Weder Schönreden noch Schwarzmalen -- das ist Wolfgang Tiefensee (SPD) gelungen, als er am 9. November den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit im Bundestag vorstellte. Auf den Tag genau 17 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer zog der auch für den Aufbau Ost zuständige Bundesverkehrsminister eine Bilanz nach dem Motto: Vieles ist erreicht, vieles bleibt noch zu tun.
Der keimende Wirtschaftsaufschwung hat dem Minister ein paar Zahlen an die Hand gegeben, die hoffen lassen: 9,8 Prozent Zuwachs der industriellen Entwicklung in den neuen Ländern im ersten Halbjahr und eine 2005 um 18 Prozent gestiegene Exportquote. Die Arbeitslosenquote ist mit über 15 Prozent rückläufig, aber immer noch fast doppelt so hoch wie im Westen. Das Ziel, den wirtschaftlichen Aufschwung im Osten so zu stabiliseren, das er sich selbst trägt, ist aber auch im 17. Jahr der Einheit noch nicht erreicht.
Die Zielmarke steht schon seit einigen Jahren, als die Finanzminister von Bund und Ländern den Solidarpakt II beschlossen hatten: Ende des Jahres 2019 ist Schluss mit Sonderförderungen, dann gibt es für die Ostländer nur noch Geld aus dem ganz normalen Finanzausgleich. Die Instrumente der Politik, den Aufbau Ost voranzubringen, sind nicht neu, bleiben aber auf der Agenda: Investorenwerbung, Verlängerung der Investitionszulage, Förderung von Wachstumskernen ("Leuchttürme"), Stadtumbau Ost.
Die Regierung hat nach den Worten Tiefensees das langfristige Problem des demografischen Wandels erkannt, die Opposition machte es aber zu einem zentralen Thema. So sagte Katrin Göring-Eckardt von den Grünen, dass in vielen ostdeutschen Regionen ein Bevölkerungsrückgang von 30 Prozent, zum Teil sogar von 50 Prozent zu verzeichnen sei. Häufig seien es gerade die Kreativen und Leistungsträger, die abwandern. Göring-Eckardt schlug vor, in Bildungseinrichtungen zu investieren und familienfreundliche Strukturen zu schaffen, die zum Bleiben einladen. Auch an der Kultur dürfe nicht gespart werden: Qualifizierten Menschen müsse etwas geboten werden, "was über den Arbeitsplatz hinausgeht".
Ganz ähnlich sah das die sozialdemokratische Abgeordnete Andrea Wicklein. Deshalb müssten Fachkräfte im Osten gehalten werden. Für den Mangel an qualifizierten Mitarbeitern machte sie auch die Unternehmen verantwortlich: diese hätten sich nicht ausreichend um ihren Nachwuchs gekümmert. Eine bessere Verzahnung von Schule und Wirtschaft sowie von Unternehmen und Arbeitsagenturen müsse verhindern, dass Qualifizierung und Umschulung am Bedarf vorbeigehen. Überkapazitäten an den ostdeutschen Hochschulen befürchtete Cornelia Piper (FDP). Während es im alten Bundesgebiet einen großen Bedarf an neuen Studienplätzen gebe, prognostizierte sie für den Osten einen Überhang. Daher sollten Solidarpaktmittel künftig auch für die Hochschulfinanzierung verwendet werden können.
Eine breit angelegt Förderung von Hochschulen und Forschung schlug Katherina Reiche (CDU/CSU) vor, um Abwanderung und Geburtenrückgang in den Griff zu bekommen. Die Hochschulen müssten Impulse in die kleinen und mittleren Unternehmen geben, um einen besseren Technologietransfer zu erreichen. Als positive Beispiele für gelungene Branchenschwerpunkte nannte die Politikerin aus Brandenburg die Mikroelektornik in Dresden, die Chemie in Halle oder Bitterfeld, die Optoelektronik in Jena, Medizin und Biotechnologie in Berlin oder Greifsswald sowie Pflanzenzucht und Gentechnik in Gatersleben und Potsdam.
Für Lothar Bisky (Die Linke) erweist sich der Aufbau Ost bisher als "Nachbau West": "Beenden Sie das Experiment, den Osten als Billiglohnland zu deklassieren", rief er ins Plenum. Der Kardinalfehler sei von Anfang an gewesen, den Lebensalltag der Westdeutschen nicht um die Erfahrungen aus der DDR zu bereichern.