Kasachstan
Bislang lebten die Ethnien in der Republik friedlich miteinander. Nun zeigt das "gemeinsame Haus" Risse.
Es begann banal mit einer Schlägerei in einer Billardhalle zwischen einem jungen Tschetschenen und einem Kasachen in einem Dorf in der Nähe von Almaty. Der unterlegene Tschetschene verfolgte den Kasachen und verletzte ihn mit einem Plastikgeschoss am Bein, daraufhin belagerte dieser zusammen mit vielen Freunden am nächsten Tag das Haus seines Gegners im Nachbarort. Nun fielen Schüsse mit richtigen Patronen, zwei Kasachen und drei Tschetschenen kamen ums Leben, das Haus brannte bis auf die Grundmauern nieder. Danach gingen die Wellen hoch, Hunderte von Kasachen beteiligten sich vor Ort an antitschetschenischen Demonstrationen. Inzwischen hat die Polizei die Dörfer unter Kontrolle, und in Almaty beginnt die Suche nach den Ursachen.
Die Auseinandersetzungen haben ganz unerwartet die Nationalitätenfrage in Kasachs-tan wieder zum Leben erweckt - und das, nachdem das friedliche Zusammenleben der mehr als 100 in Kasachstan lebenden Nationalitäten bisher als vorbildlich gegolten hatte.
Der Vorfall erinnert daran, dass nicht nur, wie uns durch die Aussiedler bekannt, Deutsche, sondern auch Polen, Koreaner, Krimtataren und mehrere Kaukasusvölker auf Stalins Befehl vor und während des Großen Vaterländischen Krieges (1941 bis 1945) unter dem Vorwurf der Kollaboration in die Kasachensteppe deportiert worden waren. Insgesamt sollen es mehr als 300.000 Tschetschenen gewesen sein, die sich nach tagelangem Transport im Güterwagen im März 1944 unter schwersten Lebensumständen in Kasachstan wiederfanden.
Anders als die Deutschen und Tataren wurden die Tschetschenen aber Mitte der 50er-Jahre rehabilitiert und erhielten das Recht in ihre kaukasische Heimat zurückzukehren. Einige Zehntausend zogen es jedoch vor, zu bleiben. Sie trugen mit diesem Entschluss dazu bei, dass die Kasachische SSR in der Sowjetzeit als "Laboratorium der Völkerfreundschaft" galt, denn selbst im Vielvölkerreich Sowjetunion war die nationale Zusammensetzung dieser Unionsrepublik ungewöhnlich: 1989 lebten dort 16,5 Millionen Menschen, die 130 verschiedenen Nationalitäten angehörten, offenbar friedlich zusammen! Dennoch galt die Multiethnizität im Moment der Unabhängigkeit Kasachstans im Dezember 1991 als schweres, konfliktträchtiges Erbe der Sowjetzeit. Allerdings konzentrierten sich die Befürchtungen weniger auf kleine Nationalitäten wie die knapp 50.000 Tschetschenen als auf die beiden größten Gruppen: die damals 6,5 Millionen Kasachen und 6,2 Millionen Russen. Nach dem Muster: Hier Muslime, da orthodoxe Christen, hier ehemalige Unterdrückte, da Unterdrücker, sah man ein Konfliktpotenzial, das in Wirklichkeit so nicht vorhanden war. Die Beziehungen zwischen den Nationalitäten waren in den vergangenen 16 Jahren nicht frei von Spannungen, aber so gut wie immer friedlich.
Dazu trug auch die staatliche Nationalitätenpolitik bei: Die Verfassung verbietet nationale Diskriminierung, und die Staatsbürgerschaft wurde nicht an Sprachkenntnisse geknüpft. Im Gegenteil, da der weit überwiegende Teil der Bevölkerung 1991 russisch, aber nicht kasachisch sprach, wurde Kasachisch zwar Staatssprache, Russisch erhielt aber einen Sonderstatus als Sprache der "interethnischen Kommunikation" - allerdings mit dem Ziel, langfristig ganz auf Kasachisch umzustellen. Mit den Formeln "Eintracht zwischen den Nationalitäten" und "Unser gemeinsames Haus Kasachstan" beschwor Präsident Nursultan Nasarbajew immer wieder, dass Kasachstan ein Staat der Kasachstaner, nicht nur der Kasachen, sein solle. Heute kann man dennoch eine schleichende Kasachisierung beobachten, weniger als Folge staatlicher Politik als aufgrund der demografischen Situation. Denn seit der Unabhängigkeit haben nicht nur etwa 800.000 Deutsche, sondern auch mehr als zwei Millionen Russen das Land verlassen, sodass die Kasachen heute mit knapp 60 Prozent der Bevölkerung wieder die absolute Mehrheit stellen und die Russen nur noch ungefähr ein Viertel. Besonders spürbar ist das in bezug auf die Sprache. Zwar überwiegt in den Medien immer noch das Russische, doch ganz allmählich setzt sich das Kasachische auch in früher ganz überwiegend russischsprachigen Städten wie Almaty durch. Nach mehreren Verlängerungen ist heute die komplette Umstellung des öffentlichen Lebens auf Kasachisch im Jahr 2010 das - nicht völlig unrealistische - Ziel.
Auch der vor allem unter jungen Kasachen immer stärker werdende Islam erzeugt unter der europäischstämmigen Bevölkerung ein Gefühl von Fremdheit und Unwohlsein, ohne dass er tatsächlich irgendwie bedrohliche Ausmaße angenommen hätte. Beim Universitätszugang wie bei Stellenbesetzungen scheinen Kasachen bevorzugt zu werden. Allerdings haben auch Nichtkasachen Aufstiegschancen. Der derzeitige Premierminister Karim Massimow ist beispielsweise Uigure, drei seiner Minister sind Russen, und der reichste Mann des Landes ist nach der neuesten Liste von Forbes.com ein Koreaner mit einem Vermögen von 5,5 Milliarden US-Dollar. Nationale Fragen spielen im öffentlichen Leben Kasachstans heute kaum eine Rolle. Die meisten Menschen, gleich welcher Nationalität, haben sich mit den Gegebenheiten arrangiert und es sind, obwohl es in Kasachstan wie überall auf der Welt nationale Stereotype und Vorbehalte gibt, keine bedrohlichen Spannungen zu verzeichnen gewesen. Umso mehr ist man durch die jüngsten Vorfälle beunruhigt.
Es ist schwer zu verstehen, warum gerade die Tschetschenen zum Auslöser von Unruhen wurden, denn sie scheinen bestens an die heutigen Bedingungen angepasst. Wie die Kasachen sind sie Muslime und sprechen zu einem erstaunlich hohen Anteil kasachisch. Dennoch hat es auch schon in den 90er-Jahren gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen beiden Bevölkerungsgruppen gegeben, die bis zum - später zurückgenommenen - Beschluss einer Gebietsverwaltung gingen, alle Tschetschenen auszuweisen. Eine Ursache könnte sein, dass die Tschetschenen relativ abgeschottet von ihrem kasachischen Umfeld leben und ihre Familienstrukturen, Traditionen und strengen Glaubensvorstellungen bewahrt haben.
Überhaupt nicht abzuschätzen ist die Wirkung eines weiteren Faktors. Die Moskauer Kriege in Tschetschenien ließen Zehntausende von Tschetschenen aus dem Kaukasus nach Kasachstan fliehen. Die kasachische Führung steht ihnen ablehnend gegenüber, weil sie ihre Beziehungen zu Moskau gefährdet sieht und Terrorismus-ängste hegt. Entsprechend schlecht ist ihre Behandlung durch die Verwaltung. Es gibt keinerlei Informationen darüber, wie die Bevölkerung Kasachstans sich zu diesen Flüchtlingen verhält. Dabei waren die Ereignisse im März zwar die bislang opferreichsten, es hat aber in den vergangenen Monaten zwei weitere Zwischenfälle gegeben: Konflikte zwischen kasachischen Arbeitern und besser gestellten türkischen "Gastarbeitern" in der Erdölindustrie im Oktober 2006 und einen Monat später zwischen Uiguren und Kasachen nahe Almaty. Steht in Kasachstan also die Zeit der Nationalitätenkonflikte bevor?
Vieles spricht dafür, dass die jüngsten Vorfälle im Kern nicht nationalistisch sind, sondern eher ein Indikator für soziale Probleme: Während ein Teil der Städter am derzeitigen Boom teilhaben kann, wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer und vor allem auf dem Land, wo die Mehrheit der Kasachen lebt, wachsen Armut und Perspektivlosigkeit. Der damit verbundene Frust entlädt sich gewaltsam und bekommt bei Beteiligung verschiedener Nationalitäten eine gefährliche Richtung.
Im Fall der jüngsten Unruhen fällt außerdem auf, dass offenbar kein Beteiligter auf die Idee gekommen ist, sich an Polizei oder Justiz zu wenden, sondern man zur Selbstjustiz griff. Das Vertrauen in Recht und Staat ist offensichtlich verloren, zu oft ist man bei der Verwaltung mit seinen Problemen auf taube Ohren gestoßen und hat unter unprofessionellen, korrupten Polizisten gelitten. Noch ist das gemeinsame Haus Kasachstan intakt. Nationalitätenpolitik kann aber letztlich nur erfolgreich sein, wenn sie von sozial-ökonomischen Maßnahmen begleitet wird, die Bevölkerung sich auf den Schutz des Rechtsstaates verlassen und ihre Interessen in einem demokratischen Staat artikulieren kann.
Die Autorin forscht und lehrt am Institut für Orientalistik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg