EMOTIONAL
Mit dem Tourismus werden große Hoffnungen verbunden - finanzielle und politische. Das gilt nicht nur für die Dritte Welt, sondern auch für Europa: Beispiel Albanien.
Wo früher das verordnete Böse hauste, wohnt heute die Zukunft. Ohne Unterlass wanderte der Lichtkegel der Überwachungsscheinwerfer der albanischen Armee früher über die Meerenge zwischen der albanischen Südküste und den feindlichen griechischen Inseln. Damit keiner in den Westen verschwinden, aber auch, so muss man aus Sicht des Ex-Diktators Envar Hoxha wohl annehmen, damit das Böse nicht in die heile sozialistische Welt geschwommen kommen konnte.
Auch heute richten sich alle Blicke Richtung Meer. Es ist neun Uhr morgens, die kleine Hafenstadt Saranda erwacht zum Leben. Überall an der mehr als ein Kilometer langen Strandpromenade huschen Serviererinnen und Kellner über die Terrassen und wischen. Wenn sie ihre Augen heben sehen sie viel Wasser, ein paar Fischerboote, aber keinen Horizont. Stattdessen ragt wenige Kilometer vor der Küste die griechische Insel Korfu aus dem Meer. In wenigen Minuten wird das erste Schiff anlegen.
Auch Eduard Ahmeti putzt in Erwartung neuer Gäste die Tische. Immer wieder schaut er hinüber auf den Anleger nur wenige Meter vor dem Fenster. Seit zwei Jahren betreibt der ehemalige Hafenarbeiter ein Café in dem neuen Fährterminal, das eigens für die aus Griechenland anreisenden Gäste gebaut wurde. Zweimal am Tag setzen Luftkissenboote seit ein paar Jahren Menschen an Land, denen möchte man etwas bieten. In der ganzen Stadt reiht sich Baugerüst an Baugerüst, Rohbau an Rohbau. Und so mancher, der den Abzug der Maler nicht erwarten kann, hat schon einmal mit der Hand "Hotel" an die Tür geschrieben, hinter der noch gebaut wird.
Und - kommen die Gäste? Heute setzt genau ein abenteuerlustiger Tourist seinen Fuß vom "Flying Dolphin" auf albanischen Boden. "Die Hochsaison kommt ja noch", sagt Eduard Ahmeti, "im Sommer ist hier richtig was los." Die Besucher kommen, um die antiken Ausgrabungsstätten von Butrint, nur wenige Kilometer südlich von Saranda, zu besuchen. Aber auch, um einmal im Land der Shkipetaren gewesen zu sein, im wilden Albanien, das so lange so abgeschnitten von der Außenwelt war, dass ihm immer noch ein mystischer Ruf anhängt. In Zukunft sollen die Gäste noch aus anderen Gründen kommen, und vor allem bleiben: Wegen der "albanischen Riviera", die über mehr als 300 Kilometer einen - wenn auch verkehrstechnisch noch etwas unerschlossenen - Küstenstreifen an der Adria bildet. Wegen der "albanischen Alpen", die, wenn sie einmal kartiert sind, ein Paradies für Wanderer werden könnten. Und wegen der Hauptstadt Tirana, die sich auf den ersten wie den zweiten Blick als pulsierende und moderne europäische Großstadt zeigt.
Mitten in Tirana, gegenüber einem auffälligen Hochhaus, das im Sozialismus wohl noch nicht "Sky Tower" hieß, arbeitet Enver Mehmeti, Geschäftsführer der Reiseagentur "albtours". Mehmeti ist einer der führenden Werber Albaniens. "Das Land ist überreich an Kultur, Geschichte und Natur", sagt er, "und ein Produkt, das neu auf dem Markt ist und schon deswegen interessant." Tatsächlich zählt Albanien auch laut einer Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts Oxford Economic Forecasting (OEF) zu einem der Top-Ten-Länder, deren Tourismus-Industrie bis 2016 mit jährlichen Wachstumsraten bis zu zehn Prozent rechnen kann.
Die Zukunft hat längst begonnen. Im vergangen Jahr wurden mit 600.000 Ankünften von Ausländern fast ein Drittel mehr gezählt als 2005. Die meisten kommen zwar immer noch als Nachbarn oder Verwandte aus dem Kosovo oder Mazedonien. Aber die Zahl der Westeuropäer steigt. Auf Platz drei und vier der Einreisestatistik stehen Italiener und Griechen, auf Platz fünf die Briten. Dann kommen die Deutschen: 22.545 wagten sich 2006 nach Albanien, zwei Drittel mehr als 2005. Die Branche hat prompt reagiert: Der Billiganbieter Germanwings fliegt ein Mal pro Woche von Köln nach Tirana. Gelandet wird dort auf dem Mutter-Teresa-Flughafen, den das deutsche Unternehmen Hochtief vor wenigen Monaten fertig gestellt hat.
Enver Mehmeti sagt aber noch etwas: "Der Tourismus ist der einzige Weg für Albanien sich zu entwickeln." So oder so ähnlich, sagt es jeder hier: Hotelbesitzer, Verkäufer von Bustickets, Studenten. Aber auch die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), die in Albanien mit drei Büros der Entwicklung touristischer Infrastruktur auf die Sprünge hilft - in einem Land, in dem bis heute nicht einmal die Hauptstadt eine Tourist Information oder auch nur in nennenswertem Umfang Straßen- oder Hinweisschilder kennt.
Die Hoffnungen, die sich in dem bis 1991 nahezu vollständig von der Außenwelt abgeschotteten Land auf den Tourismus richten könnten, sind unermesslich, die Vision unermesslich optimistisch. Bereits heute lebt jeder zehnte Albaner von einer Tourismus-Industrie, die mit jener in den Nachbarländern Kroatien und Griechenland überhaupt nicht zu vergleichen ist. 69 Prozent der Einkünfte aus dem Außenhandel, so sagt es die Statistik, sollen 2006 durch Tourismus ins Land gebracht worden sein. Damit es mehr werden, baut jeder, der es sich irgendwie leisten kann, ein Hotel, auch der Zustrom von Personal in die Branche ist immens. An nahezu allen Universitäten im Land werden Tourismus-Fachkräfte ausgebildet. "Das ist die Zukunft, das wollen alle werden", sagt eine junge Frau an der Universität von Tirana, "ein bisschen ist es so als wollten wir uns die Welt, die wir solange nicht betreten durften, nun mit allen Mitteln zu uns holen wollen."
Das klingt nicht nur nach Kalkül, sondern so romantisch, dass es einen anrührt, und vielleicht ist es ja auch realistisch. Dennoch ist die Konkurrenz unter den osteuropäischen Ländern enorm - alle wollen Gäste, Devisen, Zukunft. Kroatien liegt nebenan und greift mit mehr als zehn Millionen Touristen jährlich einen großen Teil genau jener Strandtouristen ab, die Albanien gerne hätte. Und unter den Top-Ten-Destinationen der Oxforder Forscher finden sich neben Albanien und Kroatien auch Montenegro und Rumänien.
So ist die Angst zu scheitern nahezu ebenso groß wie die Hoffnung auf den Aufschwung. "Wer soll in all die Zimmer einziehen?", fragt die Rezeptionistin in Sarandas bisher einzigem Fünf-Sterne-Hotel, das im vergangenen Jahr von der albanischen Besitzer-Familie an einen saudischen Großinvestor verkauft wurde. Früher, sagt die 26-Jährige, sei Saranda eine entzückende kleine Hafenstadt gewesen: "Und heute, sehen Sie doch, überall Ruinen!"
Auch Eduard Ahmeti ist sich alles andere als sicher, dass die Zukunft so rosig wird wie alle sich gerne weismachen. Weil das Hafen-Café nicht genug Geld abwirft jobbt er nebenbei an einer Tankstelle. "Das machen alle hier", sagt er, während er seinen weißen Mercedes zu seinem Zweitjob lenkt, "wir warten auf morgen und leben über unsere Verhältnisse." Warum das so ist, dafür hat er auch eine Erklärung. "Wir haben harte Zeiten hinter uns. Worauf sonst sollen wir hoffen?"