Das Andere denken!" Das ist leichter gesagt als getan. Wie vieles andere auch, sind die Sozialwissenschaften ein Produkt der Moderne, des Westens, Europas. Ist Vernunft universal oder abhängig von Kultur und Sprachspiel? Sind alle Begriffe, Theorien und Analysen letztlich "eurozentrisch", nur weil sie aus Europa stammen? Und wenn schon, ist das eigentlich schlimm?
Gerhard Hauck, der diesen Fragekomplex in seinem Sammelband von Aufsätzen aufnimmt, scheint das zu glauben. Eurozentrismus ist eine Form des Ethnozentrismus. Nicht genug der Irrglaube, "dass die eigene Lebensform allen anderen überlegen sei", tritt im Falle des Eurozentrismus die Überzeugung, dass das westliche Modell der Lebensführung qua wissenschaftlicher Vernunft begründet besser sei und deshalb der Rest der Welt nach diesem Modell umgeformt werden sollte. Kurz: Eurozentrismus ist die zeitgenössische und subtile Form des Imperialismus - am westlichen Modell der Marktwirtschaft beziehungsweise des Weltmarktes soll die Welt genesen. Das ist eine starke und interessante These, und man hätte anhand einer Studie über die Wirtschaftswissenschaften, die neoliberale Ideologie, Lehre und Forschung an den Economics-Departments in den USA und den Rekrutierungsweisen von Weltbank und IMF etwa zeigen können, wie ein ökonomistisches Weltbild geboren wurde, das den Westen wie den Rest der Welt in der Folgezeit transformieren sollte.
Was hat das jedoch mit den Sozialwissenschaften zu tun, arm, einflusslos und marginalisiert nicht nur an deutschen Universitäten? Ohnmacht scheint nicht vor Schuld zu schützen, denn die Soziologie hat mit den Axiomen und Prämissen ihres Denkens einen Anteil am eurozentrischen Superioritätshabitus. Um diesen Vorwurf zu untermauern, spannt Hauck einen weiten Bogen auf, indem er Naturalismus und Evolutionismus als zwei zentrale Ingredienzen des Eurozentrismus identifiziert und kritisiert. Er reicht vom Positivismus in der Soziologie von Comte bis Durkheim über rassistische Denkfiguren in der Ethnologie, die aristokratische Gesellschaftstheorie des Wilhelm Mühlmann, die Modernisierungstheorie bis hin zur Frage "Universelle Vernunft" oder "Inkommensurabilität der Sprachspiele", dem Naturalismus der empirischen Sozialforschung und dem anti-evolutionistischen Evolutionismus von Niklas Luhmann. Das ist in der Tat ein weites Feld.
Was sich auf Anhieb vielleicht wie ein holzschnittartiges und politisch korrektes Buch ausnimmt - "wohlfeil kritisch" - erweist sich bei der Lektüre der einzelnen Aufsätze als anregende, analytisch präzise und dezidiert kritische Studie. Hauck ist ein Meister in der Art und Weise, wie er komplexe und lang anhaltende Diskussionen auf die zentralen Fragen zurechtstutzt, die entscheidenden Argumente systematisch versammelt und dann zu einem pointierten Urteil kommt. Ein Beispiel zur Illustration: In "Vom ‚faulen Neger' zum ‚Egoismus der Gene'" weist er auf die Korrelation zwischen Gesellschafts- und Denkformen in der Ethnologie der letzten 100 Jahre hin.
Die Wissenschaft, welche den Blick auf "die Anderen" professionell auf ihre Fahnen geschrieben hat, ist auch nicht vor den Fallstricken des kolonialen Blicks gefeit. In der Phase des kolonialen Hochkapitalismus herrschte die Vorstellung vor, dass der "Neger" zu selbständiger und kontinuierlicher Arbeit nicht fähig sei und deshalb der "Anleitung durch Weiße" bedürfe, was Hauck an den Arbeiten von Eugen Fischer, Leo Frobenius und Richard Thurnwald exemplifiziert. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die "Entwicklung" der Dritten Welt auf der Tagesordnung. Statt direktem Zwang setzte man auf Kapitalhilfe ohne Verzicht auf den westlichen Führungsanspruch, was Hauck an den Überlegungen von Bronislaw Malinowski zeigt.
Der Rassismus der Gegenwart schottet die Menschen aus der Peripherie vor der Wohlfahrt der Menschen in den Kernregionen ab und kleidet seinen Anti-Assimilationismus sogar in Kategorien des kulturellen Pluralismus, also einer benevolenten Kultur der Differenz und Alterität, was Hauck an der Soziobiologie eines Eibl-Eibesfeldt diskutiert. Belesenheit, Souveränität im Stoffumgang, unaufgeregte Sprache und verständlicher Stil machen das Buch des Soziologen und Ethnologen zu einer Fundgrube der Kritik am Westen. Der Eurozentrismus, roter Faden und Kritikmaßstab zugleich, leitet die Analysen an, dominiert sie aber nicht. Selbst wenn man diesen Vorwurf nicht uneingeschränkt teilt, werden Fachleute wie Laien seine Überlegungen mit Gewinn lesen. Hans-Peter Müller
Gerhard Hauck
Die Gesellschaftstheorie und ihr Anderes. Wider den Eurozentrismus der Sozialwissenschaften.
Westfälisches Dampfboot, Münster 2003; 209 S.,
20,50 Euro