Muslime in Deutschland
Sie haben das Land verändert. Jetzt geht es um die Gestaltung des Wandels.
Berichte über Zwangsheiraten, Prozesse wegen "Ehrenmorden", Streit über das Tragen von Kopftüchern, Meldungen über ausgehobene Terrorzellen, heftige Debatten über den geplanten Bau von Kuppelmoscheen mit hoch in den Himmel ragenden Minaretten - das sind nur einige der Fixpunkte einer bisweilen erregten Diskussion über den Islam, die in letzter Zeit mehr und mehr das innere Klima in Deutschland prägen. Die Bevölkerung wird an den entsprechenden Orten mobilisiert, um ihren Vorbehalten Ausdruck zu geben, oder um einfach mehr Informationen über das, was da geschehen soll, zu bekommen. Muslime versuchen, dem verbreiteten Misstrauen mit einem jährlichen "Tag der offenen Moschee" am 3. Oktober und anderen Veranstaltungen zu begegnen.
Immer häufiger wird gefragt: Kommt jetzt der Islam? Und verbunden wird das oft mit leisen Zweifeln daran, ob die säkularisierte Gesellschaft des Westens dem Islam überhaupt gewachsen sei. Kann sich die immer stärker entkirchlichte, ja entchristlichte Gesellschaft mit ihren modernen, säkularen Götzen erfolgreich gegen Menschen zur Wehr setzen, die ihren Glauben ernst nehmen und ihn im Alltag praktizieren? Selbst bekannte Intellektuelle, die früher den Multikulturalismus nicht nur begrüßten, sondern gefördert sehen wollten, sind vorsichtig geworden.
Ein Ralph Giordano hat offen dafür plädiert, dass die geplante Moschee in Köln-Ehrenfeld nicht gebaut wird. Er sieht in der Moschee nicht nur eine Gebetsstätte, sondern ein selbstbewusst auftrumpfendes Symbol islamischer Lebens- und Denkweise und Präsenz, deren traditionelle, wenn nicht islamistisch-totalitäre Formen er als Demokrat und Verfechter pluralistischer Freiheiten ablehnt. Nicht wenige teilen seine Befürchtungen, gerade auch angesichts der desolaten Verhältnisse in den Herkunftsländern vieler Muslime. Urteile über den Islam sind zunehmend aggressiver geworden. Einer gewissen Tendenz zur Verteufelung steht andererseits eine Gesinnung gegenüber, manches Negative zu leugnen oder zum bloßen Vorurteil zu erklären. Die "drei Religionen Abrahams" seien in Wirklichkeit eine, meinen manche, und lehnen Unterscheidungen ab. Man will nicht fremdenfeindlich sein. Doch man muss auch die Unterschiede zwischen den Religionen benennen dürfen. Gleichheit und Verschiedenheit, bei Wahrung der gebotenen Achtung, ist vor allem ein Thema, das die beiden großen Kirchen beschäftigen muss. Vor allem zwischen den Muslimen und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) steht es damit nicht zum Besten.
Als Massenphänomen ist der Islam in Deutschland noch nicht einmal 50 Jahre alt. Als zu Beginn der 1960er-Jahre die ersten "Gastarbeiter" aus der Türkei kamen, nahmen viele sie gar nicht als Muslime wahr. Die Türkei war außerdem sehr weit weg, die europäische Einigung steckte noch in den Kinderschuhen, von Globalisierung sprach niemand. Man glaubte auch, die Fremden würden nach einer gewissen Frist das Land wieder verlassen und mit ihrem gut verdienten Geld nach Anatolien in ihre Dörfer zurückkehren. Von denen hatte man gar keine Vorstellung.
Allmählich wurde deutlich, dass diese Erwartung trog: Der Anteil der muslimischen Bevölkerung wuchs stetig. Und die politischen Krisen und Konflikte in der islamischen Welt sorgten dafür, dass als Flüchtlinge und Asylbewerber mehr und mehr auch solche Muslime nach Deutschland kamen, die nicht aus der Türkei stammten. Heute gibt es bei uns etwa dreieinhalb Millionen Muslime, von denen 2,6 Millionen türkischer Herkunft sind. Unter dem Rest bilden Marokkaner, Afghanen, Iraner, Bosniaken und Albaner einen erheblichen Anteil.
So hat sich Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten - man sieht es schon am Straßenbild - stark verändert. Viel sichtbarer als noch in den 1980er-Jahren ist in der Öffentlichkeit das Kopftuch muslimischer Frauen - ein Zankapfel bis in die hohe türkische Politik hinein, wo das Tragen des Kopftuches in diesem Jahr sogar die Wahl eines Staatspräsidenten beeinflusste. Ist es Ausdruck selbstbewusster Musliminnen in der säkularisierten, fremdartigen Gesellschaft der europäischen Moderne, das Identität stiftet? Oder muss man es als Zeichen der Unterdrückung, der traditionellen Benachteiligung der Frau in der islamischen Männerwelt interpretieren? Auch die Muslime sind darüber nicht einig, vor allem nicht die in Europa lebenden, aus deren Reihen mittlerweile einige bekannte Aktivistinnen in Sachen Freiheit und Selbstbestimmung hervorgegangen sind.
Der Islam insgesamt hat nicht jene Prozesse durchgemacht, die in Europa Werten wie Selbstbestimmung, individueller Freiheit, Religionsfreiheit zum Durchbruch verholfen haben. Er ist vielfach nur äußerlich modernisiert. Vor allem in traditionellen Milieus, von radikal-islamischen ganz zu schweigen, prägen noch immer die Bestimmungen der Scharia, des religiösen Gesetzes, die Lebensnormen und Verhaltensweisen der Gläubigen. Man identifiziert sie mit der eigenen Kultur, die nun einmal im Glauben gründe und die man jetzt so einfach über Bord werfen soll, wie man befürchtet. Die Gefahr von Parallelgesellschaften mit ihrer Getto-Bildung ist keine Chimäre, sondern real. Oft können sich selbst laxe Muslime den traditionellen Normen nicht entziehen, vor allem nicht im Familienverband. Insbesondere seit dem "11. September" und den Terroranschlägen von Madrid und London sieht man auch in Deutschland genauer hin, wird der Islam auch als Religion von vielen kritischer betrachtet als zuvor. Dagegen ist nichts zu sagen, solange man fair bleibt.
Vernachlässigt wird freilich, dass sich der Islam in Deutschland in einer Weise ausdifferenziert hat, die durchaus auch zu Hoffnungen Anlass gibt. Die Zahl jener Muslime, die sich in die deutsche Gesellschaft einfügen, ist so gering nicht, wie viele glauben mögen. Mit den aus der Türkei stammenden Aleviten, die nach hunderttausenden zählen, gibt es keine Integrations-Schwierigkeiten, da sie durch und durch weltlich denken. Mit den übrigen hat die Bundesrepublik jetzt in Gestalt der von Innenminister Schäuble (CDU) ins Leben gerufenen Islamkonferenz einen institutionalisierten Dialog begonnen, der unvollkommen sein mag, aber doch auf nützliche Weise intensiviert werden kann. Schon dass man redet, ist ein Erfolg. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland, der (nicht unumstrittene) Islamrat und die dem Laizismus verpflichtete türkische "Ditib" haben sich zusammengetan, um ein Ansprechpartner für die Regierung zu sein. Sie repräsentieren zwar nicht die Mehrheit der Muslime, wie sie sagen, aber doch jene, auf die es ankommt. Die bloßen Kulturmuslime haben ohnehin keine Schwierigkeiten damit, ihre Töchter zum Turnunterricht oder auf Schulausflüge zu schicken.
Ziel der Bemühungen soll die Herausbildung eines Islams sein, der mit den Werten des Grundgesetzes kompatibel ist. Doch der Weg ist noch weit. Es bedarf auch der Zeit für Prozesse der Akkulturation. Dass etwa der harte Kern der türkischen Islamisten-Truppe Milli Görüs, die auch im Islamrat repräsentiert ist, zu hundert Prozent darauf einschwenken könnte, erscheint gegenwärtig schwer vorstellbar. Nicht alle Bekenntnisse zum Rechtsstaat sind immer ernst gemeint. Die große Mehrheit der Muslime dürfte hingegen nichts dagegen einzuwenden haben, dass dieser Staat um der Freiheit seiner Bürger willen ein wachsames Auge auf all jene wirft, die berechtigte Zweifel an ihrer Verfassungstreue aufkommen lassen, von Terroristen ganz zu schweigen.