TADSCHIKISTAN
Die meisten Männer sind als Gastarbeiter in Russland. Und dort nicht wohlgelitten. Das Unheil begann mit der Unabhängigkeit des Landes.
Es ist eine idyllische Landschaft. Die schroffen Gipfelketten des Pamirs ragen in den Himmel, fallen sturzgerade ab, gehen in Geröllhalden und schließlich in sanfte Wiesen über bis ins Tal. Auf einer der Almen mühen sich, neugierig beobachtet von Schafen und Ziegen, rund 30 Leute mit Erdarbeiten ab. Sie stechen einen Graben für eine Rohrleitung, durch die sauberes Wasser aus den Bergen bis in ihr kleines Dorf nahe Penschikent geführt werden soll - ohne dass es von Sand oder vom Dung der Tiere verunreinigt wird. Mit dem Spaten schaufeln sie die dünne Erdschicht weg, mit Spitzhacken rücken sie dem Gestein zu Leibe.
Es ist Schwerstarbeit. Doch hier sind nur Greise mit grauen Bärten oder halbwüchsige Jungs beschäftigt, fast noch Kinder. Es gibt keine Männer in jungen oder mittleren Jahren. Sie sind auch andernorts kaum oder gar nicht zu sehen - nicht im Dorf, nicht in den Straßen der Stadt Penschikent. Auch der Markt dort ist eine Domäne der Frauen: Sie verkaufen Salz und Wodka, sie stehen hinter den Ständen mit Aprikosen, Weintrauben und Äpfeln, sie ziehen die schweren Packkarren durch die Gänge. Das war vor einigen Jahrzehnten ganz anders.
Die Einwohnerzahl Tadschikistans wird auf sieben Millionen geschätzt. 40 Prozent davon sollen jünger als 14 Jahre sein, 20 Prozent älter als 50 Jahre. Von den restlichen 40 Prozent - also dem Großteil der arbeitsfähigen Bevölkerung - sind die Hälfte Frauen. Bis zu einer Million tadschikischer Männer in dieser Altersgruppe haben das Land in den vergangenen Jahren verlassen. Sie sind nach Russland gegangen, um dort Arbeit zu finden und Geld zu verdienen.
Von diesem Geld aber sehen die meisten der Frauen, die sich in Neu-Darband im Haus von Alexandra Mijaschnikowa eingefunden haben, nichts. Sie sitzen am Boden um eine bunte Wachstuchdecke, auf der Schalen mit getrockneten Aprikosen und Nüssen, mit Keksen und Bonbons sowie Teegläser stehen.
Sie haben es sich schön gemacht. Die Farben ihrer knöchellangen Kleider beißen einander: Leuchtendes Türkis sitzt zwischen Orangerot und Maigrün. Wie die meisten hier im Ort haben sie zwar viele Kinder, aber keine Männer: Ihre Ehegatten, Brüder, Onkel und älteren Söhne sind in Russland. Das ist das eine Übel, mit dem sie geschlagen sind. Das andere ist Neu-Darband.
Einst lebten sie mit ihren Familien in einem Ort am Fluss Waksch, der im Pamir-Gebirge entspringt. Mitte der 70er-Jahre, als Tad-schikistan noch zur Sowjetunion gehörte, sollte der Waksch-Fluss nach dem Willen der Moskauer Zentralmacht nicht mehr nutzlos durch die Landschaft fließen.
Energiepolitiker beschlossen den Bau eines Staudamms. Bagger rückten an, Felsen wurden gesprengt, eine Staumauer wuchs an der schmalsten Talstelle. Anfang der 80er-Jahre mussten die Anwohner in eine Ersatzsiedlung ziehen. Sie war am Reißbrett geplant und etwa 100 Kilometer entfernt errichtet worden, auf einem platten Stück Land mitten im Nirgendwo: Neu-Darband.
Das Tal ist steinig, karg und trocken, die Gebirgszüge des Pamirs sind dunkle Schatten am Horizont. In Neu-Darband gibt es keinen Markt, kein Kulturhaus, kein Gemeindezentrum.
Gleichförmige Häuschen säumen drei ungepflasterte Straßenzüge. Jeder Schritt, jedes Auto wirbelt betongraue Staubkaskaden auf. Nur ein paar verkrüppelte Sträucher können sich gegen Wind und Trockenheit behaupten. Bäume haben keine Chance, hier Wurzeln zu schlagen. Immer wieder fällt der Strom aus, weil die Energieversorgung nicht reicht. Aus den Hähnen tropft gelbliches Wasser.
Das Hospital ist ebenso wie die Schule geschlossen. Ein holpriger Feldweg führt ins Dorf hinein und am anderen Ende wieder hinaus. Von Neu-Darband aus ist mit vernünftigem Aufwand kein Markt einer größeren Stadt zu erreichen. Aber was sollten die Frauen auch dort? Das bisschen Gemüse und Obst aus ihren Gärten brauchen sie selbst. Und Geld, um in der Stadt etwas zu kaufen, haben sie nicht.
Gulraftar Abdullowas Ehegatte ist vor Jahren nach Russland gegangen. Dort ist er nicht nur dem Suff verfallen: "Er hat dort auch eine andere Frau geheiratet", sagt sie. Farogat Jamalowa wartet seit acht Jahren vergeblich auf eine Nachricht. Mukaddas Kurbonowa schickte vor einem Jahr ihren Ältesten nach Moskau, um den Angetrauten zu suchen. Seither ist auch der Sohn verschwunden. Einzig Saodat Saidowa sieht ihren Mann noch regelmäßig: Kurz nach der Hochzeit vor zehn Jahren brach er gen Russland auf, seither kam er jeden Winter zu Besuch. Inzwischen hat sie neun Kinder.
Sie und die anderen Frauen hier im Haus von Alexandra Mijaschnikowa sind an einem Mikro-Kredite-Projekt der Deutschen Welthungerhilfe beteiligt. 2.000 Dollar von der Hilfsorganisation waren das Startkapital. Das Ziel: Frauen, die sich und ihre Kinder ohne männlichen Beistand durchschlagen, sollen sich selbstständig machen können.
Das Prinzip: Die Bewerberin legt ein Konzept vor, bekommt Kredit, investiert und verschafft sich ein Einkommen. Vom Verdienst zweigt sie monatlich etwas ab, um das Geld zurückzuzahlen. Ist sie schuldenfrei, bleibt ihr der Broterwerb und die nächste Anwärterin kann sich etwas leihen. Die Warteliste ist lang, die Idee gut. Die Umsetzung aber hat ihre Tücken. Bibikhan Zamonowa gehört zu den Kredit-Veteraninnen in der Runde. Sie kaufte mit dem Geld eine Kuh und veräußerte einen Teil der Milch im Dorf. Die Schulden ist sie inzwischen los, leider aber auch die Kuh: Das Geld war kaum abgezahlt, da starb das Tier. Nun steht Bibikhan Zamonowa wieder auf der Anwärter-Liste. Javhar Schokirowas Geschäft war nachhaltiger. Sie mietete einen Bauwagen und eröffnete einen Laden. Einmal pro Woche fährt ein halbwüchsiger Sohn nach Duschanbe, kauft dort im Großmarkt Konserven, Instant-Kaffee und Kekse ein, die sie mit kleinem Aufpreis verkauft. Doch sechs der anwesenden Frauen investieren auf die gleiche Weise ihr Geld in einen Dorfladen oder planen, es zu tun. Die Geldmenge jedoch, die die Neu-Darbander für löslichen Kaffee und Kekse übrig haben, ist begrenzt. "Früher", sagen die Frauen unisono, "war alles besser."
Das ganze Elend habe mit der Unabhängigkeit angefangen. Keine von ihnen hat das Datum vergessen: Am 9. September 1991 hörten sie im Radio, dass sich die Republik Tadschikistan von der Sowjetunion löst. Was das bedeuten würde, hat keine von ihnen geahnt: In dieser Form war das Land nie unabhängig, es war gar nicht lebensfähig. Die junge Republik besaß keine Bodenschätze und keine Infrastruktur, sie war auch keine Kornkammer.
Der Grenze zu Afghanistan und dem Einmarsch der Russen hatte es die Teilrepublik zu verdanken gehabt, dass sie nach 1979 in vielen Bereichen überdurchschnittlich subventioniert wurde. Den Tadschiken ging es damals besser als den Russen in Russland. Mit der Unabhängigkeit aber versiegte der Rubelstrom aus Moskau. Russische Fachkräfte verließen das Land. Eine dramatische Dürre suchte Tadschikistan heim. In einem blutigen Bürgerkrieg kämpfte sich ein neuer Clan mit dem Kolchosvorsitzenden Emomali Rachmonow an die Macht.
"Wenn zum Ende des Bürgerkrieges 1997 ein Referendum stattgefunden hätte", sagt Alexandra Mijaschnikowa überzeugt, "hätten wir wie wohl eine Mehrheit der Tad-schiken für den Wiederanschluss an Russland gestimmt. Als wir noch zur Sowjetunion gehörten, gab es keinen Krieg und keinen Mangel, unsere Männer hatten Arbeit und waren bei uns zu Hause."
Aber es gab kein Referendum. Zumindest auf dem Papier hielten Demokratie und Marktwirtschaft Einzug: Die Preise für Fleisch zogen um 270 Prozent an, für Weizenmehl um 220, für Strom um 150, für die Wasserversorgung um 400 Prozent. Was früher gratis war - wie das Gesundheitswesen und die Bildung - kostet heute Geld. Die alten Arbeitsplätze sind wegen Unproduktivität verschwunden, neue nicht entstanden. Das zwingt viele Tadschiken zur Auswanderung.
Die meisten Frauen im Haus von Alexandra Mijaschnikowa hoffen, dass der abwesende Gatte doch noch Geld schickt oder sogar zu ihnen zurückkehrt. Keine von ihnen verliert ein böses Wort. "Unsere Männer", sagt Bibikhan Zamonowa, "haben es in der Fremde auch nicht leicht."
Nach Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges 1999 und dem Geiseldrama im Oktober 2002 in Moskau hatte die russische Führung drastische Maßnahmen gegen die zumeist illegalen Arbeiter aus Kirgistan, Turkmenistan, Usbekistan und vor allem Tadschikistan ergriffen. Sie wurden deportiert, verhaftet, gejagt. Immer häufiger werden sie Opfer von Rechtsradikalen, sie werden verprügelt - und manch einer auch erschlagen.
Die Frauen in Neu-Darband sorgen sich um ihre Männer, Söhne und Brüder in der Ferne, ob sie nun Geld schicken, treu sind oder auch nicht. Aber selbst für die Sorgen bleibt den Frauen um Alexandra Mijaschnikowa kaum Zeit. Sie müssen arbeiten, Geld beschaffen, sich um die Kinder kümmern, den Garten bestellen, den Haushalt in Ordnung halten, das Kleinvieh versorgen. "Aber die Gnade Gottes gehört denen, die arbeiten", sagt Zamonowa Bibikhan. "So steht es jedenfalls im Koran." Dann brechen sie auf.
Martina Doering ist Redakteurin im Ressort Außenpolitik der "Berliner Zeitung"