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Norbert Lammert ist Mitglied der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Er ist Bundestagspräsident und somit der zweite Mann im Staat. Das kann anstrengend sein. Und schön.
Manchmal ist eine Frage gestellt und Norbert Lammert schweigt. Zwanzig Sekunden, dreißig, eine Minute. Das kann passieren. Da sitzt man auf der Terrasse der Akademie der Künste am Pariser Platz. Sitzt auf einem Stuhl des berühmten israelischen Designers Ron Arad — ein Sitzmöbel, das im „Superformprozess“ entstanden ist —, lässt den Blick über das Parlamentsviertel schweifen und schaut dem Präsidenten des Deutschen Bundestages beim Nachdenken zu. Unten auf dem Platz tummelt sich die halbe Welt und irgendwo macht eine Baumaschine ordentlich Krach. Norbert Lammert schweigt. Dann fängt er an zu reden. Er ist ein Erzähler. Einer, dem es Spaß macht, Geschichten zu finden, die Antworten sein können. So erklärt sich auch sein eigener Lebensweg am besten.
Es scheint, als musste es so weit kommen, dass der 1948 in Bochum geborene Norbert Lammert 2005 Bundestagspräsident wird. Auch wenn nichts wirklich planbar ist und war. Es klingt aber auch, als hätte alles ganz anders werden können. Die Spannbreite der Möglichkeiten in Norbert Lammerts Leben deutet sich symbolisch an beim Blick von der Dachterrasse der Akademie hinüber zur Reichstagskuppel — als eine Linie zwischen der großen Politik und den schönen Künsten.
Die Kindheit und Jugend in Bochum, der Stadt, in der Norbert Lammert noch heute lebt, in der er verwurzelt ist und sich wohl fühlt, haben für beides — die Politik und die Kultur — Fundamente gelegt. Der Vater ist ein Bäckermeister mit eigenem Geschäft, in dem auch die Mutter mitarbeitet. „Ich bin politisch aufgewachsen“, sagt Norbert Lammert. „In der Zeit, als meine Wahrnehmung für dieses Thema beginnt, war mein Vater kommunalpolitisch engagiert und Pressesprecher der Bochumer CDU. Wir haben später einige Jahre gemeinsam in der Bochumer Ratsversammlung gesessen, was wohl für meinen Vater gelegentlich eine Zumutung war, wenn ich anderer Meinung war als er — und anders abstimmte als die eigene Fraktion.“
Die Faszination für Politik wächst im Laufe der Jahre, aber auch die für Theater, Literatur, Musik. Dann war da noch dieser Sozialkundelehrer, der die alternative Perspektive ins Denken brachte, wie Norbert Lammert es beschreibt: „Von dem habe ich gelernt, dass nichts selbstverständlich ist, dass es für jede vernünftige Position auch vernünftige Gegenargumente gibt. Dass man sich zwischen diesen Positionen entscheiden und zu seiner Entscheidung stehen muss. Er hat meine Neigung zur selbstbestimmten Urteilsfindung geprägt. Für mich ist Parteizugehörigkeit durchaus auch mit Anpassung verbunden, aber nicht mit der Aufgabe des eigenen Urteils. Wenn nötig, muss man seine Meinung gegen die Gruppe, das Team, die Partei vertreten.“
„Für mich ist Parteizugehörigkeit durchaus auch mit Anpassung verbunden, aber nicht mit der Aufgabe des eigenen Urteils.“
Der Vater also, ein Lehrer, die Faszination durch Kunst. Der Ruhrpott. Mehr als Gegend und Region. Eher auch ein Gefühl, eine Haltung, eine Art zu leben und das Leben zu meistern. Norbert Lammert scheut emotionale Worte nicht. Auch nicht, wenn er über Herbert Grönemeyer spricht — „ich bin von ihm wahrscheinlich mehr begeistert als er von mir“ — und nicht, wenn er Zeilen aus dessen Bochumhymne zitiert: „Du bist keine Schönheit und von Arbeit ganz grau.“
So oft es geht, ist Norbert Lammert zu Hause unterwegs. Er ist CDU-Parteivorsitzender in der Region, dort ist sein Wahlkreis. Jetzt, da er ein Präsident ist und die Zeit noch knapper bemessen als vorher in den Jahren als Vizepräsident des Bundestages, kommt es den Menschen bei ihm zu Hause vor, als sei er häufiger da. Der „gefühlte Lammert“ ist auffälliger geworden. „Da ich kaum noch unerkannt irgendwo sein kann, wird meine Präsenz ganz anders empfunden“, sagt der Präsident und lächelt.
Norbert Lammert schwärmt vom Ruhrgebiet und von der Vision, die sich mit dem Revier verbindet. Gemeinsam etwas Neues schaffen in einer Gegend, die durch die Industrie zur Region geworden ist und durch Kohle und Stahl groß und stark. Die sich heute neu erfinden muss, denn die Zeiten von Kohle und Stahl sind vorbei. „Dass Essen Kulturhauptstadt Europas wird, ist ein Zeichen. Und allein hätte es die Stadt nicht geschafft. Das ist auch ein Zeichen. Es macht sich die Einsicht breit, dass man nur gemeinsam stark ist und eine Zukunft hat, die nicht hinter der stolzen Vergangenheit zurückbleibt.“
Bochum und die Gegend darum herum ist Halt und Ruhepunkt und Arbeit zugleich. Halt auch, weil hier Familie und Freunde sind. Freundschaften. Solche, die ein Leben halten, weil sie früh entstanden sind und immer gepflegt wurden. Pflege ist nicht einfach. Man muss sich Zeit nehmen. “Wir sind ein kleiner und fester Freundeskreis, treffen uns vier Mal im Jahr. Ich bin der größte Risikofaktor. Also machen wir immer im November, wenn wir uns um meinen Geburtstag herum treffen, die vier Termine für das kommende Jahr aus.“
In jungen Jahren wollte Norbert Lammert Dirigent werden. Seine Faszination für Kunst sei nie verloren gegangen, sagt er. Als prägend beschreibt er die intellektuelle Begegnung mit dem Dirigenten Leonard Bernstein. Eine Vorlesungsreihe, die Bernstein gehalten hat, habe ihm eine neue Sicht auf die Unterscheidung zwischen Unterhaltungs- und E-Musik, also klassischen Klängen, eröffnet. „Bernstein hat beispielsweise gesagt, für ihn seien die zwei herausragenden Komponisten des Liedes Franz Schubert und die Beatles gewesen.“ So etwas gefällt Norbert Lammert. Eine andere als die gängige Sicht auf Dinge zu haben und die auch auszusprechen, unerwartet zu reagieren, neu, anders. Dafür ist auch Politik gut geeignet. Und am Ende sei ihm die Entscheidung für Politik als Beruf und Berufung auch nicht schwergefallen, sagt der studierte Sozialwissenschaftler. „Ich kann viel anstoßen, ich kann mich zu vielen Themen äußern, an Veränderungen mitwirken, sie vielleicht auch initiieren. Ich kann meine Funktion nutzen, um mich einzumischen. Das gefällt mir.“
Und ihm gefällt auch, dass alle Dinge im Leben und jede Funktion, die er bislang ausgeübt, jede Arbeit, die er gemacht hat, ihre Zeit hatten. Nichts war auf Ewigkeiten angelegt. „So muss ich mich immer wieder neu von der Vorstellung verabschieden, alle Sachverhalte zu kennen und alle Antworten zu wissen. Vor allem aber kenne ich nicht alle Fragen. Veränderungen bereichern. Man bleibt neugierig.“
„Ich muss mich immer wieder neu von der Vorstellung verabschieden, alle Sachverhalte zu kennen und alle Antworten zu wissen. Vor allem aber kenne ich nicht alle Fragen. Veränderungen bereichern. Man bleibt neugierig.“
Neugierig waren im Bundestag auch die anderen. Darauf, wie Norbert Lammert das hohe Amt im Hohen Haus ausfüllen wird. Welche Art Präsident er sein wird, ob er Akzente setzen, welchen Stil er pflegen, welche Prioritäten er haben wird. Erste Antworten gab es schnell. Seine Neigung zu lockeren Bemerkungen in der Leitung von Plenardebatten hat ihm bei Abgeordneten und Beobachtern viel Sympathie eingetragen. Norbert Lammert hat als Bundestagspräsident die administrative Verantwortung für die gesamte Verwaltung, in der mehrere Tausend Menschen arbeiten. Diese Aufgabe nimmt viel Zeit in Anspruch. Mit einer Organisationsreform der Bundestagsverwaltung, der ersten seit 1989, hat er bereits Akzente gesetzt. Nach sechs Monaten sah das Organigramm bedeutend anders aus als vorher. Mit der neuen, moderneren Logik sollen Zuordnungen besser, Abläufe einfacher und effektiver werden.
Norbert Lammert ist seit 1980 im Parlament. „Es gibt ärgere Zumutungen“, sagt er auf die Frage, wie man es so lange aushalte. „Ich habe immer dazugelernt. Und so wird das hoffentlich auch bleiben.“
Vielleicht, oder wahrscheinlich, hat auch dieses Amt, das Norbert Lammert nun ausfüllt, seine Zeit. Danach wird eine neue Zeit beginnen, mit anderen Aufgaben und Herausforderungen, auf die man neugierig sein kann. Wie er selbst.
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Text: Kathrin Gerlof
Fotos: studio kohlmeier
Erschienen am 31. Januar 2007
Norbert Lammert (CDU/CSU)
Präsident des Deutschen Bundestages
Geboren
16. November 1948 in Bochum
Wohnort
Bochum und Berlin
Ausbildung
Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Neueren Geschichte und
Sozialökonomie in Bochum und Oxford;
Abschluss: Diplom-Sozialwissenschaftler
Promotion
1975 zum Doktor der Sozialwissenschaften
Beruf
Diplom-Sozialwissenschaftler;
Lehrbeauftragter an der Ruhr-Universität Bochum
Familie
verheiratet, vier Kinder
Politischer
Werdegang