Begehrter ROHSTOFF
Informationen sind Kapital. Für die Gesellschaft und für den Einzelnen.
Als der britische Philosoph Francis Bacon 1597 das Diktum "Wissen ist Macht" prägte, konnte er nicht ahnen, welche Tragweite seine Forderung nach einem praktischen Nutzen von naturwissenschaftlicher Erkenntnis einmal haben wird. Damals war die Naturwissenschaft noch Sache der Philosophie. Nur wenige Gelehrte vermochten Bacons auf Naturbeherrschung gründendem Fortschrittsbegriff zu folgen. Heute ist beinahe jedem die Bedeutung von Wissen als Machtfaktor geläufig. Aus unserer Gesellschaft zieht der besonderen Nutzen, dessen Wissen auf dem Stand der Zeit ist, oder - besser noch - seiner Zeit voraus.
Systematisch haben Industrienationen daraus Kapital geschlagen, sich zu "Wissensgesellschaften" transformiert. Seitdem in den 60er-Jahren der Club of Rome "die Grenzen des Wachstums" konstatierte, ist nachhaltiges Wirtschaftswachstum in "postindustriellen" Ländern an die Wertschöpfung auf immaterielle Güter geknüpft.
An die Bürger von Wissensgesellschaften stellen sich seither zahlreiche Anforderungen. Wissen ist nicht allein für die Wertschöpfung bedeutsam, sondern auch für den Einzelnen und seine Position auf dem Arbeitsmarkt. Aus dem "Lernen fürs Leben" ist "lebenslanges Lernen" geworden. Und wer mit dem Rohstoff Information handelt, muss die Werkzeuge für dessen Weiterverarbeitung beherrschen. "Computer literacy" gilt als neue Kernkompetenz. Wo sich die Halbwertzeit von Wissen immer schneller verringert und Fachkenntnisse binnen drei Jahren veralten, kommt der effizienten Organisation von Wissen eine besondere Bedeutung zu.
Als 1985, lange vor dem Internet-Zeitalter, das deutsche Fernsehen privatisiert wurde, sprach der Filmemacher Alexander Kluge von einer "Industrialisierung des Bewusstseins". Breitbandverkabelung, dezentrale Arbeitsplätze und die "Kommunikation der Warensammlungen untereinander" würden eine "radikale Modernisierung des Industrieverkehrs" bewirken. 20 Jahre später ist dieser hellsichtige Befund Wirklichkeit geworden. Die Verwaltung von Wissen hat sich beschleunigt, globalisiert und ist zur lukrativen Ware geworden. Noch vor 15 Jahren hätten die Wenigsten die Existenz eines milliardenschweren Börsenunternehmens wie Google, das allein von der Wissensorganisation lebt, für möglich gehalten.
Die Bedingungen dafür hat die Globalisierung geschaffen: durch eine umfassende Liberalisierung der internationalen Waren- und Geldströme. Schon ist vom "informationellen Kapitalismus" die Rede. Seine Kennzeichen sind der Handel mit Informationen und Wissen und eine horizontale Unternehmensorganisation in Netzwerken, deren adäquate Basistechnologie das Internet ist. Wirklich neu daran erscheint, dass - neben der ortsunabhängigen Produktion und einer Tauschökonomie in Echtzeit - die dafür eingesetzten Informationstechnologien reflexiver Bestandteil des Ganzen sind: Suchmaschinen ordnen das Wissen, das sie zu Tage befördern, neu an und verleihen ihm, je häufiger danach gesucht wird, eine neue Bedeutung, indem sich das Ranking verändert. Oder die Online-Enzyklopädie Wikipedia: Deren Erfolg ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass zeitgenössisches Wissen viel schneller integriert und bearbeitet werden kann, als dies herkömmlichen Lexika möglich ist.
Diese Produktion populären Wissens bringt Änderungen im Kanon des Wissenswerten mit sich. In den Wiki-Charts rangierten Mitte Juli die "Schlacht von Gettysburg", eine "Liste mit Hunderassen" und die TV-Show "Big Brother" unter den Top Ten der häufigsten Abfragen. Die Größe des Wikipedia-Projekts, das mit über 600.000 Einträgen in der deutschen Version doppelt so viele zählt wie die "Brockhaus Enzyklopädie", hat das Wissen - unabhängig von seiner Qualität - vervielfacht und den Zugang vereinfacht. Auch deswegen ist Wikipedia ein Beispiel für die Demokratisierungsfunktion von digitalen Medien.
Über Jahrhunderte hinweg war Wissen nur einer gesellschaftlichen Elite zugänglich, heute kann jeder daran partizipieren und es sogar mitgestalten. Trotz "Digital Divide", der gesellschaftlichen Spaltung in Internet-Nutzer und "Nonliner", vergrößert sich die Zahl der Teilnehmer an der Wissensgesellschaft immer weiter. Im so genannten "Web 2.0" führen Blogger ihr Online-Tagebuch oder praktizieren alternativen Journalismus. Zeitungsleser mutieren zu Redakteuren und verfassen für eine "Reader's Edition" die Artikel selbst. Podcaster fertigen kleine Hörspiele an und stellen sie zum Herunterladen ins Netz. Der allgemeinen Partizipation sind Tür und Tor geöffnet. Das Internet ist das erste wirkliche Kommunikationsmedium im Brechtschen Sinne: Es erlaubt Rede und Antwort.
Zugleich haben die "Speaker's Corners" im Netz eine nur geschmälerte Bedeutung. Denn an den wahren Kommunikationsverhältnissen ändern sie wenig. Die Reichweiten dieser nutzergenerierten Inhalte entsprechen nur in Ausnahmefällen denen der traditionellen Informationsvermittler. Die Platzhirsche der Medienszene haben ihr Territorium längst besetzt und alle partizipativen Ausdrucksformen inkorporiert. Auf den Webseiten der großen Medienkonzerne kann ebenfalls nach Kräften gebloggt, kommentiert und abgestimmt werden. Die Macht der Marke gilt auch im Netz. Dort haben sich zu den etablierten Labels neue Online-Marken gesellt, die Informationsakkumulation und Wissensverwaltung im großen Stil betreiben: Google, Amazon, Ebay, MySpace und viele mehr.
Wissen war stets an bestimmte Örtlichkeiten gebunden und hat spezifische Formen von Öffentlichkeit hervorgebracht - Klöster, Schulen, Universitäten. Heute trifft sich die digitale Öffentlichkeit in Privaträumen. Das ist neu. Ein globaler Wissensmonopolist wie Google, der von der weltweiten Öffentlichkeit genutzt wird, operiert in einem rein privatwirtschaftlichen Rahmen. Das Unternehmen meldet Besitzansprüche über alle Informationen an, die es sammelt und über seine Nutzer generiert. Plattformen wie MySpace, Second Life oder YouTube, wo Privat-User und kommerzielle Anbieter Schaufenster ihrer Aktivitäten gestalten, sind ebenfalls private Räume, wo geltende Bürgerrechte leicht außer Kraft gesetzt werden können. Eine Denunziation kann ausreichen, um ein Profil zu löschen.
Freie Information und freies Wissen sind so zu Waren geworden, die an privaten, kommerziellen Orten gehandelt werden. Damit ist Wissen nicht nur ein Macht-, sondern in zunehmenden Maße auch ein Wirtschaftsfaktor. Unternehmen wie Google verdienen an der Aufmerksamkeit, die sie anderen Unternehmen verleihen, und lassen sie sich durch Werbung versilbern. Weil der Verwertungsdruck, dem sie sich aussetzen, immer größer wird, ist bereits von einer Industrialisierung des Wissens die Rede. Die so genannte Wissensgesellschaft ist letztlich also immer eine Industriegesellschaft geblieben.
Den Teilnehmern an der Wissensgesellschaft eröffnen sich zunächst die vielen Vorteile. Es ist praktisch, im Internet zu recherchieren, Bücher zu kaufen oder mit auswärtigen Freunden Kontakt zu halten. Nur wenige führen sich die Konsequenzen vor Augen. Wem "gehören" die ehemals gemeinfreien Bücher, die Google einscannt? Anhänger der Open-Source- und Freien Wissensbewegung setzen auf eine neue Wissensordnung, die den gesellschaftlichen Fortschritt vom freien Zugang zum Wissen abhängig macht. Das Wissen aber hat seine Unschuld längst verloren - es ist kommodifiziert worden, ihm haften die Begehrlichkeiten seiner Distributoren an. Wer es "befreien" will, muss das bedenken.
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.