Libanon
Ein Jahr nach dem Krieg ist das Land noch lange nicht befriedet. Das verheißt nichts Gutes für die Präsidentenwahl.
Über den Grabsteinen weht neben der libanesischen Fahne das gelbe Tuch der Hisbollah, der wichtigsten schiitischen Partei im Libanon. Und auch die Anhänger des christlich-maronitischen Exgenerals Michel Aoun von der Freien Patriotischen Bewegung (FPM) haben im südlibanesischen Städtchen Qana ihr flatterndes Symbol in den Gedenkstein gesteckt, der an die 27 Toten des israelischen Luftangriffs vom Juli 2006 erinnert: In grellem Orange leuchtet das Erkennungszeichen des Präsidentschaftsanwärters der Opposition beim ersten Wahlgang im Parlament am 25. September. Seitdem der frühere Oberbefehlshaber der libanesischen Armee Aoun im Februar 2006 ein Bündnis mit Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah einging, kann er sich der Unterstützung von dessen Abgeordneten im Parlament sicher sein - ein schiitisch-maronitischer Pakt, in der Geschichte der Zedernrepublik seit Ende des Bürgerkriegs 1990 einmalig.
Doch das konfessionsübergreifende Bündnis hat neue Gewalt nicht verhindern können: Erst am vergangenen Mittwoch kam der Parlamentarier Antoine Ghanem bei einem Anschlag in Beirut ums Leben - bereits die achte antisyrische Persönlichkeit, die seit dem Mord an Expremierminister Rafik Hariri im Februar 2005 umgebracht wurde.
Dass Ghanem Christ war, dürfte dabei weniger eine Rolle gespielt haben als seine klare Positionierung gegen die langjährige Protektoratsmacht im Libanon, Syrien. Die US-Regierung, EU-Politiker ebenso wie Libanons Premierminister Fuad Siniora machten unmittelbar nach dem Anschlag die Führung in Damaskus für den Mord verantwortlich. Ziel sei es, die durch den Tod Ghanems auf nur noch 68 von 128 Sitzen reduzierte parlamentarische Mehrheit des Regierungsbündnisses weiter zu dezimieren. Der Anschlag, so Siniora, richte sich gegen alle Libanesen, nicht gegen Angehörige einer bestimmten Konfession.
Auch auf dem kleinen Gräberfeld in Qana wird das Bemühen um religionsübergreifende Symbolik deutlich: Christliche Trauerkerzen zieren die Mauer, die den Friedhof umrandet. Darunter große Bilder der meist kindlichen muslimischen Opfer des im Libanon nur als "zweites Massaker von Qana" bezeichneten Angriffs vom 30. Juli 2006: Schon zehn Jahre zuvor, im April 1996, hatten israelische Soldaten beim Bombardement eines Stützpunktes der Libanon-Schutztruppe der Vereinten Nationen (Unifil) in Qana mehr als 100 Flüchtlinge getötet.
Gemeinsam mit seiner Tochter wohnt Ibrahim Schalhub direkt am Rande des Friedhofs, der erst Anfang dieses Jahres fertig gestellt wurde. 15 Angehörige hat er bei dem Angriff im Sommer 2006 verloren, darunter seinen Bruder. Zumindest indirekt macht der alte Mann die vom Westen unterstützte Regierung für die vielen Toten verantwortlich. Nicht einmal Geld habe er bekommen zur Behebung der Schäden, die das Haus während des 34-tägigen Krieges mit Israel erlitt, sagt er. "Eine Delegation von Sinioras Anhängern würden wir bei uns nicht empfangen", fügt seine ganz in Schwarz gekleidete Tochter Scharafieh unversöhnlich hinzu. Eine Haltung, wie sie viele der auf eine Million geschätzten libanesischen Schiiten einnehmen.
Schon während des Bürgerkrieges waren die Angehörigen der noch vor Sunniten und Maroniten größten der 18 Konfessionen des Landes die Hauptleidtragenden des Konflikts. Unterstützung in der Not sicherten schon damals nicht staatliche Stellen, sondern die Amal-Bewegung des heutigen Parlamentspräsidenten Nabih Berri und die in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre mit iranischer Unterstützung entstandene Hisbollah zu. Das Gefühl, sich nur auf die Repräsentanten der eigenen Glaubensgruppe verlassen zu können, setzte sich nach Ende des Juli-Krieges 2006 fort: Unmittelbar nach Verkündung des Waffenstillstandes durch Resolution 1701 des Uno-Sicherheitsrats Mitte August forderte der maronitische Präsidentschaftsanwärter Aoun den Rücktritt Sinioras und die Bildung einer "Regierung der nationalen Einheit". Im vergangenen November schließlich vollzog auch die bis dahin im Kabinett vertretene Hisbollah den Bruch mit dem sunnitischen Premierminister: Nasrallah berief seine Minister aus der Regierung zurück, Vertreter von Berris Amal sind seitdem ebenfalls nicht mehr in der Exekutive vertreten. "Es gibt keine Annäherung; alle beharren auf ihrer Position", fasst Ibrahim Schalhub die Krise treffend zusammen, die mit der Ermordung des Industrieministers Pierre Gemayel und der Errichtung eines Protestcamps am Fuße von Sinioras Regierungssitz im Dezember vergangenen Jahres weiter eskalierte.
Seitdem sind alle Vermittlungsversuche zwischen Regierung und Opposition gescheitert. Bei Straßenkämpfen zwischen Siniora- und Nasrallah-Anhängern gab es im Januar rund um Beirut und in der nordlibanesischen Hafenstadt Tripoli sieben Tote. Wie der Mord an Ghanem vorige Woche und das Attentat auf den ebenfalls dem Regierungsbündnis angehörenden Abgeordneten Walid Eido im Juni zeigen, ist eine weitere Eskalation nicht ausgeschlossen.
So ist wenige Tage vor der Präsidentenwahl immer noch unklar, ob die Abgeordneten angesichts eines fehlenden Kompromisskandidaten für die Nachfolge von Präsident Emile Lahoud überhaupt im Parlament erscheinen werden. Da weder die Opposition noch Siniora und seine Mitstreiter über die von der Verfassung für den ersten Wahlgang vorgeschriebene Zweidrittelmehrheit der Parlamentarier verfügen, könnte der mit Nasrallah und Aoun verbündete Parlamentspräsident Berri darauf setzen, die Oppositionsabgeordneten zum Boykott der Abstimmung aufzufordern.
Die Wochen bis zum Auslaufen des Mandats Lahouds Ende November dürften so schnell zur kritischsten Periode in der an schwierigen Phasen nicht armen Nachkriegsgeschichte des Libanon avancieren. Zwar hat das so genannte 14.-März-Bündnis rund um Regierungschef Siniora (benannt nach dem Datum der größten Demonstration gegen die syrische Protektoratsmacht im Frühjahr 2005) bislang darauf verzichtet, sich hinter einem zugkräftigen eigenen Frontmann zu scharen. Der junge Nassib Lahoud, der im Spätsommer seine Kandidatur bekannt gab, gilt lediglich als Zählkandidat - immerhin ein Indiz dafür, dass Siniora und seine Verbündeten doch noch zur Unterstützung einer auch von der Opposition getragenen Persönlichkeit bereit wären. Doch die aggressive Rhetorik der 14.-März-Führungsfiguren Walid Jumblatt und Samir Geagea lässt auf einen unversöhnlichen Kurs schließen.
Während Saad Hariri, der Sohn des im Februar 2005 wahrscheinlich mit syrischer Unterstützung ermordeten Expremierministers, sich bislang bedeckt hält, setzen die erst nach Ende des Bürgerkriegs 1990 zu Politikern gewandelten früheren Warlords weiter auf Konfrontation: Eine Initiative Berris von Anfang September, auf die Forderung nach Bildung einer "Regierung der nationalen Einheit" zu verzichten, falls sich Hariri, Jumblatt, Siniora und ihre Verbündeten zur Wahl eines auch von der Opposition unterstützten Präsidentschaftskandidaten bereit erklärten, lehnen sie ab. Eher sollte das Parlament in einem zweiten Wahlgang mit einfacher Mehrheit einen Regierungsvertreter wählen, so Jumblatt - ungeachtet der mangelnden Legitimität eines solchen Präsidenten.
Hariri, aber auch die Opposition um Berri und Nasrallah haben als letzten Ausweg die Wahl des derzeitigen Oberbefehlshabers der libanesischen Armee, Michel Sleiman, zum Übergangspräsidenten ins Spiel gebracht. Allerdings müsste für einen solchen Schritt die Verfassung geändert werden - ein Vorgehen, das zumindest die stramm die Siniora-Regierung unterstützende US-amerikanische Administration bislang ablehnt.
Die Zeit für einen Kompromiss läuft den libanesischen Akteuren unaufhaltsam davon. Zweieinhalb Jahre nach der "Zedernrevolution", die auf die Ermordung Hariris folgte und den Abzug der syrischen Truppen bewirkte, ist aller Optimismus auf eine selbst bestimmte Entwicklung dahin - wieder verlässt sich die politische Klasse auf konkurrierende ausländische Mächte anstatt ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ein Stellvertreterkrieg zwischen der Hisbollah-Schutzmacht Iran und den Vereinigten Staaten, fürchten viele, könnte das Ergebnis sein.
Auch auf der keine 90 Minuten langen Fahrt aus Qana nach Beirut sind die Zeichen der Spaltung unübersehbar: In der südlichen Hafenstadt Tyros noch lächeln die schiitischen Oppositionsführer Nasrallah und Berri die Passanten von Plakaten an, vierzig Kilometer nördlich dann, in Hariris Geburtsstadt Saida, gehören die Plakatwände ganz dem Patron der sunnitischen Gemeinschaft.
Direkt auf den Serail zu, Sinioras Regierungssitz im Herzen der Hauptstadt, führt die Autobahn aus dem Süden. Doch seit Errichtung der Protestcamps im vergangenen Dezember haben im Zentrum Beiruts andere Herren das Sagen als der nach dem "Beiruter Frühling" 2005 an die Macht gekommene Sunnit Siniora: Wieder lächeln Berri und Nasrallah von einem großen Plakat herab, ein paar Schritte weiter sitzen zwei in Schwarz gekleidete Männer, die kontrollieren, wer das Gelände betritt. Vor einem dreiviertel Jahr übernachteten noch Tausende in der Zeltstadt, heute sind es lediglich ein paar Dutzend Hisbollah-Kader, die den Protest aufrechterhalten.
Am Abend, kurz nach Beginn des Fastenbrechens Iftar, hat sich eine Handvoll von ihnen rund um ihre Wasserpfeifen gescharrt. Interviews dürften sie nicht geben, sagen sie, selbst ihre Namen nicht nennen. Umso eindeutiger die Stellungnahmen zur Lage der Nation ein paar Tage vor den Präsidentschaftswahlen: "Siniora will Krieg", sagt einer aus der Runde und zeigt hinüber zum prächtigen Palast des Premierministers, der seit Monaten von Stacheldraht umzäunt und von Sondereinheiten der Polizei gesichert ist. "Der Libanon steht am Rande des Abgrunds", fügt ein anderer drohend hinzu.
Als kurze Zeit später ein Mann mit Walkie-Talkie in der Hand zu der Gruppe stößt, gerät das Gespräch ins Stocken. Ein paar Worte zum Abschied noch, Andeutungen, dass man sich bereits auf die Bildung einer Parallelregierung eingestellt habe. Strategisch günstig für einen solchen, kaum gewaltfrei verlaufenden Schritt läge das Protestcamp: Bis zum Parlament, wo am Dienstag abgestimmt werden soll, sind es keine 200 Meter. Sie führen direkt durch das von Hariri nach Kriegsende wiederaufgebaute, von teuren Restaurants und Boutiquen gespickte Downtown-Quartier - dem Symbol für die von der Opposition angeprangerte Vernachlässigung der armen Bevölkerungsschichten durch die Regierung.