Slowenien ist Land voller Geschichte, als souveräner Staat erst 1991 aufgetaucht, ein kleines Volk mit einer kleinen, wiewohl alten Sprache mit 36 Dialekten. Und einer Literatur, die viel beigetragen hat zur Wende in Jugoslawien, wie überhaupt die Literatur in Slowenien eine Stellung einnimmt, von der man hier zu Lande nur träumen kann. Es gibt 150 Verlage, die jährlich etwa 2.500 Titel herausbringen. Nicht umsonst lautet ein slowenisches Bonmot: "Zwei Slowenen: ein Dichter; drei Slowenen: ein Verleger."
Die Sprache war es, die, wie so oft bei kleinen Völkern, Identität stiftete. "Slowenien" als politische Einheit existierte lange Zeit überhaupt nicht; eine frühe Eigenstaatlichkeit ging bereits im 9. Jahrhundert verloren. Jahrhunderte hindurch hatte das Slowenische keine öffentliche Funktion, es bewahrte sich als Volkssprache und in der Volksliteratur. Vereinzelte Schriftdokumente, Bibeln, geistliche Literatur, Grammatiken erschienen, eine echte Schriftkultur entwickelte sich aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und gelangte zu einer ersten Blüte gegen Mitte des 19. Jahrhunderts.
Das Denkmal des Dichters France Prešeren steht in Ljubljana an zentraler Stelle. Er, der Dichter des "Sonettenkranzes", blickt in eine Gasse hinein zum Haus der Bürgerstochter Julia Primic, die er in seinem Zyklus besang und um deren Liebe er vergeblich warb. Aus dem Slowenischen versuchte er eine Kunstsprache zu machen. Im tief katholischen Laibach befasste er sich mit Religionskritik, distanzierte sich zugleich von nationalistischen Bewegungen und starb als unverstandener Kosmopolit an Leberzirrhose. Heute ist er der Nationaldichter schlechthin, sein Kopf ist auf slowenischen Banknoten verewigt, eines seiner (zensierten) Trinklieder wurde 1991 als Text der slowenischen Nationalhymne unterlegt.
In der neueren Geschichte gibt es drei Brennpunkte von entscheidender Bedeutung für die politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung des Landes. Zum einen ist es der Erste Weltkrieg, der Zusammenbruch der Habsburger Monarchie und damit das Ende eines multiethnischen Kulturraums und die Gründung Jugoslawiens, verbunden mit der Abtrennung größerer gemischtsprachiger Gebiete an Italien. Die nächste Bruchlinie ist der Faschismus, der Zweite Weltkrieg, der Widerstandskampf und die Befreiung, die allerdings auf die andere Seite der sich neu formierenden bipolaren Welt führt, auch wenn sich das neue Jugoslawien von den anderen Satelliten des Sowjetreiches unterscheidet. Die Wende von 1989/91 läutet die dritte große Umwälzung ein. Der Zusammenbruch Jugoslawiens bedeutet für Slowenien der Aufbruch nach Europa. Es ist reizvoll, um diese Brennpunkte herum die Literatur zu betrachten - zumindest um die beiden ersten zeichnen sich einige Höhepunkte ab.
Eng war das Verhältnis zwischen Ljubljana, damals noch Laibach, zur Habsburger Metropole. Wien war der Magnet, der Menschen aller Völkerschaften der Monarchie anzog. Die Vorstädte wurden zum Sammelpunkt der meisten von ihnen. Ivan Cankar (1876 - 1918) kam 1896 nach Wien, studierte kurz, widmete sich dann ganz dem Schreiben. Er blieb bis 1909, die Vorstädte sind sein literarischer Ort: die armseligen Verhältnisse der Arbeiter und Zuwanderer, der Schmutz und die Dunkelheit der Zinskasernen, der Hunger, die Krankheiten. Und doch ist er nicht einfach ein Sozialkritiker, auch wenn solch Leben im Elend "wahrlich nichts anderes verdiente als Hass und Abscheu in reichem Maß".
Jeder Mensch trägt in sich eine Sehnsucht, noch der dunkelste Ort öffnet sich einem menschlichen Wunsch nach Schönheit. Seine Helden sind meist Scheiternde; gerechte und idealistische Menschen kommen nur durch, indem sie sich selbst verleugnen und sich den erbärmlichen Verhältnissen anpassen. Es ist die Zeit des ersten industriellen Krieges, dessen Brutalität die Slowenen an der Isonzo-Front hautnah erleben müssen, wo in zwölf Schlachten unglaubliche Schlächtereien stattfinden, die insgesamt eine Million Tote fordern.
Im Hungerwinter 1918 löst sich alles auf. Alte Kulturen und Reiche enden, eine ganze Epoche versinkt. Ivan Cankar gehört noch der alten Zeit an und wird dennoch zur Schlüsselfigur der neuen slowenischen Literatur, der große Neuerungen in Prosa und Drama einbringt. Er wird zum Vorbild für Generationen slowenischer Schriftsteller. Sein Werk ist heute noch modern, dem Klagenfurter Drava-Verlag ist die Herausgabe des lesenswerten erzählerischen Werkes in neuer Übersetzung zu danken.
Aus dem Karst oberhalb von Triest kommt Srecko Kosovel (1904 - 1926). Zu seinen kurzen Lebzeiten wird er kein Buch veröffentlichen, und auch den Dichtern und Gebildeten in Ljubljana wird es erst allmählich dämmern, was für ein Rohdiamant da unter ihnen war. Kosovel hat in seinen sechs Schaffensjahren 1.400 Gedichte geschrieben - und was für welche! Der Apollinaire des Karstes hat die slowenische Lyrik gründlich umgewälzt. Seine Bandbreite reicht von der Naturlyrik bis zum Konstruktivismus, wobei auf Grund seiner schmalen Schaffenszeit keine Periodisierung möglich ist; eins fließt ins andere, und das macht vielfach das Faszinosum seines Werks aus, das erst in den 70er-Jahren in wesentlichen Teilen zugänglich wurde.
Dass dieser Dichter von europäischem Format auch in Deutsch gelesen werden kann, ist wiederum, wie so oft, einem kleinen Verlag zu verdanken. Es ist eines der schönsten Bücher dieses Jahres, das der Übersetzer Ludwig Hartinger bei Christian Thanhäuser herausgebracht hat. Cankar und Kosovel sind die Lichtfiguren einer Umbruchperiode; die Literatur der Slowenen war nachhaltig in der Moderne angekommen und entfaltete ein reichhaltiges und breites Spektrum.
Allerdings verdunkelte sich der politische Horizont zusehends. Im Nationalsozialismus, der sich mit dem italienischen Faschismus verbündete, erreichte der Totalitarismus seine bislang radikalste und terroristischste Ausprägung. Und Slowenien grenzte an beide und wurde bald an beide aufgeteilt. Dabei gewann Triest, eine literarische Hauptstadt Europas, eine traurige Bedeutung. Darüber berichtet der Schriftsteller Drago Jancar und stellt zugleich einen großen alten Mann der slowenischen Literatur vor:
"Im August vergangenen Jahres wurde der Dichter Boris Pahor aus Triest, in seinem Haus, das von engen Gassen umgeben ist, die in Kontovel vom Meer den Karststeilhang hinaufsteigen, neunzig. Seine Kindheit verbrachte er unten, mitten in der Stadt, um Ponte Rosso herum, von dort auch seine erste Erfahrung mit der Gewalt einer wildgewordenen Menge, Erfahrung mit dem Feuer, das sich in seiner Erinnerung und seinen Texten auch dann wiedereinstellte, als jenes von den Feuersflammen des Krematoriums überlodert wurde. Noch ehe die Faschisten in Italien an die Macht kamen, haben sie mitten in Triest das großartige Gebäude, des slowenischen Kulturhauses, ein Werk des Architekten Max Fabiani, angezündet und in Schutt und Asche gelegt."
Der Slowene Boris Pahor, geboren 1913, der erst italienische Literatur studiert hat, mit Dante und Manzoni groß geworden ist, bevor er Prešeren und Cankar gelesen hat, schreibt über seine italienische Jugend, Kriegsdienst und Deportation, Harzungen, Natzweiler/Struthof, Bergen-Belsen, Dachau. Seine berühmte Erzählung "Nekropolis" betrachtet er als "eine Form von Therapie". Er ist einer, der in der Hölle war und der aus der Hölle wieder zurückkehrte. Später besucht er die Stätten, an denen die Nazis diese Höllen errichtet hatten; der sommerliche Rundgang über das von Touristen besuchte KZ-Gelände führt ihn ins Reich seiner Erinnerungen.
Pahor wird oft in einer Reihe mit Primo Levi, Jorge Semprun und Imre Kertész genannt. Er thematisiert das Unmögliche. Nun ist es keine "Erzählung" im Sinne einer narrativen Abfolge, denn das Todeslager ist, was es ist, die totale Nullität des Menschen, der nur noch Material in einem Vernichtungsprozess ist. Aber auf der Suche nach seiner verlorenen Zeit unternimmt Pahor eine Anstrengung, in diesem gigantischen Todesprozess noch etwas anderes auszumachen: Lebenskraft und Menschlichkeit. Sonst hat das alles aufzuschreiben keinen Sinn. Im Nachwort heißt es: "Primo Levis Frage: ‚Ist das ein Mensch?' erhält durch Boris Pahor als Antwort ein brüderliches Ja."
Ciril Kosmac (1910 - 1980), aus der Gegend von Piran, ging im italienischen Gorizia zur Schule, wurde von den Faschisten eingekerkert, schloss sich den Partisanen an. Seine Prosa widersetzt sich jedoch jedem Heroismus. Die kleinen Leute erleben die Kriege der Fürsten und Diktatoren, aber auch die Befreiungskämpfe und Revolutionen vor allem als großes Leid. Somit stellte er sich bewusst neben die Idealisierungen des sozialistischen Realismus. Stattdessen griff er Elemente der Volksliteratur und der Volkslegenden auf und schuf eines der schönsten, anrührendsten und zeitlosesten "Märchen" der modernen slowenischen Literatur. "Tantadruj war ein winzig kleines Wesen, und auch Verstand hatte er nur einen winzigen, seine Seele aber war geräumig genug, um darin seinen großen und einzigen Wunsch zu bergen: zu sterben." Sterben will er, weil er einmal gehört hat, er werde erst mit seinem Tod glücklich sein - der Sterbenswunsch als fixe Idee einer naiven Glückssuche.
Noch andere Lesarten lässt Kosmacs Parabel zu. Die Freunde des schellenbehangenen Narren sind der slowenische Maurer Luka Bogiorno-Boserna, der friulanische Knecht Rausepatacis und der deutschsprachige Mattl Gleichenstab. Einer verrückter als der andere, verstehen sie sich prächtig. Nicht im Traum fällt ihnen ein, dass unterschiedliche Sprache und Nation ihre Freundschaft beeinträchtigen könnte. So verkörpern sie ein idealtypisches Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen in dieser Region, von Kosmac in der Welt der Verrückten angesiedelt, weil die verrückte Welt der Normalen doch ganz anders funktioniert.
Boris Pahors Leben erstreckt sich über alle drei Wendepunkte. Drago Jancar (Jahrgang 1948), der wohl bedeutendste Erzähler der mittleren Generation, schreibt über sie. Sein Essay "Erinnerungen an Jugoslawien" befasst sich kritisch mit dem "Jugoslawismus", jener Ideologie, die eine vermeintliche politische Einheit der Südslawen behauptet. Schon nach dem Zerfall der Monarchie habe der neue Staat die in ihn gesetzten Erwartungen nicht einlösen können; bald wurde er selbst eine Diktatur. Erst recht nach 1945: "Jugoslawien als Geographie und Kultur wurde wieder gegen eine Idee vertauscht. Eine unantastbare, unsterbliche Idee, in der Gestalt der Dreieinigkeit: Tito-Jugoslawien-Kommunismus."
Jancars erzählerisches Werk beugt sich mit dem nun auch auf Deutsch wieder aufgelegten Werk "Der Galeot" weit über die Abgründe einer Welt des verordneten "Wir". Es ist die Geschichte eines wegen angeblicher Ketzerei zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu lebenslänglicher Galeere in Istrien verurteilten Heimatlosen. Tatsächlich ist es weit mehr, nämlich die ren und Seelenkrankheiten seiner Zeit in sich" trägt, der sich nicht in ein Lumpenleben hineinschicken will, der Utopien und Sekten misstraut, der in den Schicksalen seiner Mitgefangenen die Geschichte der Welt erfährt: "Tief in jedem Galeoten wurzelt seine Freiheit." Sie ist sein Meer und sein Stern, niemand kann sie ihm ausjagen. Er hält durch. Als alles überwunden ist, überwindet ihn das Schicksal: die Pest. Er geht ohne Heilsbotschaft, doch ungebrochen.
Inzwischen hat sich, nach dem Ende der großen Erzählungen, eine junge Welle etabliert, die ohne große Geste die Wende auch auf dem Gebiet der Literatur signalisiert. In der Lyrik findet gewissermaßen eine Emanzipation von der traditionellen Melancholie der slowenischen Poesie statt. Die Prosa individualisiert sich. Der Horizont ist deutlich erweitert, quasi globalisiert; man reist nach Amerika und Asien, changiert zwischen verschiedenen Formen und Einflüssen.
Einige der jüngeren Autoren sind bereits ins Deutsche übersetzt, zum Beispiel Aleš Šteger, Uroš Zupan, Taja Kramberger, Suzana Tratnik, Maja Vidmar, Andrej Blatnik, Aleš Debeljak und Jani Virk. Obwohl sich unter den Bedingungen der freien Marktwirtschaft die Buchproduktion deutlich verteuert hat, können es die Slowenen nicht lassen: zwei Slowenen - ein Dichter... Aber wen wundert das, wenn doch diesen Dichtern eine Sprache mit ganz besonderen Worten zur Verfügung steht, eine Sprache, die für den Ort, wo ein Teich war und noch Schilf ist, ein eigenes Wort hat, und auch für das Schattenbild einer Frau.