Rund 25 Millionen Deutsche gaben zwischen 1946 und 1989 in Meinungsumfragen an, vor Kriegsende von der Vernichtung der europäischen Juden erfahren zu haben. Gut ein Drittel der "Volksgenossen" erahnte oder wusste also, dass die SS, die Polizei und Wehrmachtssoldaten östlich der Oder Juden massakrierten. Dass der Genozid ein "offenes Geheimnis" war, und zwar nicht nur im Deutschen Reich, sondern auch bei den Alliierten, ist in der Forschung schon lange keins mehr. Wie die "Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten" dieses Wis-sen allerdings verdrängten und ausnutzten, harrte bislang der systematischen historischen "Aufarbeitung". Die Zeithistoriker Frank Bajohr (Hamburg) und Dieter Pohl (München) sind dieser wichtigen und ergiebigen Frage in zwei sich sinnvoll ergänzenden Studien auf den Grund gegangen.
Bajohr berichtet quellennah und sozialhistorisch fundiert vom sich verfestigenden "antijüdischen Konsens" innerhalb der deutschen Gesellschaft nach 1933 und dem "schlechten Gewissen", das sich angesichts der drohenden Niederlage und der sich offenbarenden Mitschuld am Holocaust bei vielen Deutschen einstellte. Zahlreiche Äußerungen von Juden, Nicht-Juden und NS-Funktionären belegen eindeutig, wie "normale" Deutsche aller Schichten den zur Staatsdoktrin erhobenen Antisemitismus größtenteils ohne direkten Zwang verinnerlichten. Die Fotos von den Versteigerungen, dem Verkauf und der Vernichtung jüdischen Eigentums in aller Öffentlichkeit oder auch die unstillbare Nachfrage nach frei gewordenen jüdischen Wohnungen infolge von Deportation und Auswanderung offenbaren, wie selbstverständlich, aber auch wie skrupellos sich die deutsche Gesellschaft an der Ausgrenzung und Ausbeutung der Juden beteiligte. Sei es durch "begeisterte Zustimmung, Mitmachen, und Ausnutzen über Anpassung und Hinnehmen bis zur Distanz und Widersetzlichkeit", meist jedoch durch "Mischformen des Verhaltens", wie sie der Hamburger Historiker aus den geheimen Stimmungsberichten des SD, Polizeiakten oder den Erinnerungen der Entrechteten sorgfältig herausliest.
Vermutlich nicht alle, aber sehr viele "Volksgenossen" vermochten die "verschlüsselten Informationen" der NS-Führung zu knacken und zwischen den Zeilen wie in den Anspielungen zu erkennen, dass spätestens mit dem Angriff auf die Sowjetunion im Osten ein systematischer Massenmord im Gange war. Den zwingenden Beweis dafür lieferten viele Deutsche selbst, indem sie den Bombenhagel der Alliierten, die Vertreibung und die totale Niederlage als Strafe für den mitverschuldeten respektive nicht verhinderten Genozid interpretierten. Dass diese folgenschwere Mitwisserschaft die Deutschen nicht zwangsläufig läuterte, sondern die eigene Opferrolle rechtfertigen sollte, weist Bajohr mit seiner eindrucksvollen Synthese neuer Quellen und neuester Forschungen nach.
Aber auch die siegreichen Alliierten müssen sich von den Historikern fragen lassen, wieso sie der Vernichtung der europäischen Juden wieder besseren Wissens nicht eher gestoppt haben. Dieter Pohl gibt auf diese Fragen gängige Antworten - Behinderung der Kriegsführung, Flüchtlingsproblematik, unsichere Informationen -, skizziert aber perspektivenreich den publizistischen und diplomatischen Schlagabtausch zwischen der NS-Führung und den Alliierten nach Bekanntwerden der nationalsozialistischen Verbrechen. Strengste Geheimhaltung war für das Auswärtige Amt und die Wehrmacht, Relativierung und Abwehr für das Propagandaministerium höchstes Gebot. Die selektiven und folgenlosen Anklagen der Alliierten hielten Goebbels und Konsorten nicht vom Massenmord ab, sondern intensivierten ihn bisweilen. Sodass auch Pohl wie viele andere Studien damit schließt, dass die Verbündeten der "moralischen Herausforderung (...) durch das Menschheitsverbrechen nur bedingt gewachsen" waren.
Beide Studien werden nicht nur Historiker, sondern auch Laien und Staatschefs zu denken geben. Denn spätestens seit dem Völkermord in Ex-Jugoslawien ist für viele erstmals spürbar geworden, was es ungefähr heißt, ein "offenes Geheimnis" dieses moralischen Kalibers zu haben.
Frank Bajohr / Dieter Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten. Verlag C.H. Beck, München 2006; 156 S., 18,90 Euro.