Einleitung
Als die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) im Dezember 2000 darum rangen, endlich die im Vorfeld der geplanten Osterweiterung nötigen institutionellen Reformen der Union auf den Weg zu bringen, schienen die Fronten klar: Die Vertreter der großen Staaten feilschten mit denen der kleinen um Sitze, Stimmen und Sperrminoritäten. Jede Seite fürchtete, künftig von der anderen majorisiert zu werden. Als Repräsentant der Kleinen legte sich Portugals Regierungschef António Guterres gleich mit mehreren Großen an. Die Behauptung des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac, "die Großen (haben) jeden Tag neun von zehn Schritten gemacht. Es ist ein großer Sieg für die Kleinen", konterte er mit historischen Argumenten: "Die portugiesische Geschichte handelt von nationaler Selbstbehauptung auf einer Halbinsel während achteinhalb Jahrhunderten. Ich muss erklären, dass man von einem Verhältnis von 8 zu 5 [Stimmen Spaniens und Portugals im Ministerrat bis 2000, Anm. d. Verf.] zu einem anderen von 28 zu 11 kommt. Das werde ich im Parlament nicht ratifiziert bekommen." Selbst als Großbritanniens Premierminister Tony Blair vorrechnete, dass nach dem geplanten neuen Abstimmungsmodus "das Vereinigte Königreich eine Stimme für zwei Millionen Einwohner (...) und Portugal eine Stimme für jeweils 0,8 Millionen Einwohner" haben werde, erwiderte Guterres unbeeindruckt: "So kann ich den Vertrag nicht annehmen." 1
Hinter diesem offenen Schlagabtausch "Klein gegen Groß" stand ein arithmetisches Problem. Neun der zehn Länder, 2 die 2004 der EU beitreten sollten, sind so genannte Kleinstaaten. Wäre die Gewichtung ihrer Stimmen im Rat der EU ("Ministerrat") 3 nach dem bis dato üblichen Verteilungsschlüssel berechnet worden, hätten sie - je nach Einwohnerzahl - zwischen zwei und fünf Stimmen bekommen. In der Summe hätten die neuen Kleinen zusammen mit den zehn bereits zur EU gehörenden kleineren Staaten demnach über 72 von 124 Stimmen (das entspricht einem Anteil von rund 58 Prozent) im Ministerrat verfügt, gemeinsam aber nur 23,8 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung repräsentiert (vgl. Tabelle 1).
Während die rechnerischen Ungereimtheiten durch eine komplette Neugewichtung der nunmehr 321 Stimmen im Rat letztlich weitgehend ausgeglichen werden konnten, lösten die Komplexität der staatlichen Einzelinteressen und vor allem die Vehemenz, mit der sie im Verlauf der Reformdebatte vertreten worden waren, bei vielen Beobachtern grundsätzliche Bedenken aus. Nach dem Zerfall des weltweiten Blocksystems befinde sich Europa offensichtlich auf dem Weg zum "Kleinstaaten-Kontinent" 4 , und das bedeute für die Zukunft der EU nichts Gutes. Der Kampf um die Stimmengewichtung sei nur ein Beispiel für die immer stärkere Fragmentierung der Interessenlage innerhalb der Union, wobei gerade die steigende Zahl kleinerer Mitgliedsländer mit ihren je eigenen nationalen Egoismen die ohnehin schwierige Entscheidungsfindung auf EU-Ebene weiter kompliziere. Im Ergebnis wachse die Gefahr einer "schleichenden Intergouvernementalisierung", die den supranationalen Rechtscharakter der Gemeinschaft auszuhöhlen und durch ein unverbindliches Arrangement internationaler Gelegenheitsallianzen zu ersetzen drohe. 5
Es gibt viele Gründe dafür, warum eine solche (Rück-)Entwicklung der EU grundsätzlich durchaus denkbar erscheint. 6 Ob allerdings gerade die kleineren Mitgliedsstaaten in besonderer Weise für derartige Tendenzen verantwortlich gemacht werden können, erscheint fraglich. Eine nähere Beschäftigung mit der Rolle, die die Beneluxstaaten, Dänemark, Irland, Portugal, Griechenland, Schweden, Finnland und Österreich in der EU bis heute gespielt haben, legt vielmehr den gegenteiligen Schluss nahe: Gerade diese Kleinen haben sich oft als Garanten für den Erhalt und sogar die weitere Stärkung der EU als handlungsfähige, supranationale Rechtsgemeinschaft erwiesen. Es gibt wenig Anzeichen dafür, warum nicht auch die neuen Kleinen künftig eine ähnlich positive Rolle spielen sollten.
Wie klein sind die kleinen EU-Staaten?
Klein und groß sind relative Begriffe, konstitutiv für die Definition ist der jeweilige Bezugsrahmen. Dies gilt auch für die Unterscheidung zwischen kleinen und großen Staaten. Was ein Kleinstaat ist, lässt sich eben nicht absolut bestimmen, sondern nur im Bezug auf diejenigen Länder festlegen, die ihn umgeben oder mit ihm in Beziehung treten. Hier hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges in Europa viel getan: Die Sowjetunion und Jugoslawien zerfielen in eine Vielzahl souveräner Einzelstaaten, aus der Tschechoslowakei gingen zwei Länder hervor, und die fehlende Blockzugehörigkeit machte die nationale Eigenständigkeit auch derjenigen ehemaligen Satellitenstaaten stärker sichtbar, deren Außengrenzen stabil blieben.
Die Wissenschaft reagierte auf diese Entwicklung mit einer Wiederbelebung der lange vernachlässigten Kleinstaatenforschung und legte zahlreiche Abgrenzungs- und Definitionsversuche vor. Im Kern lassen sich die meisten Begriffsbestimmungen auf drei zentrale Kriterien zurückführen, mit deren Hilfe die Größe oder vielmehr die Kleinheit von Staaten festgestellt werden kann. Zu unterscheiden sind demnach (1) immanente bzw. substanzielle Merkmale, (2) kontingente/relationale Kennzeichen und (3) wahrgenommene oder attributive Kriterien. 7 Substanziell klein sind Staaten, wenn sie über so wenige Einwohner und ein so kleines Territorium verfügen, dass sie aus eigener Kraft weder wirtschaftlich noch politisch in der Lage sind, die nötigen kollektiven Güter eines Gemeinwesens (z. B. Infrastruktur, Bildungswesen) zu produzieren. Das Kriterium relationaler Kleinheit besteht in dem Unvermögen, dem Druck anderer Länder standzuhalten bzw. ihnen gegenüber die Eigenständigkeit zu verteidigen. Schließlich kann Kleinheit auch aus der Selbst- bzw. Fremdwahrnehmung eines Staates resultieren, das heißt, sie wird ihm - unabhängig von messbaren Größenverhältnissen - von außen oder von innen (attributiv) zugeschrieben.
Während substanziell sehr kleine, aus eigener Kraft kaum lebensfähige Staaten in der EU nicht vertreten sind, bildet die relationale Kleinheit einiger Mitglieder geradezu eine Raison d'être der Gemeinschaft. So stand am Beginn des europäischen Einigungsprozesses unter anderem das Bestreben, die relativ kleinen Nachbarn vor einem möglichen neuerlichen Hegemoniestreben der relativ großen Bundesrepublik Deutschland zu schützen. Deshalb schlossen sich mit Gründung der ersten supranational organisierten europäischen Institution, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), drei große (Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien) und drei kleine Staaten (Belgien, Niederlande, Luxemburg) zusammen. Gerade die Benelux-Staaten sahen in einer supranationalen Kontrolle der - ungeachtet der Kriegsfolgen - noch immer imposanten westdeutschen Kohle- und Stahlproduktion eine Sicherheitsgarantie für ihre Existenz.
Ähnliche Motive verbanden die mittelosteuropäischen Staaten 8 mit ihrem seit den neunziger Jahren konsequent verfolgten Beitrittswunsch. Angesichts der traumatischen historischen Erfahrungen als Pufferstaaten zwischen dem erdrückenden westlichen Nachbarn Deutschland und der russischen bzw. sowjetischen Großmacht im Osten verfolgten sie mit einem Beitritt zur Europäischen Union einen doppelten Zweck: Zum einen garantiert ihnen die enge institutionelle Verflechtung mit den Staaten in Westeuropa - zusätzlich zu der militärischen Absicherung nach Osten durch die NATO-Mitgliedschaft - sicherheitspolitische Stabilität. Zum anderen profitieren gerade die kleinen, ökonomisch (noch) schwachen Neu-Mitglieder von der wirtschaftlichen Potenz der großen westeuropäischen Länder, die ohne die supranationalen Strukturen und Verteilungsmechanismen innerhalb der EU sehr schnell zu einseitiger nationaler Dominanz führen könnte.
Die Beziehungen innerhalb der EU veranschaulichen darüber hinaus, wie sehr das Verhältnis zwischen klein und groß bzw. zwischen schwach und stark von der Selbst- und/oder Fremdwahrnehmung der beteiligten Länder abhängig ist - und folglich je nach Betrachtungsweise ganz unterschiedlich beurteilt werden kann. Besonders sichtbar wird diese attributive Ebene von Kleinheit am Beispiel Luxemburgs. Bis zur Aufnahme Maltas im Jahr 2004 handelte es sich um das mit Abstand territorial kleinste und bevölkerungsärmste EU-Mitglied (vgl. Tabelle 2). Diesen Daten stand jedoch von Anfang an eine unverhältnismäßige große Wirtschaftskraft gegenüber. So stellte Luxemburg im Jahr 1950 beispielsweise 2451 Millionen Tonnen Stahl her. Das war selbst in absoluten Zahlen deutlich mehr als die Gesamtproduktion der territorial und bevölkerungsmäßig wesentlich größeren Niederlande (490 Millionen Tonnen) und sogar des europäischen Großstaats Italien (2362 Millionen Tonnen). 9 An der überproportionalen Wirtschaftskraft des Landes hat sich bis heute nichts geändert: Mit dem weitaus höchsten Bruttosozialprodukt pro Einwohner innerhalb der gesamten EU ist Luxemburg ökonomisch gesehen der relativ größte EU-Staat. Nicht zuletzt infolge dieser wirtschaftlichen Potenz übersteigt auch der politische Einfluss, über den Luxemburg innerhalb der europäischen Entscheidungsstrukturen verfügt, das numerische Gewicht seiner Stimmen und Sitze in den verschiedenen Gremien bei weitem. 10
Für die Berechnung der Stimm- und Sitzanteile spielt die attributive Ebene von Kleinheit bzw. Größe in der EU keine Rolle. Sie orientiert sich ausschließlich an der Bevölkerungszahl eines Mitgliedsstaates. Wie in den meisten föderal strukturierten politischen Institutionen gilt auch in der EU der Grundsatz einer gewissen Überrepräsentation der kleineren Mitglieder. Dies ist zum einen der rechnerischen Schwierigkeit geschuldet, die Stimmen zwischen extrem unterschiedlich großen Einheiten proportional gerecht zu verteilen. Würde man beispielsweise die Mandate im Europaparlament und die Stimmen im Rat der EU nach einem für alle Länder gleichen Bevölkerungsschlüssel vergeben, wären die Kleinen in allen Entscheidungsverfahren zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Zum anderen wurden die bevölkerungsarmen Mitgliedsstaaten in den Gemeinschaftsverträgen auch ganz bewusst mit einem überproportionalen Anteil an Stimmen und Sitzen versehen, um ihrer staatlichen Souveränität im Umgang mit den Großen Nachdruck zu verleihen. Als Kriterium galt hierbei, dass die notwendige Stimmenzahl für eine qualifizierte Mehrheit oder eine Sperrminorität nur durch eine Koalition von großen und kleinen Staaten zu erreichen sein sollte. 11
Da die Anzahl bevölkerungsarmer Staaten in der EU mit jeder Erweiterungsrunde wuchs, wurde die eingangs skizzierte, erst mit dem Vertrag von Nizza im Jahr 2000 erfolgte Neuberechnung der Sitz- und Stimmverteilung immer dringlicher. Schließlich erscheint es demokratietheoretisch problematisch, wenn wesentliche Entscheidungen innerhalb der EU von einer Mitgliederallianz getroffen werden könnten, die gemeinsam nur eine Minderheit der EU-Bevölkerung repräsentiert. Auch wenn die neuen Mechanismen der Stimmgewichtung seit Nizza hier wieder "gerechtere" Verhältnisse geschaffen haben, ist es dennoch bei einer gewissen, rechnerisch ebenso unvermeidlichen wie politisch gewollten Überrepräsentation der kleinen Mitgliedsstaaten geblieben (vgl. Tabelle1).
Profiteure der europäischen Integration
Wie das Beispiel des relational besonders kleinen, in bestimmten Bereichen attributiv jedoch besonders großen EU-Mitglieds Luxemburg zeigt, kann der politische Einfluss der bevölkerungsärmeren EU-Staaten ihre numerischen Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Gemeinschaft bei weitem übersteigen. Neuere empirische Studien belegen sogar, dass Kleinheit geradezu als Idealvoraussetzung für eine rechnerisch kaum erklärbare Durchsetzungsfähigkeit in den Entscheidungsverfahren der EU gelten kann. Eine partielle Fähigkeit oder Bedeutung, die einem kleinen Land in bestimmten Zusammenhängen besonderes Gewicht bzw. zusätzliche Größe verleiht - wie die überproportionale Wirtschaftskraft im Falle Luxemburgs -, ist dabei nur eine der möglichen Trumpfkarten, um mit den größeren Staaten auf Augenhöhe zu verhandeln. Nationale gesellschaftliche Besonderheiten, die zumindest den älteren Mitgliedern unter den kleinen EU-Staaten gemeinsam sind, werden von der Kleinstaaten-Forschung ebenso als erklärende Variable in Spiel gebracht wie die spezielle Funktionslogik der EU-Institutionen selbst und - last but not least - das große Verhandlungsgeschick, über das viele Politiker aus kleinen Ländern traditionell verfügen.
In der Mehrheit der europäischen Kleinstaaten scheinen nationale politische Besonderheiten den Einfluss auf EU-Ebene tendenziell zu stärken. Der Politikwissenschaftler Peter Katzenstein etwa argumentiert, dass die dichten wirtschaftlichen Verflechtungen dieser Länder mit ihren Nachbarstaaten und die daraus resultierende ökonomische Offenheit im Innern die Herausbildung korporatistischer Entscheidungsstrukturen gefördert hätten. 12 Im Zentrum des gesellschaftlichen Diskurses stünde nicht Konkurrenz, sondern eine beständige Suche nach politischen Konsenslösungen. Die Bereitschaft zum Kompromiss und zur Entscheidungsfindung durch Verhandeln sei daher in Schweden, Dänemark, Belgien und den Niederlanden, aber auch in Österreich und der Schweiz stärker ausgeprägt als in Deutschland, Großbritannien oder Frankreich. Diese nationale Konsenskultur kommt den kleinen Staaten innerhalb der komplexen Entscheidungsmechanismen der EU-Institutionen zugute, die per definitionem auf den Interessenausgleich und die Kompromissfähigkeit der Akteure bauen.
Verbindet man diese Überlegungen mit verhandlungstheoretischen Erkenntnissen, werden die besonderen Vorteile kleiner Staaten im Aushandlungssystem der EU noch deutlicher. Demnach kommt es für erfolgreiches Verhandeln weniger auf absolute Größe bzw. Stärke an als auf die Wahrnehmung der jeweiligen Verhandlungsoptionen durch alle Beteiligten. Die kleinen EU-Mitglieder profitieren hier von einem Paradox: Gerade weil sie als schwach gelten, wächst ihnen mitunter eine anhand objektivierbarer Faktoren kaum nachvollziehbare Verhandlungsmacht zu. 13 Sie werden von den Größeren oft gar nicht als ernsthafte Vertreter konkurrierender Interessen wahrgenommen, zumal sie sich in vielen Fragen sehr flexibel zeigen. In den wenigen, klar begrenzten Bereichen, die ihr nationales Interesse berühren, gelingt es ihnen dann umso besser, ihren Standpunkt ohne nennenswerte Abstriche durchzusetzen.
Dieses Paradox wahrgenommener Schwäche, die sich in faktische Stärke verwandeln kann, lässt sich am Beispiel der Gemeinsamen Agrarpolitik gut veranschaulichen. Während die großen Staaten ihre weit gefächerten landwirtschaftlichen Interessen in den periodisch wiederkehrenden Aushandlungsprozessen über Produktions- und Absatzquoten von Beginn an offensiv durchzusetzen versuchen und so schnell in ein Geflecht von Interessengegensätzen geraten, werden die Kleinen nur punktuell aktiv - dann allerdings umso vehementer (und erfolgreicher). Dänemark beispielsweise geht es ausschließlich um die Quoten für Schweinefleisch und Milch, während Portugal eigene Interessen vornehmlich in den Bereichen Geflügelhaltung, Weinbau und Getreideproduktion verfolgt. 14 Dass sich die kleinen Länder in den zahlreichen anderen zu verhandelnden Fragenkomplexen zurückhaltend und kompromissbereit verhalten, erhöht die Akzeptanz der in allen Verhandlungsbereichen engagierten größeren Staaten gegenüber ihren wenigen, dann allerdings geschickt verteidigten Anliegen.
Auch die spezifischen Wirkungsweisen der supranationalen EU-Institutionen verschaffen den Kleinen in mancher Hinsicht Vorteile. So gilt die Europäische Kommission den kleinen Mitgliedsstaaten traditionell als "natürliche Verbündete" bei dem Bemühen, sich gegen die nationalen Egoismen der größeren Länder zu behaupten. 15 Schließlich bildet die Kommission, deren Mitglieder nicht als Repräsentanten ihrer Herkunftsländer, sondern ausschließlich als Anwälte der Gemeinschaftsinteressen agieren, ein natürliches Gegengewicht zu den nationalen Dominanzbestrebungen gerade der großen EU-Länder. Die kleineren Mitgliedsstaaten haben sich daher bislang in aller Regel für eine Stärkung der supranationalen Kommissionsbefugnisse eingesetzt, selbst wenn diese Entwicklung letztlich auch zu Lasten ihrer eigenen nationalen Kompetenzen geht. Sie vertrauen auf die Fähigkeit der Kommission, als "Hüterin der Verträge" einen fairen Interessenausgleich zwischen großen und kleinen Mitgliedern herbeizuführen. 16 Es handelt sich also um eine geschickte Kompensation der relationalen Kleinheit bzw. Schwäche, die eine Durchsetzung der eigenen, nationalen Interessen auf direktem Wege unmöglich macht. Eine vorbehaltlose Unterstützung der Gemeinschaftsinteressen kann unter diesen Umständen den nationalen Anliegen besser dienen als ein ohnehin chancenloser nationaler Alleingang.
Zusätzlich zu den skizzierten institutionellen Möglichkeiten, mit deren Hilfe die kleinen Mitglieder die Entscheidungsprozesse in der EU überproportional beeinflussen können, eröffnet die Union ihnen auch auf der Akteursebene beachtliche Spielräume. Auch hier sind es gerade die begrenzten Ressourcen, und zwar sowohl in personeller wie auch in inhaltlicher Hinsicht, die den Kleinen dabei letztlich zum Vorteil gereichen. Angesichts kleiner nationaler Verwaltungen und geringer finanzieller Mittel können die Vertreter der kleinen Staaten an vielen Entscheidungsprozessen nur als stille Beobachter teilnehmen, die ganz bewusst am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit bleiben und keine eigenen Standpunkte vertreten. Gleichwohl haben sie Zugang zu allen Informationen und sind stets in die Verhandlungen eingebunden. Von den Hauptakteuren nicht als Bedrohung der eigenen Interessen wahrgenommen, übernehmen die Vertreter der Kleinstaaten in schwierigen Konfliktsituationen oft eine wichtige Vermittlerrolle zwischen den widerstreitenden Standpunkten der großen Mitgliedsstaaten. 17
Es gibt in der Geschichte der europäischen Integration viele Beispiele für die zentrale Bedeutung solcher "ehrlicher Maklerdienste" der Kleinen. So widmete etwa Konrad Adenauer dem damaligen belgischen Außenminister Paul-Henri Spaak in seinen Memoiren eine wahre Eloge. Als es im Vorfeld der Unterzeichnung der Römischen Verträge von 1956 zu einem zähen Kräftemessen zwischen den drei großen Gründungsmitgliedern der EG kam, habe der Vertreter des kleinen Belgien die vom Scheitern bedrohten Verhandlungen immer wieder gerettet. Ohne Spaaks "kreative Kraft" und die "Fähigkeit, das rechte Wort zur rechten Zeit zu finden", wäre die Einigung über die Grundlagen der weiteren europäischen Integration schon in ihren Anfängen stecken geblieben, so der erste Kanzler der Bundesrepublik. 18 Auch in der jüngeren Vergangenheit der EU - etwa im Vorfeld der Währungsunion und der Osterweiterung - kam es zu Situationen, in denen die Repräsentanten kleiner Mitgliedsstaaten die nationalen Interessenkonflikte der großen Länder mit Verhandlungsgeschick entschärften und so letztlich die europäische Integration voranbrachten. Diese "ehrlichen Maklerdienste" sind ein nicht zu unterschätzendes Mittel, mit dessen Hilfe führende Politiker kleiner Länder auf der internationalen Bühne ein Maß an Aufmerksamkeit und Anerkennung gewinnen, das ihnen sonst kaum je zuteil würde.
Bilanziert man die genannten Einflussmöglichkeiten der kleinen Staaten auf die politischen Entscheidungsprozesse innerhalb der EU, ergibt sich ein klarer Befund: Die kleinen Länder profitieren gerade aufgrund ihrer relationalen und perzipierten Unterlegenheit im Vergleich mit den großen Staaten am meisten von dem Modell der supranationalen Integration. Der dänische Kleinstaatenforscher Pertti Joenniemi geht sogar so weit, geringe staatliche Größe als eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Einflussnahme auf die europäische Politik zu postulieren. Zumal seit dem Ende des Kalten Krieges nehme die politische Bedeutung der kleinen Länder in Europa gerade deshalb zu, weil sie nicht mit den historischen Bürden klassischer Großmachtpolitik und nationaler Interessenwahrung belastet seien. Unter diesen Voraussetzungen, so Joenniemi, "small could indeed become a synonym for smart in the post-Cold War era". 19
How smart is small?
Die griffige Formel "small is smart" relativiert die Bedeutung der eingangs geschilderten nationalen Prestigeduelle um möglichst große Stimm- und Sitzanteile in den europäischen Entscheidungsgremien in doppelter Hinsicht. Zum einen sind diese formalen Kriterien - wie gezeigt - ohnehin keine zuverlässigen Messinstrumente für den tatsächlichen Einfluss eines Mitgliedsstaates auf die Politik der europäischen Integration. Zum anderen könnte es unter den Voraussetzungen pluralistischer, supranationaler Entscheidungsstrukturen sogar vorteilhaft sein, über wenig formalisierte Macht zu verfügen, da dies den Spielraum für "smarte" (im Sinne von klugen und erfolgreichen) politische Initiativen nicht schmälert, sondern vielmehr erweitert.
Lässt man die Rolle der kleinen Mitgliedsländer in der jüngeren EU-Vergangenheit Revue passieren, scheinen indes nicht alle Akteure von diesen Prämissen überzeugt zu sein. Die nachweisbaren Vorteile, die sich gerade für die relational kleinen Staaten aus ihrer Mitgliedschaft ergeben, verwandeln offenbar weder die Bevölkerung noch die politischen Eliten automatisch in engagierte Befürworter einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration. Auch wenn die meisten kleineren Staaten seit den Anfängen ihrer EG- bzw. EU-Mitgliedschaft zu den verlässlichsten Motoren weiterer Integration zählen, gab es auch gegenteilige Entwicklungen. Besonders deutlich manifestierte sich die EU-Skepsis in Dänemark, wo sich die Wähler 1992 mit knapper Mehrheit gegen die Annahme des Maastrichter Vertrags entschieden, der die europäische Integration in wichtigen Feldern 20 voranbringen sollte. Erst nach der Aushandlung von vier "opting-out"-Bereichen für Dänemark konnte der Unionsvertrag schließlich doch in Kraft treten. 21
Eine mögliche Erklärung für das Veto der Dänen betont die Angst vor einem für ein kleines Land besonders traumatischen Souveränitätsverlust. Dies könnte auch eine gewisse Reserviertheit gegenüber weiteren Integrationsschritten erklären, die bei einigen der kleinen Neu-Mitglieder in Mittel- und Südosteuropa spürbar ist. 22 Noch ist es zu früh für fundierte Aussagen über die künftige Rolle der sieben kleinen EU-Staaten aus dem ehemals sowjetischen Herrschaftsbereich. Ob sie eher als Bremser oder als Motoren der europäischen Integration auftreten werden, hängt nicht zuletzt auch davon ab, wie sie mit dem historischen Erbe eines latenten Bedrohungsgefühls durch die großen Nachbarn im Osten und Westen umgehen werden. Der erste postkommunistische Staatspräsident Ungarns, A'rpád Göncz, sprach nicht nur mit Blick auf sein Land von einer "nationalen Paranoia", die sich aus einem unterschwelligen Minderwertigkeitskomplex angesichts eigener Kleinheit und der tief verwurzelten Furcht vor der Dominanz durch die Größe der anderen speise. 23
Vor diesem Hintergrund könnten die tatsächlichen Profite entscheidend sein, die sich aus der EU-Mitgliedschaft für die neuen Kleinen bereits ergeben haben und noch ergeben werden. In dem Maße, in dem die Vorteile der Kleinheit in dem supranationalen Entscheidungssystem der Europäischen Union für sie spürbar werden, sollte die Skepsis gegenüber dem teilweisen Verlust der gerade erst errungenen staatlichen Souveränität verblassen. Neben die dargestellten institutionellen und akteursbezogenen Möglichkeiten einer überproportionalen Einflussnahme auf die Entscheidungen der Gemeinschaft, die für alle kleinen Mitgliedsstaaten gleichermaßen gelten, treten in den mittel- und südosteuropäischen Ländern zwei weitere manifeste Vorteile.
Erstens hat die EU-Mitgliedschaft (in Ergänzung zur inzwischen ebenfalls vollzogenen Aufnahme in die NATO) für sie eine deutliche sicherheitspolitische Perspektive. Vor allem in den baltischen Staaten, aber auch in Slowenien, wird der Souveränitätsverlust somit durch einen fühlbaren Gewinn an Sicherheit und an außenpolitischer Handlungsfreiheit kompensiert. 24 Zweitens sind in ökonomischer Hinsicht gerade in den kleinen Ländern, deren nationale Wirtschaft durch relationale Schwäche gekennzeichnet ist, die größten und am schnellsten greifbaren Vorteile des EU-Beitritts zu erwarten, wie die positiven Erfahrungen Irlands, Griechenlands oder Portugals aus früheren Erweiterungsrunden belegen. Betrachtet man das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf (vgl. Tabelle 2), sind hier für alle ost- und südosteuropäischen Staaten mehr oder minder rasche Profite zu erwarten.
Ob sich die inzwischen so zahlreichen kleinen Mitglieder der EU in Zukunft mehrheitlich als Motoren der europäischen Integration erweisen werden, hängt indes von einer fundamentalen Erkenntnis ab, die in der Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaften gerade den kleinen Mitgliedsstaaten sehr präsent war: Die in den internationalen Beziehungen beispiellose supranationale Konstruktion der EU basiert auf der Überzeugung aller Beteiligten, die Beziehungen untereinander nicht länger auf - vornehmlich militärisch begründete - Macht zu stützen, sondern auf die Prinzipien des Rechts. 25 Selbst wenn natürlich alle Mitgliedsstaaten von diesem Grundsatz profitieren, sind dessen Auswirkungen für die kleinen Länder besonders entscheidend. Schließlich stellte die sprichwörtliche Macht des Stärkeren gerade für sie durch die Jahrhunderte eine existenzielle Bedrohung dar. Eine weitere Festigung und Vertiefung der rechtsstaatlichen Beziehungen innerhalb der EU liegt damit unweigerlich im nationalen Interesse der kleinen Mitglieder.
1 Mitschrift des
Verhandlungsprotokolls von Nizza, in: El Pais vom 12. 12. 2000, Nr.
1684, zit. nach Christine Landfried, Das politische Europa.
Differenz als Potential der Europäischen Union, Baden-Baden
20052, S. 101 - 103. Der schließlich verabschiedete
Kompromiss veränderte den Abstimmungsmodus im Ministerrat
nochmals, das Stimmenverhältnis von Spanien und Portugal
beträgt seitdem 27 zu 12.
2 Lediglich Polen zählt mit rund
38,5 Millionen Einwohnern im EU-Rahmen zu den mittelgroßen
Ländern, vergleichbar etwa mit Spanien (knapp 40 Millionen).
Von den beiden Beitrittsländern für 2007 fällt
Rumänien - mit 22,5 Millionen Einwohnern - ebenfalls (gerade
noch) in die mittlere Kategorie, während mit Bulgarien (8,2
Millionen) ein weiterer Kleinstaat hinzukommen wird.
3 Neben der Stimmgewichtung im Rat der
EU waren auch die künftige Zusammensetzung der
Europäischen Kommission sowie die Sitzverteilung im
Europaparlament heftig umkämpft.
4 Romain Kirt/Arno Waschkuhn (Hrsg.),
Kleinstaaten-Kontinent Europa. Probleme und Perspektiven,
Baden-Baden 2001.
5 So äußerte sich etwa der
damalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors, vgl. C.
Landfried (Anm. 1), S. 109. Auf ähnliche Befürchtungen
verweist auch Claus Giering, Die institutionellen Reformen von
Nizza, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Nizza in der Analyse.
Strategien für Europa, Gütersloh 2001, S. 51 - 144, hier:
S. 52.
6 Allein die Größe der EU 25
bzw. bald 27 stellt die supranationalen Mechanismen der
Entscheidungsfindung fraglos vor extreme Herausforderungen, ebenso
der seit den neunziger Jahren stark veränderte internationale
Kontext oder die wachsende Unzufriedenheit der nationalen
Bevölkerungen angesichts fehlender
Entscheidungstransparenz.
7 Vgl. Hans Geser, Was ist eigentlich
ein Kleinstaat?, in: R. Kirt/A. Waschkuhn (Anm. 4), S. 89 - 124,
hier: S. S. 90ff.
8 Neben Polen, Tschechien, Ungarn, der
Slowakei, Litauen, Lettland, Slowenien und Estland traten auch
Zypern und Malta 2004 der EU bei. Auf ihre spezifischen
Beitrittserwartungen kann hier nicht eingegangen werden.
9 Vgl. Sasha Baillie, The Seat of the
European Institutions. An Example of Small State Influence in
European Decision-Making, EUI Working Paper RSC Nr. 96/28, Badia
Fiesolana, San Domenico 1996, S. 18.
10 Vgl. ders., The Position of Small
States in the EU, in: Laurent Goetschel (Hrsg.), Small States
inside and outside the European Union. Interests and Policies,
Boston - Dordrecht - London 1998, S. 193 - 205; ders. (Anm. 9), S.
36ff.
11 Vgl. Sieglinde Gstöhl, Der
Mikrostaat als Variante des Kleinstaats? Erfahrungen mit UNO und
EU, in: R. Kirt/A. Waschkuhn (Anm. 4), S. 101 - 124, hier: S.
119f.
12 Vgl. Peter J. Katzenstein, Small
States in World Markets. Industrial Policy in Europe, Ithaca -
London 1985. Katzensteins Analyse ist nicht speziell auf die
politischen Verhältnisse in der EU ausgerichtet (sie umfasst
auch Staaten wie die USA, Japan oder Norwegen), wurde in
jüngerer Zeit jedoch erfolgreich auf diese angewendet.
13 Vgl. S. Baillie, The Position (Anm.
10), S. 202.
14 Vgl. Baldur Thorhallsson, The Role
of Small States in the European Union, Aldershot 2000, S.
53f.
15 Vgl. Charles-Michel Geurts, The
European Commission: A Natural Ally of Small States in the EU
Institutional Framework?, in: L. Goetschel (Anm. 10), S. 49 -
64.
16 Vgl. ebd., S. 50.
17 Vgl. S. Baillie (Anm. 9), S.
4f.
18 Konrad Adenauer, Memoiren 1953 -
1956, zit. Nach: Wilfried Loth, L'Allemagne et les petits
États dans la construction européenne, in: La
Belgique, les petits États et la construction
européenne. Actes du colloque de clôture de la VIIe
Chaire Glaverbel d'études européennes 2001 - 2002, S.
247 - 258, hier: S. 253.
19 Pertti Joenniemi, From Small to
Smart: Reflections on the Concept of Small States, in: Irish
Studies in International Affairs, 9 (1998), S. 62.
20 Hierzu zählten insbesondere die
Vorbereitung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die
Vertiefung der gemeinsamen Innen- und Justizpolitik sowie die
Intensivierung der Zusammenarbeit in der Außen- und
Sicherheitspolitik (GASP).
21 Vgl. zu den Einzelheiten dieser
Regelungen sowie zu den Gründen für das "Nein" der
Dänen: Uffe Balslev, The Danish Case: International
Involvement as the Small State's Remedy for Great Power Dominance,
in: L. Goetschel (Anm. 10), S. 107 - 124.
22 Vgl. z.B. Kai-Olaf Lang,
Störenfriede oder Ideengeber? Die Neuen in der GASP, in:
Osteuropa, 54 (2004) 5 - 6, S. 443 - 459.
23 Vgl. A'rpád Göncz, Small
Nations, in: Ferenz Glatz (Hrsg.), Die kleinen Nationen in Europa,
Budapest 1997, S. 9 - 10.
24 Vgl. für das Baltikum: Aivars
Stranga, The Baltic States in the European Security Architecture,
in: Atis Lejins/Zaneta Ozlina (Hrsg.): Small States in a Turbulent
Environment. The Baltic Perspective, Riga 1997, S. 11 - 59;
für Slowenien: Anton A. Bebler, Security Policy of a Small
Central-European Candidate for the Enlarged EU: Slovenia, in: L.
Goetschel (Anm. 10), S. 125 - 138.
25 Vgl. Antti Kuosmanen,
Decision-Making in the Council of the European Union, in: L.
Goetschel (Anm. 10), S. 65 - 78, hier: S. 78.