Ungarn war während der 70er- und 80er-Jahre in den Augen der Bürger anderer Ostblock-Staaten ein beneidenswertes Land, wie man damals scherzhaft sagte: "Die lustigste Baracke im sozialistischen Lager" oder, nach etwas kritischerer, sagen wir sowjetischer Beurteilung, ein Land, wo man im Gulasch-Kommunismus lebte. Ungarn wird am 1. Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union. Es ist ein demokratisches Land mit einer funktionierenden Marktwirtschaft. Aber es ist auch ein Land mit zehn Millionen Einwohnern, von denen nach neuesten Schätzungen 0,7 bis 1,1 Millionen in Armut leben.
Was hat zur politischen Wende geführt? Wie war das Leben in Ungarn in den 70er- und 80er-Jahren? Was ist seither in den Köpfen der Leute, in der Gesellschaft und in der Wirtschaft geschehen? Die Ungarn sind fast einstimmig der Meinung, dass die relativ freie Atmosphäre in dieser Zeit mit Blut "erkauft" worden ist, und zwar nach dem Volksaufstand 1956. Damals hatten in Ungarn noch viele daran geglaubt, es könne gelingen, aus dem Ostblock auszuscheren, die nationale Unabhängigkeit des Landes zu erkämpfen und ein demokratisches politisches System zu schaffen. Diese Träume wurden aber von den sowjetischen Panzern, die gerade vom künftigem Parteichef János Kádár ins Land gerufen worden waren, zerschlagen. Plötzlich herrschte in Ungarn eine tödliche Ruhe. In dieser Situation schlossen die kommunistischen Machthaber, allen voran Parteisekretär János Kádár, einen Pakt, der den Gulasch-Kommunismus in Ungarn begründen sollte. Die Machthaber vereinbarten mit Moskau, dass sie die Ruhe in Ungarn um jeden Preis bewahren würden, und dass es nie wieder zu einer Revolution kommen werde. Der ungarischen Bevölkerung machten sie klar, dass der Widerstand im Schatten der Sowjetunion keinen Sinn habe, aber einem glücklichen, kleinbürgerlichem Privatleben nichts im Wege stehe.
Nach den Jahren der Repressalien und der scheinbaren Aussöhnung - Kádár pflegte bereits Ende 1956 das Wort "Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns" - begann in Ungarn eine Konsolidierung, die mit in anderen sozialistischen Ländern unvorstellbaren Freiheiten im Wirtschaftsleben einherging. 1968 hatte man den so genannten "Neuen Wirtschaftsmechanismus", eine Art sozialistischer Marktwirtschaft eingeführt. Die Bauern durften auf einem, ihnen zur Verfügung gestellten Grundstück für ihre eigenen Bedürfnisse produzieren und den Überschuss sogar verkaufen. Den Arbeitern in den Betrieben war es erlaubt, sich nach der Arbeitszeit mit ihren Kollegen zusammenzutun, um Produkte herzustellen, für die sie dann meistens besser bezahlt wurden als in der "richtigen" Arbeitszeit. Die Ungarn durften sich außerdem für ihre Privatzwecke in der so genannten schwarzen und grauen Wirtschaft "totarbeiten", um für ein Grundstück, ein Wochenendhaus oder ein Auto zu sparen. Es gab außerdem keine Arbeitslosen, von der so genannten Arbeitslosigkeit innerhalb der Fabriken abgesehen. Jeder hatte ein bescheidenes, aber sicheres Einkommen. Viele erhielten eine Sozialwohnung, die zwar in Fertigbauweise hergestellt wurde und etwas primitiv ausgeführt war, für die meisten Bewohner aber mit Fernheizung und fließendem Warmwasser das Paradies bedeuteten. Hinzu kam, dass man bald ins westliche Ausland fahren durfte. Es war zwar nur alle drei Jahre erlaubt, einen Pass zu beantragen. Wer ihn erhielt, hatte viel Mühe, sich die 70 Dollar auf der Reise so einzuteilen, dass er nicht nur Kost und Quartier bezahlen, sondern auch einige begehrte westliche Artikel kaufen konnte.
Dennoch fehlte den Ungarn etwas. Es war die Freiheit. Trotz Privatglücks, trotz bescheidener und meist befriedigter Ansprüche, wollte man sich vom Paternalismus freimachen. Es passte vor allem jungen Intelligenzlern nicht, nur alle drei Jahre ins Ausland fahren zu dürfen, überhaupt um Erlaubnis ersuchen zu müssen, oder nur bestimmte Literatur lesen zu dürfen. Politische Debatten über heikle Themen wie den Volksaufstand von 1956, die Todesurteile, Verhaftungen, die Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg oder die Rechte der in den Nachbarlänndern lebenden Ungarn konnten öffentlich nicht geführt werden. Die Geheimpolizei und die Partei war überall präsent, wollte immer alles wissen.
In der zweiten Hälfte der 80er-Jahre wurde die wirtschaftliche, gesellschaftliche und moralische Krise immer offenkundiger. Die sogenannte demokratische Opposition verließ den Schutz ihrer Schreib- und Denkstuben und versammelte sich plötzlich zu offenen Konferenzen und Kundgebungen. Auch innerhalb der regierenden sozialistischen Arbeiterpartei erkannten immer mehr Mitglieder, dass das System reformiert werden musste.
1988 war das Jahr der Parteigründungen. Zwei oppositionelle Blöcke, die Liberalen Stadtbewohner, die seit vielen Jahren von der Polizei beobachtet und von Zeit zu Zeit verhaftet worden waren, und die so genannten Volksnahen, deren Vertreter vor der Wende nur in ihren Schriften ihre regimegegnerischen Ansichten zur Schau gestellt hatten und sich sonst mehr oder weniger der jeweiligen Macht anpassten. Aus diesen zwei Ursprüngen entstanden dann die konservative und die liberale Partei, wobei die Trennlinie zuerst nur mühsam zu erkennen war. Nach langem Ringen mit sich selbst und den stockkonservativen Kommunisten beschlossen die Reformkommunisten, sich mit den Oppositionskräften an einen "oppositionellen runden Tisch" zu setzen, um Verhandlungen über die politischen und rechtlichen Voraussetzungen der Wende und die Schaffung eines demokratischen Rechtsstaates mit einem Mehrparteiensystem zu führen. An der einen Seite saßen die bisherigen Machthaber, an der zweiten Seite linke Organisationen und an der dritten Seite die Jungen Demokraten (Fidesz), die Unabhängige Kleinlandwirtepartei (FKgP - Vertreter der Bauern), das Ungarische Demokratische Forum (MDF - ein Sammelplatz für viele, die einen friedlichen Übergang befürworteten, aber nicht mit den liberalen Städtern mithalten wollten), die Freien Demokraten (SZDSZ - die Liberalen), die Christlich-demokratische Volkspartei (KDNP - die die Gläubigen auf ihre Seite ziehen wollten), sowie einige kleine Gruppierungen, an die sich heute fast keiner mehr erinnert. Die Vereinbarung wurde zwar nicht von allen Parteien unterzeichnet, sie schaffte aber die politischen Voraussetzungen für die friedliche Wende. Unwiderrufbar wurde sie vollzogen, als Ungarn die Flüchtlingskonvention der UNO unterzeichnete, wodurch der Weg für die nach Ungarn geflüchteten DDR-Bürger in den Westen frei wurde. Am 31. Juli 1989, als der Zaun an der ungarisch-österreichischen Grenze durchgeschnitten wurde, hörte der Eiserne Vorhang auf zu existieren.
Ungarn holt zwar inzwischen die Vergangenheit immer wieder ein, weil die Listen der Spitzel nie freigegeben wurden. Viele sind aber der Meinung, für den ruhigen Neubeginn sei es wichtig gewesen, dass die alten Sünden nicht ans Tageslicht gekommen seien und die Menschen nicht wüssten, wer wen beobachtet habe. Weshalb sie sich nicht hassten. Andere verweisen auf den Skandal um den jetzigen Ministerpräsidenten, der einige Monate nach dem Wahlsieg der Sozialisten im Sommer 2002 eingestehen musste, einst für den Geheimdienst gearbeitet zu haben. Die Gesellschaft ist in dieser Frage gespalten, aber sie hat akzeptiert, dass er trotz seiner Vergangenheit im Amt blieb.
Die Leute sind vielmehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Laut Statistiken haben rund 12 bis 15 Prozent der Bevölkerung ein monatliches Pro-Kopf-Einkommen von weniger als 160 Euro. Andere Forscher sprechen von 1,1 Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze leben. Soziologen zufolge konnten die meisten, die zwischen 1989 und 1992 ihren Arbeitsplatz verloren, nicht mehr auf den Arbeitsmarkt zurückkehren. Viele Arme kommen aus diesem Teufelskreis nie heraus: sie sind verschuldet, verkaufen ihre Wohnungen, ziehen von Ort zu Ort, können für die Strom- oder Wasserversorgung nicht bezahlen. Ihre Kinder "erben" die Rückständigkeit und geben sie ihren Kindern weiter.
Die Armut ist auch für die in Ungarn lebenden Roma - sie machen sechs Prozent der Bevölkerung des Landes aus - ein großes Problem. Sie gehören zu den Verlierern der politischen Wende, weil sie schon immer unterqualifizierte Arbeitskräfte waren und unter sehr schlechten Bedingungen lebten. Die gegenwärtige ungarische Regierung arbeitet zur Zeit an einem umfassenden sozialen Programm. Sie ist seit acht Jahren die erste, die sich ernsthaft dieser Situation stellt.
Ungarn erhofft sich nach dem EU-Beitritt genügend Fördergelder. Parallel dazu sind aus dem so genannten Europa-Plan der Regierung Mittel für die Entwicklung der Wirtschaft und der Infrastruktur vorgesehen. Die ungarische Führung ist der Meinung, dass durch den wirtschaftlichen Aufschwung erst die Mittel für die Verbesserung der Lage der in Armut lebenden Menschen bereitgestellt werden können. Zsófia Fülep
Zsófia Fülep ist Redakteurin der ungarischen Nachrichtenagentur MTI.