilität lassen das Bedürfnis nach einer beruflichen "Heimat" im Betrieb umso mehr wachsen. Schon deshalb haben sich "non-territoriale" Büros, wo sich die Mitarbeiter aus Rollkoffern bedienen und an sterilen Schreibtischen elektronisch andocken sollen, bislang kaum durchgesetzt.
Das Stuttgarter Fraunhofer-Institut hat sich ein solches Experimentierfeld geschaffen. Für das Projekt "Office 21" wurden persönliche Arbeitsplätze gar nicht erst eingerichtet. Jeder Mitarbeiter schiebt auf einem fahrbaren Container seine Unterlagen, das Mobiltelefon und einen per Funk vernetzten Rechner vor sich her. Ein Teil der Teammitglieder ist ohnehin unterwegs, macht Urlaub oder arbeitet zu Hause. Die Propheten der Beraterzunft gehen noch einen Schritt weiter: Im "Hotel"-Konzept melden sich die Mitarbeiter bei der virtuellen Rezeption ihres Unternehmens, buchen für ein paar Stunden einen Raum und verschwinden nach kurzer Sesshaftigkeit wieder.
Für die meisten Beschäftigten ist ein Büro, das als reines Computerterminal zum gelegentlichen Einloggen funktioniert, keine wünschenswerte Vorstellung. Die ambitionierten Pläne scheitern in vielen Betrieben schon an den baulichen Gegebenheiten. Aus einem alten Bürohaus mit langen Gängen und kleinen Einzel- oder Gruppenzimmern lässt sich nur mit großem Aufwand eine "Kommunikationslandschaft" machen. Allerdings sind auch die Zeiten vorbei, "als sich aus der Fläche des Schreibtisches zuverlässig der Lohn hochrechnen ließ und die Autorität des Chefs ihren Ausdruck in zwei Zentnern Eiche fand", wie der Schweizer Autor Reto Schneider treffend formuliert. Festungsartige Besitztümer mit dicken Teppichen und Vorzimmer haben vielerorts ausgedient. Zumindest im mittleren Management werden betriebliche Hierarchien nicht mehr im Ambiente protziger Ledersessel dokumentiert. So besehen ist die moderne flexible Bürowelt, wo im Extremfall jeder mit jedem den Platz tauschen kann, Ausdruck einer gewissen Demokratisierung: Nicht einmal mehr räumlich können sich Vorgesetzte ihrer Position sicher sein.