Diese alles beherrschende Kriegsabsicht ist Kernthese und roter Faden des zweiten Teils der Trilogie "Das Dritte Reich" von Richard Evans, Professor für Moderne Geschichte in Cambridge. Nachdem er in "Aufstieg" den Weg der Nazis zur Macht beschrieben hat, schildert Evans nun in "Diktatur", wie das Regime von 1933 bis 1939 Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Medien auf den finalen Waffengang vorbereitete.
Doch bevor die Nazis ihre Nachbarstaaten mit Krieg bedrohten, führten sie eine Art inneren Feldzug, eine Kampagne gegen alle demokratischen Strukturen, gegen andere Ideologien, gegen Institutionen wie Gewerkschaften und Kirchen. Evans: "Jeder Verband auf nationaler Ebene, jeder lokale Verein wurde der Kontrolle der Partei unterstellt." Was nicht gleichgeschaltet wurde, wurde vernichtet. Sozialdemokraten, Kommunisten, liberale und konservative Politiker und Juden wurden zu tausenden verhaftet und umgebracht. Nachdem die Gewalt-Exzesse der SA aus dem Ruder zu laufen drohten, und die SA-Spitze um Ernst Röhm von einer zweiten Revolution träumte und die Sturmabteilung gar als künftigen Waffenträger der Nation sah, da fraß die braune Revolution ihre Kinder. Denn für seine Kriegspläne brauchte Hitler die Wehrmacht. Die Ermordung der SA-Führung um Röhm und die Entmachtung der braunen Bataillone übernahm die neue, die aufsteigende Macht im Staat, die SS.
Schutzsstaffel, SD, Gestapo und Konzentrationslager wurden zu den Säulen eines beispiellosen Polizeistaates, wie Evans ebenso anschaulich-eindringlich wie treffend beschreibt. Zweck dieses Terrorregimes war nicht allein die Vernichtung von Widerstand, sondern durch die maßlose Gewalt wurde die stillschweigende Zustimmung derjenigen erzwungen, die sich nicht für den neuen Staat begeistern konnten. "Es war keineswegs so, dass der nationalsozialistische Terror sich ausschließlich gegen kleine und verachtete Minderheiten gerichtet hätte; die Drohung einer Verhaftung, eines Gerichtsverfahrens und einer Haftstrafe unter zunehmend brutalen und gewalttätigen Umständen schwebte im Dritten Reich über jedem", so Evans. "Das Regime zwang die Deutschen zum Stillhalten." Der Cambridge-Professor lässt keinen Zweifel daran, dass unzählige Deutsche bereitwillig das Nazi-Regime unterstützten, doch betont er zutreffend den Faktor staatliche Gewalt, der bei so manchem jüngeren Deutungsversuch der Nazi-Herrschaft etwas aus dem Auge verloren wurde: "Je weiter das Dritte Reich vor uns in die Vergangenheit zurückweicht, desto schwieriger wird es für die Historiker, die in demokratischen politischen Systemen (…) leben, die notwendige Vorstellungskraft aufzubringen, um das Verhalten von Menschen in Staaten wie dem Dritten Reich zu verstehen, wo jedem Folter, Zuchthaus, Lager oder gar Tod drohten, der er es wagen sollte, auch nur die leiseste Kritik (…) zu äußern." Ein alter Arbeiter brachte die Situation nach dem Krieg in einem Interview auf den Punkt: "Wissen Sie was Angst ist? Nein? Das Dritte Reich war Angst."
Doch Furcht vor dem Terror war nur eine unter mehreren Herrschaftstechniken. "Denn den Nationalsozialisten genügte es nicht, die Bevölkerung zu einer passiven, widerwilligen Fügsamkeit zu nötigen. Sie verlangten vielmehr eine aktive, begeisterte Unterstützung." Dafür sollt Goebbels Propaganda-Maschinerie sorgen. Sie sollte helfen, einen neuen, einen kämpferischen Menschen zu formen, der sich in die angeblich egalitäre "Volksgemeinschaft" der "deutschen Rasse" einordnete - für Juden, Behinderte, Sinti und Roma war darin kein Platz. Evans schildert, wie Rundfunk, Film, Presse, Kunst und Musik zu Werkzeuge des Regimes wurden. Auch dabei schwang stets latent die Vorbereitung auf den Krieg mit. Und dies hinterließ Spuren: Sei es in den Gewaltbereitschaft ausstrahlenden Plastiken Arno Brekers oder in der Sprache der Deutschen. Evans: "Alltägliche Dinge wurden in Begriffe gekleidet, die zur Sphäre des Krieges gehörten." Der Einsatz für die "Volksgemeinschaft" hatte "brutal", "erbarmungslos" und "hart" zu sein. Um alles wurde plötzlich gekämpft: Um die deutsche Kultur, ums Dasein der Rasse und die Zukunft der Nation.
Auch die Lösung des dringlichsten Problems der deutschen Gesellschaft im Jahr 1933, die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, wurde zum Feldzug hochstilisiert, zur "Arbeitsschlacht". Anschaulich und kenntnisreich beschreibt Evans, wie die Nazis dank eines allgemeinen Aufschwungs mit einer Kombination aus Konjunkturprogrammen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, der Kontrolle über Unternehmen und der Ausschaltung von Gewerkschaften die Arbeitslosigkeit überwanden. Der alles entscheidende Faktor dabei war die maßlose Aufrüstung Deutschlands, die durch eine gigantische Verschuldung finanziert wurde. Hitler bereitete dies wenig Sorgen. Der Startschuss für die Eroberung des Lebensraums im Osten war nur eine Frage der Zeit. Die Ausbeutung dieser Gebiete sollte die Staatskasse sanieren.
Die Außenpolitik des wiederbewaffneten Reiches bis 1939 war, wie Evans im letzten Kapitel beschreibt, eine Kette von Expansionen und Provokationen, die letztlich in die offenen Aggression münden musste. Der Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland, die Volksabstimmung im Saarland, der Anschluss Österreichs, der Einmarsch in das Sudetenland und schließlich die Zerstörung der restlichen Tschechoslowakei rief bei den Deutschen einerseits Angst vor einem Krieg, andererseits eine unbändige Begeisterung für dieses neue "Großdeutschland" hervor. Für viele wurde so die Schmach von Versailles getilgt.
Evans Darstellung endet mit dem deutschen Überfall auf Polen. Sein Fazit der sechsjährigen Nazi-Herrschaft ist zutreffend. "Im Unterschied zu anderen Regimen, (…) war das Dritte Reich weit mehr als eine bloße Konterrevolution. Seine Ambitionen gingen weit über die Wiederherstellung eines (…) Status quo hinaus." Ziel der Nazis war die Vorbereitung der Deutschen auf einen Krieg, der das Reich zum Herrscher Europas machen sollte. Die entscheidende Kraft hinter dieser Entwicklung war für Evans Adolf Hitler. Damit bezieht der Brite eindeutig Position in der Diskussion unter Historikern, welche Rolle der "Führer" tatsächlich spielte: "Er legte die allgemeinen Parameter der Politik und der Weltanschauung fest. Die Geschichte des "Dritten Reiches" war keine Geschichte einer ununterbrochenen Radikalisierung, angetrieben von den zwangsläufigen Instabilitäten in seinem Herrschaftssystem oder einer fortwährenden Konkurrenz um die Macht zwischen seinen Statthaltern (…). Bei all seiner Irrationalität und Instabilität wurde das Dritte Reich in erster Linie von oben geführt, von Hitler und von seinen wichtigsten Paladinen (…)."
Diese Erkenntnisse sind nicht neu, aber überzeugend. Dagegen trüben einige Ungenauigkeiten den Eindruck von Evans Werk: Er referiert ausführlich über die negativen Folgen der Landwirtschaftspolitik für den Bauernstand um zum Schluss zu dem Fazit zu kommen, dass 1939 die Lage für die Bauern besser war als Jahre zuvor. Da bleibt der Leser ratlos zurück. Evans Aussage, dass wegen der schwierigen Versorgungslage Deutschlands, der bevorstehende Krieg gewissermaßen am Schreibtisch als Blitzkrieg konzipiert wurde, kann man noch als sehr vereinfacht bezeichnen. Seine Bemerkung zum Spanischen Bürgerkrieg, die sowjetische Hilfe für die Madrider Regierung habe das deutsche und italienische Engagement "mehr als aufgewogen", ist allerdings schlicht falsch. Das Gegenteil war der Fall.
Dennoch: Evans Werk ist lesenswert. Er liefert keine Fülle neuer Erkenntnisse, aber dies war auch nicht seine Intention. Evans wollte eine umfassende, gut lesbare Überblicksdarstellung auch für den historisch interessierten Laien schaffen. Das ist ihm gelungen. Ob diese Leserschaft letztlich die nötige Hartnäckigkeit besitzt, das 2.000-Seiten-Gesamtwerk zu lesen, wird sich zeigen, wenn demnächst der dritte Teil erscheint.
Richard J. Evans: Das Dritte Reich. Diktatur. Band 2/I und Band 2/II. Aus dem Englischen von Udo Rennert. Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2006; 1083 S., 69,90 Euro.