Gegen den Abrisswahn
Die Bürger mögen Denkmäler. Dennoch werden viele zerstört. Schluss damit!
Der Kontrast könnte größer nicht sein: Endlich hören wir auf die Hiobsbotschaften von der Klimafront, selbst Auto-, Energie- und Flugkonzerne müssen reagieren auf die wohlbegründeten Ängste ihrer Kunden. Gleichzeitig rollt eine Abrisswelle durch die Bundesrepublik. Abrisse aber sind vor allem einmal eines: eine immense Energieverschwendung.
Dabei werden nicht nur Bauten zerstört, deren kultureller oder historischer Nährwert umstritten ist. Auch die Eintragung in die Denkmalschutzlisten ist kein wirkliches Abrisshemmnis mehr. Nach neuesten Untersuchungen wurden selbst im geschichtsbewussten Bayern seit 1975, also seit dem legendären Europäischen Denkmaljahr, mehr als 30.000 eingetragene Denkmale bis zur Unkenntlichkeit verändert oder abgerissen.
Seit 1993 strich Niedersachsen 20.000, Sachsen-Anhalt angeblich sogar 50.000 Bauwerke aus den Listen.
Selbst wenn diese Zahlen auch deswegen zusammen kommen, weil die Kriterien für die Denkmaleintragung verschärft wurden: Dass in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren etwa 1.000 Bauwerke pro Jahr zerstört wurden, die als wichtig für das künstlerische, städtebauliche, wissenschaftliche oder historische Bewusstsein der Gesellschaft galten, das erscheint keineswegs übertrieben. Ob Kirche, Schloss, Guts-, Bauern- oder städtisches Fachwerkhaus, Scheune, Reformwohnung, Fabrik, Hochhaus, Museumbau oder Konzertsaal, ob verfallen, beschädigt oder vollkommen intakt - keine Baugattung ist ausgenommen vom neuen Abrisswahn: Kürzlich wurde in Berlin in einer Nacht-und Nebel-Aktion der katholischen Kirche ein Bau von Rudolf Schwarz beseitigt, es folgte auf Senatsbeschluss eine Fabrikanlage von Ernst Ziesel in Oberschöneweide, und kürzlich wurde der Abriss des berühmten und technisch tadellosen Schimmelpfeng-Hauses über der Kantstraße genehmigt.
Obwohl weit über 80 Prozent der Bürger den Denkmalschutz als wichtig bezeichnen, gilt er Politikern oft als Investitionshemmnis. Systematisch werden deswegen die Denkmalämter entmachtet. In Niedersachsen wurden sie ganz den Kommunalpolitiken unterworfen. In Sachsen-Anhalt durften sich die Denkmalpfleger nicht gegen den Abriss des einstigen Kraftwerks Vockerode stemmen, dessen Erhalt zwar der Eigentümer, die Vattenfall AG, möchte, nicht aber die Landespolitiker. Sie sehen in dem monumentalen Bau eine Störung des unter dem Schutz der Unesco stehenden "Gartenreichs" von Wörlitz. Ein Denkmal wird hier gezielt gegen das andere ausgespielt.
Versteckter findet die Entmachtung des Denkmalschutzes in Berlin statt: Das Amt wurde seit 1990 um fast zwei Drittel verkleinert und in die Bauverwaltung integriert. Unter dem Signum der Effizienz wird jene schützende Reibefläche abgeschafft, die in anderen Bundesländern die Zuordnung der Denkmalämter zum Kultusministerium garantiert. Und Berliner Politiker debattieren, die Denkmallisten ganz zu schließen. Dann gäbe es, so die Hoffnung, nur noch von Studenten- und Bürgerinitiativen Einsprüche - und wie gering deren Wirkung ist, hat man beim Palast der Republik gesehen.
Dabei ist bekanntlich noch keine Investition am Denkmalschutz gescheitert. Investitionen in bestehende Gebäude kommen vor allem dem lokalen Mittelstand zu Gute. Dabei lohnt die Subvention von Altbauerhaltung: Auf jeden Euro Staatsgelder kommen, wie der einstige Bundesbauminister Manfred Stolpe kürzlich feststellte, wenigstens zwei Euro privater Investition.
Der Schutz von historischen Bauten stärkt regionale Identitäten. Und nur die schützen die Regionen vor der Abwanderung. Regionale Identitäten aber machen sich weniger an allgemein als "schön" eingeschätzten Bauten, sondern vor allem an gewohnten Stadt- und Landschaftsbildern fest. Deswegen ist auch die Vorstellung, man könne Denkmallisten schließen, so kurzsichtig. Nicht nur das Wissen um die kulturelle Entwicklung erweitert sich beständig. Es verändert sich auch beständig die Perspektive auf die Geschichte.
Heute um die 30- bis 40-Jährige sind mit der Nachkriegmoderne groß geworden, deswegen engagieren sie sich so sehr für den Erhalt von Bauten, die lange nur als kalt wahrgenommen wurden. Sie stellen sich damit in jene große Widerstandstradition der Denkmalpflege, die seit der Kaiserzeit erst den Barock, dann den Zopfstil und den Biedermeier, später die Gründerzeit, den Jugendstil, die Klassische Moderne gegen alle Angriffe von Politikern, Bürgern, Investoren und Planern verteidigten.
Hätte man gewartet, bis alle diese Bauten als "schön" akzeptiert worden wären, hätte man sich meist nur noch an Fotos delektieren können. Denkmalpfleger waren es auch, die sich als erste für Nazi-Bauten interessierten und damit eine der Grundlagen für die heute so gern gefeierte kritische deutsche Geschichtsbearbeitung legten. Sie erweiterten den Horizont des Erinnerns um das Industriezeitalter, um Arbeitersiedlungen, Fabriken, Staudämme, schließlich sogar Autobahnen. Wer all dies als nicht denkmalwürdig ansieht, der reduziert auf Dauer auch die Geschichtsschreibung wieder zu einer der Herrschenden über Schlösser, Dome und Rathäuser.
Denkmalpflege war, so der Berliner Landeskonservator Jörg Haspel, immer eine Avantgardewissenschaft. Und zwar gerade, weil die meisten Denkmalpfleger immer noch darauf beharren, dass jedes Bauwerk Resultat einer oft widerspruchsvollen Biografie mit Schrammen und Falten ist, unwiederbringlich, unkopierbar, einzigartig. Geschichte ist aus dieser Perspektive eben kein abgesichertes Refugium, sondern eine ständig offene Entwicklung.
Abrisse habe es immer gegeben, wird behauptet. Doch das ist genau solcher Unsinn wie die romantische Vorstellung, früher hätten die Menschen mehr Schönheitssinn gehabt. Alte Mauern und selbst halb ausgebrannte Dachstühle blieben über Jahrhunderte erhalten, weil sie einen immensen Wert darstellten. Tausende von Menschen lebten einst nur von der Pflege solcher Werte, Hausmeister, Kessel- und Dachflicker, Kleinputzer, Zimmerer, Maurer, Gipser. Selbst schlecht gebaute Häuser wurden so nach und nach zu gut gebauten Häusern. Noch in den 40er- und 50er-Jahren war dieses Kostenbewusstsein zu spüren. Wenn Gebäude nicht total verrottet waren, wurden sie eigentlich nur im Fall ideologischer Programmänderungen abgerissen: Ein Tempel wurde zur Kirche, die Bastille oder die Mauer gestürmt. Denn Abrisse lohnen sich selten. Sie verschwenden die in der vergangenen Bauarbeit und in dem verbauten Material fest gebundene Energie. Jeder Ziegel, jeder Betondecke, jeder Stahlträger oder Nagel ist von ihr gefüllt. Wer abreißt, wirft dies Vermögen weg. Selbst Recycling benötigt neue Energiezufuhr, nicht zu vergessen auch die Energie, die für Transport und schließlich für den Neubau aufgewandt werden muss.
Erst mit der Einführung von Stein- und Braunkohle, dann Erdöl und Erdgas in den Energiemarkt hat sich das radikal geändert, Abriss wurde billig. Doch das fossile Zeitalter nähert sich dem Ende. Material wird wieder teurer, weil Öl knapper wird. Als erste reagierten private Bauherren. Mietshäuser etwa sind inzwischen weitgehend sicher, so lange der Bund nicht wie in Ostdeutschland ihren Abriss subventioniert. Charakteris-tisch ist auch der Wandel, den man am Berliner Ernst-Reuter-Platz beobachten kann. Dort steht das blaue Hochhaus, das Willy Kreuer Mitte der 50er-Jahre für das Institut für Bergbau und Hüttenwesen errichtete. Jahrelang behauptete die Technische Universität, das Gebäude sei marode, müsse abgerissen werden. Aber es fand sich kein Käufer für das Grundstück.
Bauforscher, Architekten und Kunsthistoriker der Universität wiesen dann nach, dass der Bau nur einiger Reparaturen bedarf. Plötzlich ist eine Sanierung möglich - der materielle Wert des bestehenden Gebäudes erwies sich als lockender denn alle möglichen Verkaufserlöse.
Der Autor ist freier Journalist in Berlin.