Als das "Ende eines weiteren Provisoriums" in der Geschichte der Bundesrepublik feierte Kanzler Gerhard Schröder (SPD) den Einzug des Parlaments in den umgebauten Reichstag in Berlin. Vor den Abgeordneten und Gästen erklärte er am 19. April 1999, dass damit jedoch kein Bruch mit der Nachkriegsgeschichte gemeint sei, "denn wir gehen ja nicht von Bonn nach Berlin, weil wir etwa in Bonn gescheitert wären". Während der Umzugsdebatten der 90er-Jahre war oft die Rede vom (Bonner) Provisorium. Gemeint war es räumlich. Man hatte auch während der Jahrzehnte in Bonn den Blick auf Berlin nie aufgegeben, das im Falle einer Wiedervereinigung deutsche Hauptstadt werden sollte.
Provisorisch begann - räumlich gesehen - auch die Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland. In einem solchen trat der erste neugewählte gesamtdeutsche Reichstag zu seiner ersten Sitzung im Februar 1871 zusammen: ein Gebäude, das vorher dem preußischen Abgeordnetenhaus als Tagungsort diente und sich in schlechtem baulichen Zustand befand. Die Diskussion um ein neues Parlamentsgebäude begann, während die Politiker zunächst ein weiteres provisorisches Domizil bezogen: die Königliche Porzellanmanufaktur zu Berlin in der Leipziger Straße. 1872 wurde ein erster Architektenwettbewerb ausgeschrieben. Seine Vollendung scheiterte jedoch, da der Besitzer des vorgesehenen Baugrundstücks, Graf Raczynski, seinen dort gebauten Palast nicht aufgeben wollte. Erst nach seinem Tod konnte 1882 eine Einigung mit den Erben erzielt und ein zweiter Wettbewerb initiiert werden.
Die Querelen hörten aber nicht auf, denn der Gewinner war kein Berliner, sondern der Frankfurter Architekt Paul Wallot, was zunächst zu Intrigen und Pressekampagnen führte. Außerdem musste Wallot, der unter anderem im Büro von Martin Gropius gelernt hatte, seinen Entwurf mehrfach überarbeiten, bevor im Juni 1884 der Grundstein gelegt werden konnte. Um seinen Entwurf der Kuppel, die über dem Sitzungsssaal angebracht werden sollte, musste er ebenso energisch kämpfen, wie gegen die Einmischungsversuche Kaiser Wilhelms II. Als das Gebäude 1894 eingeweiht wurde, fehlte die Inschrift "Dem Deutschen Volke" noch - ihre Anbringung scheiterte am Widerstand des Kaisers. Erst 1916 erteilte er, politisch zunehmend in Bedrängnis, seine Zustimmung. Zum historischen Symbol unterschiedlichster Art wurde der Reichstag erst danach: 1918 rief hier der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die Republik aus; den Reichstagsbrand 1933 nutzten die Nationalsozialisten für eine Hetzjagd auf politische Gegner.
Als Symbol für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts stand der Reichstag auch in den Reden bei seiner Wiedereinweihung als Parlamentssitz 1999 im Mittelpunkt. Abgeordnete aller Parteien betonten die Verantwortung, die sich daraus für die Politik ergebe. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) betonte, die Rückkehr nach Berlin sei keine Rückkehr zu einer "kriegführenden deutschen Politik oder Rückfall in schlimmste Geschichte". Solche Befürchtungen hatten von Beginn an zur Umzugsdebatte dazu gehört, erhielten nun aber durch die Beteiligung deutscher Truppen am Einsatz der Nato im Kosovo-Krieg neue Nahrung. Die zeitliche Nähe beider Ereignisse bezeichnete Thierse als "tragische geschichtliche Dialektik".
"Um die Zukunft zu gewinnen, müssen wir unser Verhältnis zur Geschichte immer wieder neu klären", forderte Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble und bezeichnete den Reichstag und Berlin als Symbole der Freiheit. Gregor Gysi dagegen lehnte die symbolische Aufladung des Hauses ab: "Nicht Gebäude machen Geschichte, sondern Menschen." Es komme also vielmehr darauf an, "was wir hier machen".
Für den Architekten des Umbaus, auch diesmal kein Berliner, sondern der Engländer Sir Norman Foster, spielte die Geschichte ebenfalls eine wichtige Rolle. Er sagte in seiner Ansprache, er habe bei der Ausschreibung des Wettbwerbs zunächst Zweifel gehabt, ob er als Ausländer für ein so bedeutsames Gebäude die Verantwortung übertragen bekommen würde. Dieser Verantwortung gerecht zu werden, ist offensichtlich keine Frage von Nationalitäten. So lobte Bundeskanzler Schröder "den Mut, aber auch die Behutsamkeit", mit der Foster "traditionelle und moderne Elemente zusammengefügt hat". Als Zeugnis bewahrt wurden zum Beispiel zahlreiche Inschriften sowjetischer Soldaten von 1945, die diese kurz nach der Eroberung Berlins dort hinterließen. Claudia Heine