Blockierte Entwicklung
Die Staaten der arabisch-islamischen Welt sind keine Demokratien. Das liegt aber nicht am Islam.
Im Grunde ist die Frage, ob Demokratie und Islam miteinander zu vereinbaren seien, Ausdruck der bei uns vorherrschenden Irritation in Sachen Islam. Selbstredend ist die Frage legitim, aber wie kommt es, dass wir sie allein mit Blick auf den Islam stellen? Ist es nicht absurd anzunehmen, der Islam sei zur Demokratie nicht fähig? Wer diese Annahme teilt, bescheinigt den Muslimen generell, qua Geburt nicht demokratiefähig zu sein. Allein in Deutschland lebten dann 3,4 Millionen muslimische Demokratiefeinde. Begegnete jemand dem Judentum mit einem vergleichbaren Pauschalurteil, stünde sofort (und zu Recht) der Vorwurf des Antisemitismus im Raum.
Unsere Wahrnehmung des Islam ist geprägt von der Lust, alles in einen Topf zu werfen und zu glauben, ein Muslim verfüge über eine monolithische Identität, die keine Zweifel, keine Pluralität der Lebensentwürfe und keine Entwicklung kenne. Einmal Muslim, immer Mittelalter. Die wenigsten unterscheiden zwischen Islam, Islamismus und Terror. Die Staaten der arabisch-islamischen Welt sind keine Demokratien, aber dafür den Islam verantwortlich zu machen wäre ähnlich unsinnig wie die Behauptung, der israelische Siedlungskolonialismus sei gelebte Thora oder der heilsgeschichtlich aufgeladene "Krieg gegen den Terror" verkörpere das Christentum.
Warum aber gibt es keine Demokratien in der arabisch-islamischen Welt? Einer der Gründe ist die blockierte Entwicklung von einer ländlich geprägten Feudal- in eine städtische Industriegesellschaft. Äußerlich haben vor allem die ölreichen Golfstaaten den Sprung in die Moderne längst vollzogen. Dennoch darf der entfesselte Kapitalismus in Dubai, Dschidda oder Kuweit-City nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Region durch und durch feudale Züge aufweist. Das Wertesystem, der Verhaltenskodex und die politischen Strukturen beruhen weitgehend auf Stammestraditionen.
Die Regierungssysteme von Marokko bis Pakistan lassen sich in drei Kategorien fassen: Traditionelle Monarchien, deren Legitimation auf Stammesherrschaft oder religiösem Führungsanspruch beruht. Dazu zählen sämtliche Golfstaaten sowie Jordanien und Marokko. Ferner gibt es säkulare, von Oligarchen gelenkte (Ein-) Parteiensysteme und Militärdiktaturen. Die demokratischen Ansätze im Irak und in Afghanistan haben erkennbar wenig Aussichten auf Erfolg. Beiden Staaten ist gemein, dass sie sich als Ergebnis westlicher Militärinterventionen eine demokratische Fassade zugelegt haben. Die Regierungen sind Klientelbündnisse nach innen und Marionettenregime Washingtons nach außen. Die demokratisch gewählte Hamas wurde um ihren Wahlsieg in den palästinensischen Gebieten im Januar 2006 betrogen - das in freien Wahlen erzielte Ergebnis, die absolute Mehrheit für die Islamisten, wurde weder von Israel noch den USA noch der EU anerkannt.
Die Blockade in der Entwicklung von einer Feudal- in eine Industriegesellschaft ist nicht allein von den Muslimen zu verantworten. Gleichermaßen verdankt sie sich europäischer und westlicher Interventionen. So wurden die Grenzen vieler arabischer Staaten von den ehemaligen Kolonialmächten willkürlich mit dem Lineal gezogen. Ein wirkliches "Staatsvolk" ist seit der Unabhängigkeit in keinem arabischen Land entstanden - mit Ausnahme der historischen Sonderfälle Ägypten und Libanon. Die Grenzen der Stämme sind mit den Landesgrenzen selten identisch. Die politische Loyalität gilt daher weniger dem jeweiligen Regime als vielmehr dem Stamm beziehungsweise, im städtischen Kontext, der Familie, dem Clan oder der religiösen Gruppe, vor allem bei den Minderheiten.
Die arabischen Staaten sind also überwiegend künstliche Gebilde, ohne nationale Geschichte oder Mythologie. Für die Herrscher sind Machterhalt und Eigenstaatlichkeit weitgehend identisch. Zwang, Gewalt und Unterdrückung gehören vor diesem Hintergrund zum Repertoire arabischer Herrscher, ausgeübt vom Militär und den Geheimdiensten. Das Spektrum reicht dabei von "weitsichtigen Autokraten", wie ihn etwa die Herrscher am Golf verkörpern, bis zu Saddam Hussein. Die Transformation traditioneller, patriarchalisch geprägter Gesellschaftsformen in die technisch-rationale Moderne ist bislang keinem islamisch geprägten Land gelungen. Auch in Ländern mit komplexeren sozialen Verhältnissen und einer tiefer wurzelnden Urbanisierung als in den Golfstaaten ist in den letzten Jahrzehnten keine dem europäischen Bürgertum vergleichbare Klasse entstanden. Es fehlt somit die soziale Basis, die politische Reformen bis hin zu einer umfassenden Demokratisierung einfordern könnte. Der Anteil der Mittelschichten an der Gesamtbevölkerung ist allenthalben minoritär, der gesellschaftliche Aufbau ähnelt einer Pyramide. Oben eine kleine Schicht von Superreichen darunter 20 bis 30 Prozent Mittelschicht (schlecht bezahlte Angestellte und Beamte, aber auch aufstrebende Geschäftsleute), ganz unten ein breiter Bodensatz aus Armut und Subsistenzwirtschaft.
Das schwach ausgeprägte Bürgertum ist auch die Ursache dafür, dass es Reformation und Aufklärung innerhalb des Islam auf absehbare Zeit nicht geben wird - unabhängig von der Frage, ob die Muslime diesen Weg in die Moderne für sich verwirklicht sehen wollen. Auch in Europa war die Trennung von Staat und Kirche nicht das Ergebnis eines Ideenstreites, in dessen Verlauf sich die Kirche den Argumenten Voltaires geschlagen gegeben hätte. Vielmehr war sie Ausdruck bürgerlicher Emanzipation gegenüber Klerus und Adel, die in der französischen Revolution ihren Höhepunkt fand.
Unter den gegebenen Verhältnissen ist auch eine konstruktive Neubewertung der Scharia nicht zu erwarten. Die Scharia, wörtlich "der Weg zur Quelle" und neben Dschihad der größte Reizbegriff in der westlichen Wahrnehmung des Islam, bezeichnet das religiös begründete, auf die Offenbarung zurückgehende islamische Recht und regelt nicht allein konkrete juristische Fragen, sondern auch, auf ideeller Ebene gewissermaßen, das menschliche Handeln im Verhältnis zu Gott und den Mitmenschen. Die Scharia verfolgt das utopische Projekt einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung, die mit Hilfe entsprechender Rechtsnormen verwirklicht werden soll. Nach traditioneller, heute von konservativen oder politisch radikalisierten Muslimen vertretener Auffassung ist die Verwirklichung der Scharia ein zentraler, unverzichtbarer Bestandteil islamischer Lebensführung.
In der Praxis jedoch hat sich die Scharia oft genug als Zwangsinstrument erwiesen. Ein moderner Staat kann die Scharia entweder mit Hilfe des Zivilrechts in den Bereich des Ehe-, Familien- und Erbrechts verbannen und sie im Übrigen ignorieren. So handhaben es die meisten arabischen und islamischen Staaten seit 100 Jahren.
Die rigideste Interpretation der Scharia findet sich in Saudi-Arabien, wo noch Rechtsnormen aus dem siebten Jahrhundert Anwendung finden, darunter die öffentliche Hinrichtung durch das Schwert oder die Steinigung von Ehebrechern. Diese Justiz ist mit rechtsstaatlichen Normen, mit Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechten, offenkundig nicht zu vereinbaren. Am sinnvollsten wäre es, die Scharia den Erfordernissen der Moderne anzupassen, namentlich die Freiräume des Individuums gegenüber Staat und Gesellschaft zu stärken. Diesen Weg ist abgesehen von der Türkei, wo die Scharia 1926 ganz abgeschafft wurde, noch kein arabischer oder islamischer Staat gegangen, aus Furcht vor der Konfrontation mit konservativen religiösen Kräften.
Der Autor ist Nahostexperte und Autor des Buches "Allahs langer Schatten. Warum wir keine Angst vor dem Islam haben müssen."