Laut Einschätzung des Herausgebers Manfred Hettling fehlte bisher eine vergleichende Untersuchung der Volksgeschichten, die in den europäischen Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert geschrieben wurden. Insofern betritt man mit diesem Buch wissenschaftliches Neuland. Folgende Länder wurden daraufhin untersucht, ob es dort eine Volksgeschichte gab - und wenn ja - welcher Ausprägung: Italien, Frankreich, Schweden, das Baltikum, Polen, die Tschechoslowakei und Serbien. Moshe Zimmermann widmet sich der Volksgeschichte im deutschen Zionismus, und Jörg Fisch stellt die Rolle von Staat, Volk und Individuum im internationalen Recht am Ende des Ersten Weltkrieges dar.
Hettling nähert sich im einführenden Kapitel (Volk und Volksgeschichten in Europa) dem sehr vielschichtigen Begriff Volk. Danach unterstellt dieser Begriff ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das weder auf real erlebten persönlichen Beziehungen noch auf religiösem Heil gründet. In Anlehnung an Max Weber könne man sechs idealtypische Unterscheidungen bei der Volksgeschichte treffen. Diese sechs Kriterien (kulturell, historisch, politisch, religiös, biologistisch, territorial) seien allerdings nie in Reinform zu finden: "Sie vermengen sich in jeder real existierenden Vergemeinschaftung Volk. Der Unterschied zwischen den einzelnen Volkskonstruktionen ergibt sich aus der speziellen Kombination dieser Bestandteile." Der Herausgeber hebt einschränkend hervor, dass in diesem Band zunächst nur ein erster Versuch zur Klassifizierung des Phänomens Volksgeschichte unternommen wird und dass dieser daher zwangsläufig lückenhaft bleiben muss. Dennoch kann Hettling eine erste Bilanz auf der Basis der bisher vorliegenden Forschungsergebnisse ziehen: In allen untersuchten Beispielen finden sich vor allem kulturelle Begründungen eines Zusammenhangs, der als Volk politisiert werden konnte. Wenn auch die Gemengelage nicht in allen Ländern einheitlich war, so kann man doch eine Matrix von Konstellationen erstellen, mit denen sich Volksgeschichte als gesamteuropäisches Phänomen erfassen lässt.
Ein weiteres Ergebnis ist die Erkenntnis, dass es vor allem politische Neugründungen waren, die Volksgeschichte hervorgebracht haben. Schließlich wird die Besonderheit der deutschen Volkgeschichte hervorgehoben: "Eine Volksgeschichte, die als rassistische Geschichte geschrieben wurde, hat es in erheblichem Maße vor allem in Deutschland gegeben. Das unterscheidet Volksgeschichte in Deutschland signifikant von den vielen Volksgeschichten in anderen Ländern. Nur in Serbien/Jugoslawien findet sich eine ähnlich weite Verbreitung und vor allem nach 1918 auch eine Konzentration des Volkskampfes nach innen."
Hatten sich die Protagonisten der Volksgeschichte damit schuldhaft in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt? Reinhard Blänkner verneint das zumindest am Beispiel von Otto Brunner, der von 1933 bis 1945 ein prominenter Vertreter einer im Zeichen völkischer Wissenschaft stehenden Geisteswissenschaft war. Blänkner ruft als "moralischethische Instanz" den 1949 aus dem Groninger Exil an die Universität Göttingen berufenen Soziologen Hellmuth Plessner in den Zeugenstand. Plessner bescheinigte Brunner 1953 vor dessen Berufung nach Hamburg politisch "absolute Unbedenklichkeit". In dem Zusammenhang widerspricht Blänkner Hans-Ulrich Wehler, dem herausragenden Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft. Wehler bezeichnete Brunner als "radikalen Nazi", der sich auch nach 1945 im Unterschied zu Theodor Schieder und Werner Conze nie korrigiert habe.
Andere Historiker wie Winfried Schulze und Willi Oberkrome fixieren sich dagegen nicht auf vermeintliche oder tatsächliche "braune Wurzeln" in der westdeutschen Sozialgeschichtsschreibung. Ihnen ist es wichtiger, zwischen dem nationalsozialistischen politischen Engagement der Genannten und den methodischen Innovationen der Volksgeschichte zu unterscheiden, an die die Sozial- und Strukturgeschichte der 50er-Jahre partiell anschließen konnte. Abschließend Reinhard Blänkners Position: "Darüber hinaus aber ist auch die pauschale Gleichsetzung von Volksgeschichte und nationalsozialistischer Geschichtsschreibung unhaltbar."
Da das Buch einiges Wissen voraussetzt, ist es vor allem für Historiker interessant. Am Thema der Volksgeschichte lässt sich die Problematik einer zu großen Nähe der Wissenschaft zu den Machthabern oder gar einer Instrumentalisierung durch die Herrschenden studieren. Zudem können die Historiker am Beispiel der Volksgeschichte prüfen, welche ihrer Elemente Impulse für die sozialgeschichtliche Schule in der frühen BRD geben konnte. Matthias Holdt
Manfred Hettling (Hrsg.)
Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003; 372 S.,
28,90 Euro