DDR
Erich Loest über die Tauwetter-Periode Mitte der 50er-Jahre und die Rückkehr des Stalinismus
Die fünfstündige Rede von Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der sowjetischen Kommunisten im Februar 1956 löste kein sofortiges Erdbeben aus, dazu wurde sie zu geheim gehalten. Doch es gab untergründige und nachhaltige Erschütterungen, besonders in der Generation jüngerer, gutgläubiger Anhänger des Sozialismus. In ganz Osteuropa war das so - in Polen, in Ungarn, auch in der DDR. Reformen schienen damals unaufhaltsam. Stalin, drei Jahre zuvor gestorben, wurde nun tatsächlich verantwortlich gemacht für "fehlerhafte Entwicklungen" seit den 30er-Jahren. Sein Terror hatte unvorstellbar viele Opfer gefordert, nicht nur in den Reihen der eigenen Partei.
Über die Erschütterungen und nachfolgenden "Fehlerdiskussionen" unter jungen DDR-Intellektuellen berichtet einer der letzten Zeitzeugen, der 81-jährige Leipziger Schriftsteller Erich Loest, in seinem neuen Buch. Der Titel "Prozesskosten" ermuntert, den Text als politische Bilanz des Autors zu lesen, als Erinnerung an all jene, die damals Fragen stellten, Reformen forderten, Widerspruch wagten und dafür bezahlt haben mit Inhaftierung oder Vertreibung.
Neuartig an dieser Darstellung ist, dass sie die Akteure und deren Geschichten im Zusammenhang betrachtet. Den "Donnerstagskreis" im Umfeld des Berliner Aufbau-Verlages mit Verlagsleiter Walter Janka, dem Philosophen Wolfgang Harich, mit Fritz-Jochen Raddatz, Gustav Just und Heinz Zöger ebenso wie die Zirkel von Hallenser und Leipziger Intellektuellen und Künstlern, in denen Erich Loest verkehrte.
Junge Slawisten, zurückgekehrt vom Studium aus der Sowjetunion, brachten den heißen Gesprächsstoff mit nach Leipzig, wo Loest und Freunde ein neues Kabarett-Programm für die "Pfeffermühle" schrieben. Polnische Kollegen berichteten von Streiks. "Es wird Zeit, dass Ulbricht verschwindet", so der Tenor der hitzigen Debatten. In Ungarn brach ein Aufstand aus, doch das "Neue Deutschland" sprach von Konterrevolution, Informationen brachte nur das Westradio.
Als die sowjetischen Panzer durch Budapest fuhren, hätte dies ein Warnsignal für die Reformer sein müssen, urteilt Loest heute. Doch damals meinten er und seine Freunde, "der Fortschritt der Geschichte sei nicht aufzuhalten" und debattierten weiter. Das "Tauwetter" war auf der 29. ZK-Tagung der SED von Ulbricht für beendet erklärt worden: "Keine Fehlerdiskussionen, Genossen!" - die Parteibasis erfuhr davon im November 1956 nichts. "Bittere Folgen (...) konnten so nicht ausbleiben", resümiert Loest die kommenden Abstrafungen. Kampagnenartig wurden die "Revisionisten" verfolgt, Janka und Harich zu hohen Haftstrafen verurteilt wie später viele andere. "Langsam kroch die Gefahr auf mich zu" schreibt Loest. Auf seinen Parteiausschluss im November 1957 folgte drei Tage später die Verhaftung.
Dieses lange im Dunkeln liegende Kapitel der DDR-Geschichte ist seit 1990 schrittweise beleuchtet worden, zuletzt sehr gründlich von Guntolf Herzberg (Anpassung und Aufbegehren, 2006). Loests Buch jedoch vermittelt in besonders anschaulicher Weise und mit einer emotionalen Intensität, die Historiker schwerlich aufbringen können, einen Einblick. Wer die Erinnerungen von Janka, Harich, Just, Zwerenz oder Raddatz zum Thema kennt, wird sie hier wiederfinden. Loest zitiert aus ihnen, verfolgt die einzelnen biografischen Stränge, Berührungspunkte und Konflikte. Wie verhielten sich die prominenten Künstler? Was veranlasste Harich, später Janka zu belasten? Loest vermutet, dass Harich mit dem Tode bedroht wurde. Aus dem Mann, der einen demokratischen Sozialismus ohne Ulbricht anvisierte, wurde nach monatelanger Haft in den Stasi-Kellern von Hohenschönhausen ein gefügiger Gefangener. Der "Pesthauch der Moskauer Prozesse" aus den 30er-Jahren, schreibt Loest, er wehte noch 20 Jahre später durch den Ostberliner Gerichtssaal.
Weil viele der Betroffenen heute tot sind, kann der Chronist auch die tragischen Geschichten von Schwäche und Verrat erzählen. Jene des Slawisten Schröder beispielsweise, geständiger Mitangeklagter im Hallenser Prozess, der in der Haft darum bat, später als IM arbeiten zu dürfen.
Loest vermeidet zumeist bitteres Aburteilen, sondern legt seine Sicht auf die Zusammenhänge pointiert dar. Am eigenen Beispiel skizziert er, wie monatelange Verhöre, schlechte Ernährung und Schlafentzug die Widerstandskraft zerrieben. Die Ermittlungsakten des MfS offenbaren, was der "Häftling L." damals nicht wissen konnte: Sein Verteidiger betrügt ihn, "Zelleninformatoren" geben genauestens die Unterhaltungen mit dem Inhaftierten wieder. Auch Skatfreunde, Lektoren und Kollegen behalten später den Entlassenen im Auge, bis er 1981 die DDR verlässt.
"Prozesskosten" ist ein Bericht aus jenen dunklen Gefilden der DDR, deren Existenz sich die meisten ihrer Bürger gar nicht vorstellen konnten. Erich Loest hat dramaturgisch meisterhaft und in sehr lesbarem Stil aufgezeichnet, was ihm und anderen dort im Namen des Sozialismus widerfuhr. Ein klares und sehr wichtiges Buch, das frühe Reformimpulse und ihre gezielte Unterdrückung genau bis in biografische Details beschreibt.
Warum sich jemand dem Verbot der "Fehlerdiskussion" widersetzte, und was überhaupt den DDR-Stalinismus ausmachte - Loest, ein Mann mit ungebeugtem Rückgrat, legt davon eindrücklich Zeugnis ab.
Erich Loest: Prozesskosten. Ein Bericht.
Steidl Verlag, Göttingen 2007; 288 S., 18 ¤