Kein einziger Demonstrant ließ sich blicken, als am 14. November in Straßburg die Dienstleistungsrichtlinie vom EU-Parlament beschlossen wurde. Denn der Konflikt, der zornige Gewerkschafter und empörte Globalisierungsgegner in Scharen auf die Straße trieb, hat sich erledigt. Nur wenig ist vom neoliberalen Grundgedanken übrig geblieben, einen Binnenmarkt für Dienstleistungen zu schaffen, in dem jeder entsprechend den Gesetzen seines Herkunftslandes seine Dienste anbieten kann. Statt den Vorschlag, der bei den Bürgern nicht durchsetzbar war, zurückzuziehen, hat sich die EU-Kommission zähneknirschend soziale Schutzklauseln abhandeln lassen, die ins Gesetz eingearbeitet wurden. Dabei sind so viele schwammige Formulierungen entstanden, dass juristische Gutachter und Advokaten in der Zukunft eine Menge zu tun bekommen werden. Kaum ein Gesetz wäre so gut geeignet als Flaggschiff für Günter Ver-heugens Kampagne gegen sinnlose Gesetze und bürokratische Lasten wie die nun beschlossene Form der Dienstleistungsrichtlinie. Doch statt rechtzeitig einen kühnen Schnitt zu machen und den Vorschlag zurückzuziehen, biss sich der irische Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy am Lieblingsprojekt seines Vorgängers Bolkestein fest. Der Ire ist fest überzeugt davon, dass freier Wettbewerb der beste Garant für eine blühende Wirtschaft ist. Ob Lebensversicherungen, Sparkassen, Nahver-kehr oder Kindergärten - am liebsten würde er sämtliche nationalen Schutzzonen aufheben. Weil viele Mitgliedstaaten und die Mehrheit des EU-Parlaments da nicht mitmachen, befasst sich das neue Gesetz weniger mit Dienstleistungsfreiheit als mit Ausnahmen von dieser Regel.
Als Industriekommissar Günter Verheugen einen Tag zuvor Zwischenbilanz bei seinem Lieblingsprojekt zog und stolz berichtete, wie weit der Bürokratieabbau bereits vorangekommen ist, musste er sich mit folgender Rechnung konfrontieren lassen: Mit 1,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) veranschlagen Ökonomen den Wachstumsimpuls, der sich aus europäischer Binnenmarktgesetzgebung herleitet. 1,5 Prozent des BIP will Günter Verheugen dadurch erwirtschaften, dass er bis 2012 die bürokratischen Lasten aus EU-Gesetzgebung und nationalen Vorschriften um ein Viertel senkt. Mit anderen Worten: Wenn die EU-Kommission Gesetze abschafft, entsteht fast so viel Wachstum, wie wenn sie Gesetze produziert. Diese Erkenntnis erinnert fatal an einen Satz aus Günter Verheugens berühmtem Interview, mit dem er die ganze Brüsseler Beamtenschaft gegen sich aufbrachte: "Wir verbringen einen Großteil unserer Zeit damit, Probleme zu lösen, die es nicht gäbe, wenn es uns nicht gäbe."
Der Industriekommissar will diesen Satz heute nicht mehr so stehen lassen. In seiner Initiative gehe es nicht in erster Linie darum, Gesetze abzuschaffen, sondern sie zu verbessern. Die gesamte EU-Gesetzgebung soll auf veraltete Vorschriften durchforstet, inhaltlich zusammengehörende Gesetze in einem Text gebündelt werden. Ein neuer Ausschuss prüft die Auswirkungen und die der Wirtschaft entstehenden Kosten, bevor ein neuer Gesetzesvorschlag eingebracht wird. Statistische Daten von Firmen sollen seltener abgefragt, der Datensatz verkleinert werden. Bei ihrer gemeinsamen Pressekonferenz in Straßburg wurden Verheugen und Kommissionschef José Manuel Barroso auf den Aufruhr angesprochen, den der deutsche Industriekommissar mit seiner Beamtenschelte in der EU-Kommission entfacht hat. Beide betonten, die EU-Beamten seien über jeden Zweifel erhaben. Verheugen stellte klar, es sei ihm darum gegangen, mit altem Denken aufzuräumen. "Die Vorstellung, mehr Gesetze brächten mehr gemeinsames Europa, ist überholt. Eine Menge hochrangiger Beamter sind nun wild entschlossen zu zeigen, dass meine Kritik überzogen war." Ändern wird sich ohnehin nur etwas, wenn die Mitgliedstaaten und das Europaparlament mitziehen. Verheugen setzt große Hoffnungen in die kommende deutsche Ratspräsidentschaft. "Vom Frühjahrsgipfel im März erwarten wir ein klares Bekenntnis, dass auf nationaler Ebene ähnliche Projekte gestartet werden." 17 Länder hätten mit der Arbeit bereits begonnen, er sei also zuversichtlich, sagte Verheugen. Kanzlerin Merkel hat angekündigt, dass sie das Thema zu einem Schwerpunkt ihres Vorsitzes machen will. Aus einer dänischen Studie ergibt sich, dass dort mehr als die Hälfte der Bürokratiekosten auf nationale Gesetze zurückzuführen sind. In den Niederlanden macht dieser Anteil immerhin 43 Prozent aus. Wenn es also nichts wird mit dem ehrgeizigen Ziel, mehr Wachstum durch weniger Bürokratie zu schaffen, muss die Kommission genauer unter die Lupe nehmen, wie die Richtlinien aus Brüssel national umgesetzt werden. Ein großer Teil der Vorschriften, die den Unternehmen das Leben schwer machen, wird in den Hauptstädten produziert.