Verfehlt
Ein einstiger Öko-Guru propagiert die Atomkraft
Dieses Buch ist ein Ärgernis. Vom Mystisch-Irrationalen an James Lovelocks Gaia-Theorie, wonach die nach einer Griechengöttin benannte Erde als lebender Organismus, ja fast als eine Art handelnde Person mit der Klimakatastrophe gegen den Umweltsünder Mensch zurückschlägt, mag man abstrahieren können. Manche der von dem Biophysiker erläuterten Zusammenhänge zwischen Temperaturanstieg, Ozeanaufheizung, Agrarwirtschaft, Meeresspiegelan- hebung und Gletscherschmelze beim Treibhauseffekt sind durchaus erhellend. Gleiches gilt für Detailkritik an erneuerbaren Energien, deren realisierbare Potenziale in der Tat oft überschätzt werden. Aber Lovelocks Beschäftigung mit der Erderwärmung dient offenbar einzig dem Zweck, Propaganda für die Atomkraft zu machen - und dies in einer Plattheit, wie man sie bei einem Wissenschaftler nicht vermuten würde, der zudem lange Zeit im Ruf eines Öko-Gurus stand.
Für den Apokalyptiker Lovelock ist bei der durch Kohlendioxid provozierten Klimaüberhitzung der point of no return bereits überschritten: Vielleicht werde schon in 100 Jahren nur noch eine Milliarde Menschen existieren, die dann in der eisfreien Arktis mit noch erträglichen Temperaturen siedeln. Machbar seien bestenfalls eine Verzögerung und eine Linderung der Katastrophe, was ohne die massive Nutzung der Kernkraft nicht denkbar sei.
Mit dieser Position steht der Untergangsphrophet nicht allein. Erschreckend ist indes, wie der 87-Jährige die Gefahren der Nuklearenergie kleinredet und seltsame Vergleichsrechnungen anstellt. Für den Briten ist die Beherrschung des Atommülls angesichts der Dimension der Klimaexzesse fast ein Kinderspiel. Der Autor versteigt sich zu der absurden These, der strahlende Abfall sei so harmlos, dass er die einbetonierte Jahresproduktion eines Atommeilers locker in seinem Garten verbuddeln würde. Der Tschernobyl-Unfall möge die Lebenserwartung von Weißrussen und Ukrainern um einige Wochen verkürzen, beim Bersten riesiger, für die Nutzung der ökologischen Wasserkraft erbauter Staudämme seien hingegen Zehntausende sofort tot. Kritikern der Nuklearenergie unterstellt Lovelock eine "fehlgeleitete Angst vor Kernkraft" und eine "bornierte Fehlinterpretation".
Energiequellen wie Wind, Wasser, Sonne oder Erdwärme macht der Verfasser ziemlich undifferenziert nieder, was seine sachliche Kritik an diesen Energieträgern entwertet: Deren Befürworter hingen "einem romantischen, nicht praktikablen Traum" nach. An Rotoren stört Lovelock vor allem die Landschaftsbeeinträchtigung. Indes ist dies auch bei Überlandleitungen von Atommeilern der Fall, aber dieser Aspekt findet sich in dem Buch nicht.
Zur Minderung der Sonneneinstrahlung könnten monströse Schirme im All, durch Flugzeuge ausgestoßene Schwefel-Aerosole und künstlich erzeugte Regenwolken beitragen. Solche Ideen hat Lovelock, wie er schreibt, bei Kongressen aufgeschnappt. Auf Kosten und Machbarkeitsprobleme geht er gar nicht erst ein. Nahrungsmittel sollen übrigens synthetisch hergestellt werden - zwecks Landrückgabe an Gaia.
Das Kernübel ist der Mensch selbst. Lovelock spricht von der "Menschenepidemie", diese Spezies sei "so etwas wie eine Krankheit des Planeten". Man sei "zuerst und vor allem der lebendigen Erde verpflichtet", die Menschheit komme "erst an zweiter Stelle". Bei solchen hitzigen Worten mag es manche Leser frieren. Mit Grund.
James Lovelock: Gaias Rache. Warum die Erde sich wehrt.
List Verlag, Berlin 2007; 254 S., 18 ¤