SCHIENENLÄRM
Der Bundestag fordert leisere und gleisschonendere Bremsen auch in alten Zügen
Jedesmal wenn Willi Pusch auf seiner Terrasse sitzt und ein Zug auf der nur 40 Meter entfernten Bahntrasse vorbeidonnert, erhebt er sein Glas. Nicht etwa weil er großer Eisenbahn-Fan ist und sich über jede Bahn freut, als sei es ein seltener Oldtimer. Einen Schluck zu trinken sei schlicht das Einzige, was man bei dem Lärm noch verhältnismäßig problemlos tun könne, erzählt er mit dem Humor des Lärm-Leidgeprüften. "Da braucht man gar nicht erst versuchen, sich zu unterhalten", sagt Pusch, "es ist so laut, dass man sein eigenes Wort nicht einmal mehr versteht."
108 Dezibel (dB) in der Spitze haben Wissenschaftler der Fachhochschulen Bingen und Hannover gemessen - das ist nahezu so laut wie ein startender Düsenjet (120 dB). Selbst die Bahn habe diesen Wert bis auf wenige Dezibel bestätigt. Vier Bahnlinien führen durch das schmale Tal, zwei rechts-, zwei linksrheinisch. "Bei rund 500 Zügen in 24 Stunden kann man sich vorstellen, was hier los ist."
Nachts durchschlafen können im engen Mittelrheintal rund um die Loreley zwischen Koblenz und Rüdesheim deshalb die meisten schon lange nicht mehr. Neben den Erschütterungen, wegen denen die Häuser mittlerweile Risse bekommen und die Menschen Schaumstoffmatten in Schränke und Regale legen, damit Geschirr und Gläser nicht ständig herausstürzen, ist der Lärm, mit dem vor allem Güterzüge den Rhein hinauf- und hinunterstampfen, lebensbestimmend. Mehrmals nachts werde man aufgeschreckt, das Bremsen und Quietschen der Waggons sei besonders durchdringend. "Am nächsten Tag fühlt man sich wie gerädert, die Kinder können nicht schlafen, sind morgens in der Schule nicht konzentriert", berichtet der Trassen-Anrainer.
Dabei ist das Bremsgeräusch nur ein Teil des Bahnlärms. Grundsätzlich lassen sich drei verschiedene Lärmverursacher im Eisenbahnverkehr unterscheiden: Bis zu einer Geschwindgkeit von etwa 40 Stundenkilometern dominieren Antriebgeräusche, jenseits von 250 Stundenkilometern machen aerodynamische Strömungsgeräusche den größten Lärmanteil aus. Bei Geschwindigkeiten zwischen 40 und 250 Stundenkilometern, mit denen die meisten Güter- und Personenzüge durch die Republik rollen, ist das Rollgeräusch, das zwischen Bahnrad und Schiene entsteht, maßgeblich.
Dieses Rollgeräusch wird hauptsächlich durch die Rad- und Schienenrauigkeit verursacht. "Der Vorbeifahrpegel eines Schienenfahrzeugs mit rauen Rädern auf einer rauen Schiene kann bis zu 20 Dezibel höher sein als der eines Fahrzeugs mit glatten Rädern auf einer glatten Schiene", schreibt Professor Eckhard Pache in einem Gutachten für das Umweltbundesamt.
Ursache für die rauen Räder sind die bisher in Güterwaggons eingebauten Grauguss-Bremsklötze, die beim Bremsen auf die Radlauffläche gepresst werden, und diese so stetig aufrauen. Auf der Lauffläche der Räder entstehen unzählige, winzige Kerben, so genannte Riffel. "Aufgrund dieser Riffel werden auch bei ungebremster Fahrt des Wagons durch das Rollen des Rades auf der Schiene sowohl durch das Rad als auch durch die Schiene Schwingungen erzeugt, die als hörbarer Schall, also als Vorbeifahrt- beziehungsweise Rollgeräusch von erheblicher Intensität wahrnehmbar sind", heißt es in dem Gutachten.
Stück für Stück soll das nach dem Willen des Bundestages anders werden. In einem am 21. Juni mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD verabschiedeten Koalitionsantrag ( 16/4562 ) wollen die Parlamentarier den "Schienenlärm ursächlich bekämpfen". Sie fordern analog zur Steigerung des Güterverkehrs auf der Schiene - von 317 Millionen Tonnen im Jahr 2005 auf 343 Millionen Tonnen im Jahr 2006 -, dass "vorhandene Lärmminderungspotenziale ausgeschöpft werden". Konkret bedeutet das: Die Regierung soll sich bei der EU-Kommission dafür einsetzen, dass "die auf europäischer Ebene eingeführten lärmreduzierten Grenzwerte für neue Güterwagen auch von Bestandsgüterwagen schnellstmöglich eingehalten werden, damit Bestandsgüterwagen schnell mit modernen Verbundstoffbremssohlen ausgerüstet werden".
Mit diesen Bremssohlen, im Bahnjargon K-Sohle genannt, werden die Räder nicht aufgeraut, wodurch wiederum die Schienen weniger aufgeraut werden. Das hat zur Folge, dass deutlich weniger Schwingungen entstehen, die das menschliche Ohr als Lärm wahrnimmt. Der Lärm könne, so heißt es im Antrag, nahezu halbiert werden. Ähnlich ist es auch im Gutachten des Umweltamtes nachzulesen. Dort heißt es: Durch den Einbau von anderen Bremsbauarten wie beispielsweise K-Sohlen oder vorzugsweise Scheibenbremsen kann das Rollgeräusch in erheblichem Umfang reduziert werden." Die Abgeordneten fordern außerdem an Lärmemissionen orientierte Trassenpreise und finanzielle Anreize für die Nachrüstung mit K-Sohlen. Zwei Anträge von FDP ( 16/675 ) und Grünen ( 16/2074 ) zum gleichen Thema lehnte die Koalition ab. Die Abgeordneten folgten einer Beschlussempfehlung des Verkehrsausschusses ( 16/5293 ). Für Willi Pusch wird das wohl nicht zwangsläufig ruhigere Nächte bedeuten, dafür sind die Probleme im Mittelrheintal zu vielfältig. Aber, sagt der direkt Betroffene, es ist "zumindest ein kleiner Schritt in die richtige Richtung".