Die Bundesrepublik Deutschland und ihr kleiner nordwestlicher Nachbar haben einiges gemeinsam. Bis zum Westfälischen Frieden gehörten die Niederlande zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Die Religionskriege haben beide Länder geprägt, katholische und evangelische Kirchen halten sich fast gleich stark, obwohl die letztere doch etwas mehr Anhänger zählt. Auch die Parteiensysteme sind ähnlich: Christdemokraten und Sozialdemokraten kämpfen um die erste Stelle, während Liberale, Grüne und in letzter Zeit auch Linkssozialisten als mögliche Koalitionspartner oder als kleinere Konkurrenten eine Nebenrolle spielen dürfen. Koalitionsregierungen sind in beiden Staaten normal, Einparteiregierungen eine Ausnahme, was mit dem Verhältniswahlrecht zusammenhängen dürfte, das in beiden Ländern eingeführt wurde.
Allerdings gibt es außer der Größe - die Bundesrepublik ist etwa fünfmal so groß - wichtige Unterschiede zwischen den beiden Staaten. Das Königtum der Niederlande ist kein Bundesstaat. Seine politische Geschichte verlief wesentlich ruhiger; kommunistische und nationalsozialistische Parteien blieben relativ schwach. Wahrscheinlich gab es deshalb kein Bedarf an einer Sperrklausel für neue Parteien: mit 0,7 Prozent der Stimmen (im Durchschnitt etwa 66 000 Wähler) kann eine Partei schon in das Unterhaus (Tweede Kamer) einziehen. Immerhin zeigen die Grünen und die neue Partei Die Linke, dass die Fünf-Prozent-Hürde in Deutschland auch überwunden werden kann. Nationalistischen und rechtspopulistischen Parteien ist es aber noch nicht gelungen, in den Deutschen Bundestag einzuziehen - nur in einige Landtage haben sie es geschafft. In den Niederlanden waren diese Parteien zwar im 20. Jahrhundert auch kaum erfolgreich, seit 2001 haben sich ihre Chancen aber wesentlich verbessert. Wieso ist das nicht im großen Nachbarstaat der Fall? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. Zuerst aber soll geklärt werden, was mit "populistischen Parteien" überhaupt gemeint ist, um sie besser vergleichen zu können.
Eine knappe und brauchbare Definition gibt die britische Politologin Margaret Canovan: Populismus sei "an appeal to ,the people` against both the established structure of power and the dominant ideas and values of the society". 1 Populisten appellieren also an das Volk, das oft als eine homogene Masse mit identischen Interessen und Werten dargestellt wird. Die etablierten Parteien würden die Interessen der Elite und nicht die des Volkes vertreten. Nur die populistischen Parteien seien bereit und imstande, die Macht dem Volke zurückzugeben, besonders durch ihr Bestreben, eine Direktwahl der politischen Führer zu ermöglichen und Volksentscheide und -begehren zu erleichtern.
In dieser Betrachtungsweise ist Populismus weder ein Politikstil noch eine vollständige Ideologie, sondern eine "partielle" oder "dünne" Ideologie, die leicht mit Bruchstücken von anderen Ideologien wie Sozialismus, Nationalismus, Liberalismus oder Konservatismus kombiniert werden kann. 2 In der Theorie ist Populismus demokratisch, in der Praxis können Populisten genausogut antidemokratisch handeln. Der neuere oder Neo-Populismus, der am Ende des 20. Jahrhunderts überall in Westeuropa aufkam, verband sich meist mit Nationalismus, Wertkonservatismus und manchmal mit Wirtschaftsliberalismus. Dieser wird oft, nicht immer zu Recht, als rechtsextrem abqualifiziert - auch in den beiden Ländern. Hier soll nun versucht werden, Populismus ohne Werturteil zu analysieren.
Die 1964 gegründete Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) war am Anfang nicht eindeutig populistisch, obwohl sie schon im ersten Parteiprogramm die Einführung vom Volksentscheid forderte. 3 In letzter Zeit hat sich der Populismus stärker ausgeprägt - verbunden mit völkischem Nationalismus und sogar Sozialismus. Im neuen Aktionsprogramm stellt die NPD das "herrschende Parteienkartell" und die "liberalkapitalistische Parteienoligarchie" als Feind der "Volksgemeinschaft" dar: "Der multikulturelle Wahnsinn, der vom herrschenden Parteienkartell betrieben wird, ist somit als gezielter Angriff auf die Volksgemeinschaft zu bewerten." 4 Überdies habe das oligarchische Parteienkartell "das demokratische Prinzip der Auslese der Besten (...) abgeschafft". 5 Diese sonderbare - und eigentlich aristokratische - Demokratieauffassung geht aber Hand in Hand mit Forderungen nach Volksentscheid und Direktwahl des Bundespräsidenten. Sogar Richter sollen vom Volk gewählt werden, weil die Rechtsprechung "dem Rechtsempfinden des Volkes Rechnung zu tragen" hat. 6 Die ideologische Radikalisierung hat der NPD zuerst neue Mitglieder, und seit kurzem vielleicht auch neue Wähler eingebracht. Seit 2004 ist sie im Sächsischen Landtag vertreten (mit 12 Abgeordneten; 4 davon sind inzwischen parteilos) und seit 2006 auch im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern (mit 6 Abgeordneten); bei der Bundestagswahl 2005 hat sie (mit 1,6 Prozent der Zweitstimmen) zum ersten Mal seit 1987 besser abgeschnitten als ihre Konkurrenten, die Deutsche Volksunion und Die Republikaner.
Die Deutsche Volksunion (DVU) entstand schon 1971, hat sich aber erst seit 1987 an Wahlen beteiligt; ab und zu mit Erfolg, etwa in Bremen (dort bis heute) und später in Brandenburg und Sachsen-Anhalt (Höhepunkt: 13 Prozent der Zweitstimmen und 16 Mandate im Jahre 1998). Diese Erfolge auf Landesebene hat die DVU wahrscheinlich vor allem ihren professionalisierten Wahlkämpfen und flächendeckenden Plakatierungen zu verdanken, die der Parteichef, Gerhard Frey, teilweise aus seinem Privatvermögen finanziert haben dürfte. 7 Programmatisch hat die DVU sich wenig entwickelt. Wie die NPD fordert die DVU vor allem die Bewahrung der deutschen Identität und deutscher Interessen. Die etablierten Parteien und Politiker seien dabei "im Bund mit der Meinungsindustrie (...) Deutschland in einem Vielvölkerstaat beziehungsweise einer ,Europäischen Union' aufzulösen". 8 Der Populismus bleibt im Parteiprogramm noch ziemlich verschleiert, durchdringt aber eindeutig mehrere Beiträge in der mit der DVU verbundenen und von Frey herausgegeben National-Zeitung. Dort wird etwa geschrieben, dass "die politische Klasse in Politik und Wirtschaft sich im Übermaß bereichert" unter "gänzliche[r] Missachtung des Volkswillens". 9 Die Bundeskanzlerin regiere "gegen das deutsche Volk" und identifiziere sich mit den Interessen Israels und der USA. 10
Die Republikaner (REP) sehen sich eigentlich nicht als Konkurrenten der NPD, sondern der CDU. 11 Die Partei entstand tatsächlich als Abspaltung der CSU im Jahre 1983, hat aber bald die selben Themen wie NPD und DVU aufgegriffen, besonders Kriminalität, Asylanten und Einwanderung. 12 Im Parteiprogramm kombiniert sie Wertkonservatismus und Nationalismus ("Patriotismus" nennen Die Republikaner es selbst) mit Wirtschaftsliberalismus. Die wichtigste Forderung der Partei sei "Bewahrung der deutschen Heimat, keine multikulturelle Gesellschaft, kein Vielvölkerstaat!". 13 Populismus gibt es aber auch hier: die Staatsgewalt sei dem Volk entwendet worden durch "die Monopolisierung politischer Macht bei wenigen Parteien, Übertragung deutscher Hoheitsrechte auf die europäische Bürokratie und den demokratisch nicht legitimierten Einfluss der großen internationalen Konzerne". 14 Deshalb fordert die Partei auch eine Stärkung der direkten Demokratie durch Volksabstimmungen, Erleichterung von Volksbegehren und die Direktwahl des Bundespräsidenten. In der Parteizeitung Zeit für Protest tritt der Populismus oft noch deutlicher hervor, zum Beispiel wenn den "Berliner Parteien" "Misstrauen gegen das eigene Volk" vorgeworfen wird; oder wenn behauptet wird, die Führungskräfte der CDU und CSU "kommen aus demselben Stall wie die rotgrünen Gesellschaftsveränderer" und verhinderten, dass nationale Interessen Vorfahrt haben. 15 Die Republikaner waren 1996 bis 2001 im Landtag von Baden-Württemberg vertreten, sinken seitdem aber sowohl auf Landes- als auf Bundesebene stetig ab.
Dass diese drei Parteien bis jetzt keine Mandate im Bundestag erringen konnten, ist nicht nur ihren inneren Zerwürfnissen und Wetteifereien zuzuschreiben, sondern auch ihrem schlechten Ruf als Neonazis in den Medien. Es hat seit den achtziger Jahren deswegen mehrere Versuche gegeben, eine populistische Partei ohne diesen Ruf aus der Taufe zu heben. Bis jetzt ist das nicht gelungen, obwohl einige dieser neueren Parteien auf Landesebene kurzfristig Erfolg hatten. Die 1993 gegründete Stattpartei gewann im selben Jahr 5,6 Prozent und 8 Mandate in Hamburg mit einem eindeutig populistischen Programm. 16 Ihre Forderungen nach Elementen direkter Demokratie und einer Reform des "Parteienstaates" wurden aber nicht mit ausländerfeindlichem Nationalismus und Wertkonservatismus kombiniert, sondern mit Liberalismus. 17 Etwas weiter rechts ist der weniger erfolgreiche Bund Freier Bürger (BFB) einzustufen, der 1994 von dem ehemaligen FDP-Vorstandsmitglied Manfred Brunner gegründet wurde. 18
Kurzfristig erfolgreich war die Partei Rechtsstaatlicher Offensive (PRO), nach ihrem Gründer Ronald Barnabas Schill auch "Schill-Partei" genannt. Als "Richter Gnadenlos"` hatte sich Schill in den neunziger Jahren in Hamburg einen Namen gemacht. 19 Im Jahre 2000 gründete er die PRO, ein Jahr später zog er mit 24 Parteigenossen in die Bürgerschaft der Hansestadt ein, legitimiert durch 19 Prozent der Wählerstimmen. Im Jahre 2002 versuchte die PRO - eigentlich gegen den Willen Schills - in den Bundestag einzutreten, musste sich aber mit 0,8 Prozent der Zweitstimmen zufriedengeben. Schon im folgenden Jahr fiel die neue Partei auseinander, Schill wurde als Innensenator vom Hamburger Bürgermeister Ole von Beust entlassen und sogar aus seiner eignen Partei ausgeschlossen. 20 Inzwischen hatte die PRO sich in ihrem Grundsatzprogramm eindeutig als populistische Partei entpuppt, indem sie behauptete, dass "sich Machtstrukturen entwickelt [haben], die ihre Partikularinteressen gegen die objektiven Interessen der Mehrheit durchsetzen"; sie meinte sogar, die "etablierten Parteien haben sich unser Land zur Beute gemacht", und die Bürger "sind von den Entscheidungsprozessen weitestgehend ausgeschlossen". 21 Deswegen wollte die PRO den Bundespräsidenten durch das Volk wählen lassen und Volksabstimmungen durchführen. Die PRO ist zur Zeit nicht mehr aktiv, hat aber Nachfolger gefunden, wie die 2007 fast in die Bremer Bürgerschaft eingezogene Wählervereinigung Bürger in Wut (BIW) und den Förderverein für Demokratie und Werte, den der Publizist Udo Ulfkotte auch in diesem Jahr aufzubauen versucht. 22
Die oben erwähnten Parteien lassen sich alle rechts von der Mitte einstufen. Populistische Ideen gibt es aber auch links von der Mitte, etwa bei der Partei "Die Grauen". Diese Partei wurde 1989 gegründet von Trude Unruh, Vorsitzende des Senioren-Schutzbundes Graue Panther, nachdem sie sich im Bundestag von der Fraktion der Grünen getrennt hatte. 23 Sie hat bis jetzt nur auf lokaler Ebene einige Mandate gewinnen können und errang bei der Bundestagswahl 2005 nur 0,4 Prozent der Zweitstimmen. Im 2001 beschlossenem Wahlprogramm (das bis jetzt nicht mehr geändert worden ist) wehrt die Partei sich gegen eine "Entmündigung des Volkswillens" und die "Parteiendiktatur", fordert deshalb Volksentscheide und 50 Prozent der Direktmandate über Selbsthilfeorganisationen (statt Parteien). 24 Es fehlen aber Hinweise auf das "Volk", geschweige denn die "Volksgemeinschaft". Die Grauen dürfen also nicht als "voll-populistische" Partei betrachtet werden.
Das trifft wahrscheinlich auch auf die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) und der aus ihr hervorgegangenen Partei Die Linke zu. Ob sie als populistisch bezeichnet werden soll, ist unter deutschen Politologen umstritten. Gero Neugebauer und Richard Stöss verwenden diese Bezeichnung nicht - mit einer Ausnahme, wenn sie das "Ingolstädter Manifest" vom Parteichef Gregor Gysi analysieren. 25Andreas Schulze hält sie ebensowenig für populistisch. 26 Viola Neu schließt, dass die PDS eine sozialistische Ideologie populistisch umsetze, aber deswegen noch keine "klassische" populistische Partei geworden sei. 27 Frank Decker und Florian Hartleb rechnen die PDS und die neue Linkspartei dagegen eindeutig zu dieser Kategorie. 28 Tatsächlich tritt die PDS wie ihre Nachfolgerin für direkte Demokratie, Volksentscheid und Volksinitiative - aber nicht für die Direktwahl des Bundespräsidenten ein. 29 Die Demokratisierung der Gesellschaft und des Staates seien im Interesse der "Mehrheit der Bevölkerung" gegenüber den "herrschenden Eliten" oder "herrschenden Klassen". 30 Als populistisch könnte auch die Vertretung ostdeutscher Interessen bezeichnet werden. Allerdings redet weder die PDS noch Die Linke vom (deutschen oder ostdeutschen) "Volk". Sie machen klar, dass die moderne kapitalistische Gesellschaft "von wirtschaftlichen und kulturellen Spaltungen geprägt" und also überhaupt keine homogene Masse sei. 31 Die mit der PDS in Die Linke zusammengeschmolzene Wahlinitiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) hat zwar einen anderen Ursprung - sie ist ja eine Abspaltung der SPD -, mischte in ihrem Programm aber auch Populismus und (zum Teil marxistisch geprägten) Sozialismus. 32 Ihr Chef, Oskar Lafontaine, neigt - noch mehr als seine Partei - zum Populismus, etwa wenn er schreibt: "Die Mehrheit des Volkes lehnt die von den Eliten in Parteien und Medien vertretene neoliberale Politik ab." 33
Die Linke hat bei der letzten Bundestagswahl 8,7 Prozent der Stimmen und 54 Mandate errungen, die rechtspopulistischen Parteien zusammen nur 2,1 Prozent und keine Mandate. Decker und Hartleb kann also nur zugestimmt werden, dass der Linkspopulismus in Deutschland bessere Chancen hat als der Rechtspopulismus. 34
Im 20. Jahrhundert haben populistisch angehauchte Parteien in den Niederlanden ebenso nur kurzfristig Erfolg gehabt. In den sechziger und siebziger Jahren war die Bauernpartei mit einigen Abgeordneten im Parlament vertreten, in den achtziger und neunziger Jahren hat Hans Janmaat (zuerst für die Zentrumpartei, später für die Zentrumdemokraten) dort seine (relativ liberal-)nationalistischen Ideeen im populistischen Stil ausgetragen. 35 Im Jahre 1994 ist es auch der Sozialistischen Partei (Socialistische Partij, SP) gelungen, mit einem populistischen Wahlkampf - "Wähle dagegen, wähle SP!" war die Losung - zwei Sitze im Unterhaus zu gewinnen. Die SP war 1971 als Kommunistische Partei der Niederlande (marxistisch-leninistisch) gegründet worden, hatte aber nacheinander den Maoismus, den Leninismus und am Ende der neunziger Jahre sogar den Marxismus abgeschüttelt.
Der niederländische Populismus kam erst 2002 zum Durchbruch. Die SP kehrte mit neun Abgeordneten ins Parlament zurück und zwei Neulinge, Leefbaar Nederland (Lebenswerte Niederlande, LN) und Lijst Pim Fortuyn (Liste Pim Fortuyn, LPF) gewannen aus dem Stand zwei beziehungsweise 26 Mandate im Unterhaus, das insgesamt 150 Sitze hat. Fast ein Viertel der niederländischen Wähler hatte sich für eine dieser drei Parteien entschieden. Die Partei Leefbaar Nederland war aus Kommunalparteien (mit ähnlichen Namen, wie Leefbaar Utrecht und Leefbaar Hilversum) hervorgegangen, die den Bürgern die Macht zurückgeben möchten, die ihnen die etablierten Parteien und ihre Berufspolitiker vermeintlich abgenommen hätten. 36 Ihre Lösung: Direktwahl der Bürgermeister und des Ministerpräsidenten, und (natürlich) Volksabstimmungen.
Im November 2001 hatten die Parteimitglieder den bekannten aber auch umstrittenen Publizisten und Soziologen Pim Fortuyn zum Spitzenkandidaten gewählt. Fortuyn hatte vor einigen Jahren mit seinem Buch "Wider die Islamisierung unserer Kultur" einiges Aufsehen erregt. Seine Kritik der islamischen Kultur und der multikulturellen Gesellschaft fanden nach den Attentaten vom 11. September 2001 mehr Anklang. Seine charismatische und medienwirksame Persönlichkeit trugen auch dazu bei, die Tabuisierung dieser Themen in der niederländischen Konsensgesellschaft zu durchbrechen. 37 Ihm gelang es aber nicht, den Vorstand der neuen Partei Leefbaar Nederland zu überzeugen. Es kam zum Bruch im Februar 2002, drei Monate vor den Parlamentswahlen. Fortuyn gründete darauf die Liste Pim Fortuyn und führte einen regen und viel beachteten Wahlkampf - der jedoch neun Tage vor der Wahl mit der Ermordung Fortuyns durch einen linken Tierschützer ein dramatisches Ende nahm. Nach dem Wahlsieg ließ seine Partei sich auf eine Regierungskoalition ein (mit Christdemokraten und Liberalen). Ohne formale Parteiorganisation, ohne strategisches Zentrum, ohne ideologische Einheit oder Parteikultur und ohne ihren charismatischen Führer zeigte die LPF sich diesen Herausforderungen aber nicht gewachsen und fiel innerhalb von vier Monaten auseinander. Bei Neuwahlen im Januar 2003 verlor sie sechzehn Mandate. Aber auch in der Opposition konnte sie die Reihen nicht schließen. Vier Jahre später erwarb die Partei nur 0,2 Prozent der Stimmen. Die Partei Leefbaar Nederland war ebenso auseinandergefallen und schon 2003 wieder aus dem Parlament verschwunden.
Der Populismus dagegen verschwand nicht aus dem niederländischen Unterhaus. Teilweise regt er sich noch bei der SP, obwohl sie sich der Sozialdemokratie angenähert hat und bei der Wahl 2006 sogar 25 Sitze gewinnen konnte. Noch populistischer ist die Partei für die Freiheit (Partij voor de Vrijheid, PVV), die im Wahljahr von einem unabhängigen Mitglied des Unterhauses, Geert Wilders, gegründet wurde. Wilders war 2004 aus der liberalen Volkspartei für Freiheit und Demokratie (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie, VVD) ausgetreten, weil er bedingungslos gegen den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union Front machte. Seine unverblümte Islamkritik zog Bedrohungen durch fanatische Moslems nach sich, weshalb Wilders überall und ununterbrochen bewacht werden musste. Damit wurde er in bestimmten Kreisen als "Märtyrer" betrachtet, um Stimmen zu gewinnen. 2005 startete er - wie auch die SP - eine Kampagne gegen die europäische Verfassung. Die Populisten hatten Erfolg: Mehr als 63 Prozent der Wähler lehnten die Verfassung in der (ausnahmsweise abgehaltenen) Volksabstimmung ab. Bei der Parlamentswahl 2006 gewann die von Wilders straff geführte PVV auf Anhieb 6 Prozent der Stimmen und neun Mandate. Im kurzen Wahlprogramm macht sich der Populismus sofort bemerkbar: "Die politische Elite in den Niederlanden negiert systematisch die Interessen und Probleme des Bürgers." 38 Deswegen forderte die Partei unter anderem die Einführung von Volksabstimmungen und die Direktwahl des Ministerpräsidenten und von Bürgermeistern. Außerdem wollte sie für die nächsten fünf Jahre den Bau von Moscheen unterbinden und der Einwanderung aus Marokko und der Türkei Einhalt gebieten. Obwohl eindeutig konservativ und nationalistisch, bezog Wilders sich selten auf Begriffe wie "Volk" oder "Volksgemeinschaft" - möglicherweise wegen seines liberalen Hintergrunds.
Wie können die unterschiedlichen Erfolge der deutschen und niederländischen Populisten erklärt werden? Erstens erleichtert das niederländische Wahlsystem den Einzug ins Parlament: 66 000 Wähler sind einfacher zu mobilisieren als 2 400 000. Zweitens waren - wenigstens bis vor kurzem - die politische Kultur und das Parteiensystem in den Niederlanden mehr konsensorientiert und weniger polarisiert als in der Bundesrepublik. Zwar war es nicht einfach, diesen Konsens zu durchbrechen, besonders in Bezug auf tabuisierte Themen wie der multikulturellen Gesellschaft oder dem Nationalismus; aber wenn es gelang, erschloss sich dadurch ein großes Wählerpotenzial. Fortuyn gelang es, weil er über genügend Charisma verfügte. Den deutschen Populisten Schill, Brunner, Schlierer, Frey und Voigt fehlt dieses offenbar, wenigstens in diesem Ausmaß. Außerdem mussten sie fast immer miteinander konkurrieren, während Fortuyn 2002 konkurrenzlos war. Für Wilders war die Lage 2006 nicht ganz so einfach, aber er konnte seine Bekanntheit und sein "Märtyrertum" im Wahlkampf wirksam ausnutzen. Überdies stand seine - noch unbescholtene - Partei fest geschlossen hinter ihm, während seinen Konkurrenten, d.h. der LPF und ihren Abspaltungen, ihre zerstrittene Vergangenheit anhaftete. Das trifft wahrscheinlich auch auf viele deutsche rechtspopulistische Parteien zu. Sie bleiben also voraussichtlich weiterhin draußen vor der Tür stehen, während ihre niederländischen Schwestern gerade über die Schwelle getreten sind.
1 Die Forschung
für diesen Beitrag wurde teilweise finanziert von der
Niederländischen Organisation für wissenschaftliche
Forschung (NWO). Außerdem möchte ich mich bei Dr.
Barbara Wasner (Universität Passau) für ihre Hilfe
bedanken. Margaret Canovan, Trust the People! Populism and the Two
Faces of Democracy, in: Political Studies, 47 (1999) 1, S. 2 -
16.
2 Vgl. Hans-Jürgen Puhle, Zwischen
Protest und Politikstil: Populismus, Neo-Populismus und Demokratie,
in: Nikolaus Werz (Hrsg.), Populismus. Populisten in Übersee
und Europa, Opladen 2003.
3 Das Parteiprogramm, das 1967
verabschiedet wurde, ist reproduziert in der kritischen Studie von
Hans Maier und Hermann Bott, Die NPD - Struktur und Ideologie einer
"nationalen Rechtspartei", München 1968(2), S. 65 - 87.
4 NPD Aktionsprogramm, in:
www.npd.net/medien/pdf/aktionsprogramm.pdf (1. 9. 2005), S.
13.
5 Ebd., S. 43.
6 Ebd., S. 45.
7 Vgl. Front der Frustrierten, in: Der
Spiegel vom 4. 5. 1998, S. 28 - 32; Andreas Schulze, Kleinparteien
in Deutschland. Aufstieg und Fall nicht-etablierter politischer
Vereinigungen, Wiesbaden 2004, S. 98 - 103.
8 DVU Parteiprogramm, in:
www.dvu.de/DVU-Pro gramm/dvu-programm.html (26. 6. 2007), S.
2.
9 Wahlen im Zeichen des
Parteienverdrusses: Warnsignal für die Herrschenden, in:
National-Zeitung vom 31.3. 2006, in:
www.national-zeitung.de/Artikel_06/NZ14_3.html (28. 6. 2007).
10 Kann Merkel gegen das deutsche Volk
regieren? Ihre umstrittene Identifizierung mit Israels Interessen,
in: National-Zeitung vom 24. 3.2006, in: www.
national-zeitung.de/Artikel_06/NZ13_3.html (28. 6. 2007).
11 So Michael Paulwitz, Pressesprecher
der Republikaner, in einem Interview mit dem Autor, Stuttgart, 22.
11. 2005.
12 Vgl. Richard Stöss, Die
"Republikaner": woher sie kommen, was sie wollen, wer sie
wählt, was zu tun ist, Köln 1990, S. 15 - 22; A. Schulze
(Anm. 7), S. 104 - 109.
13 Bundesparteiprogramm Die
Republikaner, Berlin 2002, in: www.rep.de/upload/CMS/Die_Republika
ner/pdf/programm_pdf_neu.pdf (28. 6. 2007), S. 14.
14 Ebd., S. 5.
15 Misstrauen gegen das eigene Volk,
in: Zeit für Protest, (2005) 3 - 5, S. 2; Unser Volk zuerst!
Auf dem Weg zur geistig-kulturellen Wende, in: Zeit für
Protest, (2005) 8 - 9, S. 1.
16 Vgl. Frank Decker, Parteien unter
Druck. Der neue Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien,
Opladen 2000, S. 170 - 177; A. Schulze (Anm. 7), S. 80 - 82.
17 Vgl. Das sind wir. Für eine
Reformpolitik. Eine Information von Stattpartei Die
Unabhängigen, in: www.statt-partei.de/downloads/dassindwir.pdf
(25. 8. 2005); Stattpartei Die Unabhängigen, Programm
Bundesvereinigung, in:
www.statt-partei.de/downloads/programmbund.pdf (25. 8. 2005).
18 Vgl. A. Schulze (Anm. 7), S. 201 -
231; Freiheit braucht Mut, Grundsatzprogramm Bund Freier
Bürger Die Freiheitlichen, München 1995.
19 Vgl. Marco Carini/Andreas Speit,
Ronald Schill. Der Rechtssprecher, Hamburg 2002, S. 11 - 35.
20 Vgl. Frank Decker, Rechtspopulismus
in der Bundesrepublik Deutschland: Die Schill-Partei, in: N.Werz
(Anm. 2), S. 232 - 241; A. Schulze (Anm. 7), S. 82 - 85.
21 Grundsatzprogramm Partei
Rechtsstaatlicher Offensive/Offensive D ,Gesunder Menschenverstand
in die deutsche Politik!`, in:
www.offensived-bund.de/downloads/pdf/programm.pdf (26. 8. 2005) S.
9, bzw. S. 11.
22 Die provisorische Web-Adresse
lautet: www.muslim-unrecht.de/1.html (28. 6. 2007).
23 Vgl. Dirk van den Boom, Politik
diesseits der Macht? Zu Einfluss, Funktion und Stellung von
Kleinparteien im politischen System der Bundesrepublik Deutschland,
Opladen 1999, S. 141 - 150.
24 Die Grauen, 20 Wahl-Programm-Punkte
2002 - 2006 für 16 Bundesländer, in:
www.die-grauen.de/antrag/20punkte.htm (5. 7. 2007), S. 2, 17.
25 Vgl. Gero Neugebauer/Richard
Stöss, Die PDS: Geschichte. Organisation. Wähler.
Konkurrenten, Opladen 1996, S. 95.
26 Vgl. A. Schulze (Anm. 7), S. 302 -
340.
27 Vgl. Viola Neu, Die PDS: Eine
populistische Partei?, in: N. Werz (Anm. 2), S. 270 - 271.
28 Vgl. Frank Decker/Florian Hartleb,
Populismus auf schwierigem Terrain. Die rechten und linken
Herausfordererparteien in der Bundesrepublik, in: Frank Decker
(Hrsg.), Populismus. Gefahr für die Demokratie oder
nützliches Korrektiv?, Wiesbaden 2006, besonders S. 206 -
211.
29 Noch nicht sehr konkret in: Programm
der Partei des Demokratischen Sozialismus, Berlin 1993, S. 8 f.;
deutlich in: Programm der Partei des Demokratishen Sozialismus,
Berlin 2003, S. 23, 50; auch in: Die Linke, Programmatische
Eckpunkte, III, in:
www.die-linke.de/partei/dokumente/programmatische_eckpunkte/ (2. 7.
2007).
30 Programm der Partei des
Demokratischen Sozialismus, Berlin 2003, S. 8, 10.
31 Die Linke, Programmatische
Eckpunkte, I, in:
www.die-linke.de/partei/dokumente/programmatische_eckpunkte/ (2. 7.
2007).
32 Vgl. Arbeit und soziale
Gerechtigkeit - Die Wahlalternative WASG, Programm für eine
bessere Zukunft, Fürth 2005.
33 Oskar Lafontaine, Politik für
alle. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft, Berlin
2005, S. 164f.
34 Vgl. F. Decker/F. Hartleb (Anm. 28),
S. 211 - 213.
35 Für eine kurze Übersicht
vgl. Paul Lucardie, Populismus im Polder: Von der Bauernpartei bis
zur Liste Pim Fortuyn, in: N. Werz (Anm. 2).
36 Vgl. Leefbaar Nederland, Leefbaar
Nederland komt er NU aan! (Wahlprogramm 2002), in: Joop van
Holsteyn u.a. (Hrsg.), Verkiezingsprogramma's 2002 & 2003,
Amsterdam 2003, S. 311 - 313.
37 Dass diese Themen (Islam und
multikulturelle Gesellschaft) in den Niederlanden mehr als in
Deutschland tabuisiert waren, wird plausibel gemacht von Frank
Eckhardt, Pim Fortuyn und die Niederlande. Populismus als Reaktion
auf die Globalisierung, Marburg 2003, S. 85 - 98.
38 Partij voor de Vrijheid,
Verkiezingspamflet, in: Huib Pellikaan u.a. (Hrsg.), Verkiezing van
de Tweede Kamer der Staten Generaal 22 november 2006:
verkiezingsprogramma's, Amsterdam 2006, S. 407 (aus dem
Niederländischen übersetzt).