Die Äußerungen von Monika Lamperth und Katalin Szili - beide einflussreiche Persönlichkeiten der regierenden Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) - beweisen: Die führenden ungarischen Politiker haben erkannt, dass der Diskussion um die Kommunalreform ein Ende gesetzt werden muss, weil Ungarn ohne eine im Gesetz verankerte Reform im Wettlauf um EU-Gelder eine schlechtere Position einnimmt als die neuen wie alten Mitgliedsstaaten.
Seit der Wende 1989 ist es in Ungarn noch nicht gelungen, ein Gesetz über die Kommunalreform zu verabschieden. Es steht zwar als wichtiges Ziel auch im Programm der jetzigen Regierung, es ist aber nicht dazu gekommen, dass das Innenministerium dem Parlament einen kompletten Gesetzentwurf zur Verabschiedung unterbreitet hat. Der Hauptgrund war und ist, dass die klare Abgrenzung der Entscheidungsebenen nicht im Interesse der politische Elite liegt. Es gibt in Ungarn seit dem 13. Jahrhundert Komitate - heute leben die zehn Millionen Einwohner des Landes in 19 dieser regionalen Bezirke. Dieses historische Gebilde, eine mittlere Verwaltungsebene, entspricht den deutschen Ländern. Die Verwaltungen in Ungarn wurden zu sozialistischen Zeiten nach sowjetischem Vorbild in so genannte Räte umgewandelt.
Das Jahr 1989 hat für die Verwaltungen viele Veränderungen gebracht: nach dem staatlichen Paternalismus gab ihnen 1990 ein Gesetz die größte Selbständigkeit, die sie je erlebt hatten. Der Unterschied zwischen der damaligen und der jetzigen Situation liegt aber darin, dass die Verwaltungen vor 15 Jahren für die ihnen zugeteilten, beziehungweise selbständig auf sich genommenen Aufgaben - Grundschulunterricht, ärzliche und soziale Versorgung der Bevölkerung, Schaffung und Betrieb kommunaler Werke für Wasser, Abwasser, Elektrizität, Bau und Pflege von Straßen sowie Friedhofsverwaltung - viel mehr staatliche Subventionen erhielten als heute. Die Gemeinden konnten die Hälfte der von der Bevölkerung und den Firmen geleisteten Steuern behalten und sie verfügten über genügend Immobilien, die sie notfalls verkaufen konnten.
Heute gibt es erheblich weniger staatliche Subventionen und kaum etwas zu verkaufen. Nur die Aufgaben sind geblieben. Die Gemeinden wollen sie behalten, damit ihre Einwohner sich im Heimatort gut versorgt fühlen und nicht abwandern. Die Komitate nehmen aus freiem Willen wie aus Pflicht Aufgaben auf sich, die die einzelnen Gemeinden nicht lösen können oder bei denen es zweckmäßig ist, Dienstleistungen für die gesamte Region zu bieten. Es geht um Schulen der mittleren Ebene und um Fachausbildung. Gesetzlich vorgegebene Pflichtaufgaben sind außerdem qualifizierte Dienstleistungen im Gesundheitswesen - Komitatskrankenhäuser, Spezialkliniken - , oder Kinder- und Jugendschutz, Erhaltung musealer Werte, Bildung und Kultur, Bibliotheken, Umweltschutz, Erarbeitung von Regionalplänen, Beschäftigungspolitik auf Komitatsebene und der Fremdenverkehr.
Die Komitatsversammlung - eine Art Landesparlament - bestimmt die Aufgaben, fasst die entsprechenden Beschlüsse, verteilt das Geld für die Institutionen, bestimmt, wer welche wichtigen Ämter bekleidet beziehungsweise seinen Posten verliert. Sollte durch die Kommunalreform die Ebene der Komitate beseitigt werden und würde Ungarn statt wie bisher in 19 Komitate nur noch in sieben Regionen geteilt - wie dies ab 2007 das Gesetz über Raumentwicklung und -ordnung von 1996 sowie der Parlamentsbeschluss über die Entwicklungskonzeption Ungarns von 1998 vorsieht -, würden viele Kommunalpolitiker ihre Positionen verlieren. Die Komitate sind seit der Wende ein Spielfeld aller Parlamentsparteien: Egal welche gerade an der Macht ist, sieht sie in den Komitaten eine hervorragende Möglichkeit, den Interessen der Partei Dienende mit Positionen zu belohnen. So gesehen ist es verständlich, dass die Parteien gegen eine rasche Verwirklichung der Kommunalreform sind und die örtlichen Machthaber ihre Positionen gefährdet sehen.
Vor Ort ist es nämlich sehr schwer einzusehen, warum die Komitate ihre Machtpositionen verlieren sollen, warum meistens drei "wildfremde" Komitate per Gesetz nun eine einheitliche Region bilden müssen. Es gibt in Ungarn natürlich keinen Politiker, der eingestehen würde, dass das oben Skizzierte der Wahrheit entspricht und dass dies der wahre Grund für die Verzögerung der Reform ist. Vieles deutet darauf hin, dass Machtinteressen, Rivalitäten innerhalb der Regierung, der Parteien - wie wahrscheinlich überall in der Welt - auch in Ungarn die besten Absichten blockieren.
Die Erklärung der Innenministerin vom 28. April 2003 klang deshalb für diese "Machiavellis" wahrscheinlich bedrohlich. Monika Lamperth kündigte nämlich an, das Innenministerium habe einen Entwurf über die Projekte des Modernisierungsprogrammes der kommunalen Dienstleistungen fertiggestellt. Das Ziel der Reform sei, die kommunalen Dienstleistungen den Kriterien der Europäischen Union anzupassen. Der Ministerin zufolge ist es vorgesehen, dass bis 2007 in Ungarn auch im EU-Vergleich wettbewerbsfähige Regionen entstehen. Nach ihren Worten beruht das Programm der Erneuerung der Verwaltungen auf der Stärkung regionaler Ebenen, all dies gehe mit dem Abbau der Komitatsebene beziehungsweise mit der Übergabe von Kompetenzen an kleinere Verwaltungsstrukturen einher. Wahrscheinlich auch aufgrund dieser Ankündigung wurde die Unterbreitung des Gesetzes über die Kommunalreform im Parlament mehrmals verschoben. Nach der neuesten Ankündigung sollen der Entwurf im Mai 2004 verabschiedet werden und die Kommunalreform am 1. Januar 2005 in Kraft treten.
Für Ungarn ist es lebenswichtig, dass das Land von der EU alle zur Verfügung stehenden Förderungsgelder bekommt und alle europäischen Förderprogramme ausnutzt. Dieser Tatbestand ist ein Garant dafür, dass letztendlich alle ungarischen Parteien über die Kommunalreform Konsens erzielen. Ungarn ist nach Beschluss der EU zwischen 2004 und 2006 berechtigt, aus dem Strukturfonds 1.752 und aus dem Kohäsionsfonds 994 Millionen Euro in Anspuch zu nehmen.
Es muss aber auch gesagt werden, dass in der Europäischen Union die Meinungen geteilt sind, wie das Regionalsystem aussehen sollte. Bis 2007 wird Ungarn als eine einzige Region betrachtet, werden dem Land aufgrund dieses Systems Gelder zugeteilt. Im Mai 2004 Jahres sollen in Brüssel die Verhandlungen soweit gediehen sein, dass auch für Ungarn festgelegt wird, wieviele Regionen es im Land geben sollte, beziehungsweise nach welchem System in der neuen EU-Haushaltsperiode bis 2013 Gelder aus den verschiedenen Fonds abgerufen werden können.
Nach Meinung von Experten sollten in Ungarn statt sieben maximal zehn Regionen entstehen; aber so, dass ihre Grenzen nicht willkürlich gezogen werden und ihre Zentren dem Wunsch der Einwohner entsprechend und nicht von oben - wie jetzt beabsichtigt - bestimmt werden.
Der Zeitpunkt des EU-Beitritts Ungarns ist zu nah, als dass das Land es sich leisten könnte, von Brüssel eine Rüge dafür einzuholen, die Kommunalreform nicht voran gebracht zu haben. Es wurde schon einiges in die Wege geleitet: Zur Stärkung der sieben Regionen wurden so genannte Räte und Agenturen für regionale Entwicklung ins Leben gerufen. Diese sind befähigt, Entwicklungsprojekte zu erarbeiten, die Finanzen dafür zu beschaffen, das Geld effektiv zu nutzen sowie die Verwendung der Mittel zu kontrollieren.
In Ungarn findet seit Jahren eine Diskussion über die Rolle der Kommunalverwaltungen statt. Es gibt im Lande über 3.000 Ortschaften und sie alle verfügen über eine eigene Verwaltung. In 1.709 Ortschaften beträgt die Einwohnerzahl weniger als 1.000, in 998 weniger als 500.
Nach Meinung der Fachleute ist es für die Entwick-lung der Gemeinden unabdingbar, dass sie ihre Kräfte zusammenführen. Nach längerem Hin und Her kamen in Ungarn vor kurzem per Regierungserlass 168 so genannte Kleinregionen zustande, für deren Verwaltungsmodernisierung dieses Jahr sieben Milliarden Forint (etwa 28 Millionen Euro) vorgesehen sind - davon sollen 16 Millionen Euro für die Umorganisation des Unterrichtswesens und der sozialen Leistungen verwendet werden.
Die Gemeinden sind jedoch skeptisch. Sie haben in den vergangenen 50 Jahren einiges erlebt, als unter dem Vorwand der Modernisierung Dorfschulen und Dorfkindergärten zugemacht wurden, der Dorfarzt in eine andere Ortschaft zog, um dort die Patienten aus mehreren Gemeinden zu versorgen. Jedes Dorf, jede Ortschaft möchte ihre eigenen Institutionen - Verwaltung, Schule, Kinderkrippe, Ambulanz, Kulturhaus, um nur einige zu nennen - behalten oder Kleinregionszentrum werden, damit die Einwohner alle Dienstleistungen vor Ort in Anspruch nehmen können. Eltern wollen sich nicht von ihren Kindern trennen oder ihnen täglich eine lange Fahrt in die Schule zumuten, die Einwohner der Gemeinden erwarten von der Verwaltungsreform, dass sie den Kriterien der EU entspricht, eine bürgernahe Verwaltung gewährleistet, in der Ortschaft ein bequemeres Leben als bisher sichert. Die Bewohner der Kleingemeinden - die meistens unter schweren Bedingungen, sogar in Armut leben - fühlen sich durch die kleinregionalen Konzentrierungspläne bedroht und glauben nicht, dass sie auf lange Sicht von den Modernisierungsplänen profitieren werden.
Ministerpräsident Péter Medgyessy dagegen glaubt an die Kommunalreform, er widersprach in einem Zeitungsinterview der Behauptung, dass die Reform "zu Staub und Asche" verfallen sei. Er sprach von einer "virulenten" Reform, die bereits in Erscheinung getreten sei. Der Premier sieht das "Problem mit den Kleinregionen darin, dass die Kommunalverwaltungen in jedem Fall ihre Institutionen um jeden Preis behalten wollen, auch wenn ihnen die Finanzen fehlen".
Péter Medgyessy sprach ein weiteres Problem an: Die politischen Kräfte haben nach der Wende ein System parlamentarischer Beschlussfassung erarbeitet, das auf der Zwei-Drittel-Mehrheit der Stimmen beruht. Es blockiert aber zum Beispiel jedwede Modifizierung des Gesetzes über die Kommunalverwaltungen. Der Ministerpräsident schlägt deshalb vor, dass die Kommunen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit des Parlaments zur kleinregionalen Zusammenarbeit gezwungen werden sollten.
"Wenn dies nicht gelingt, werden wir das Funktionieren der Institutionen und die kleinregionale Zusammenarbeit mit finanziellen Mitteln unterstützen oder sogar erzwingen", betonte er im genannten Interview. Die Innenministerin unterbreitete am 20. März 2004 dem Parlament den Gesetzentwurf über die Errichtung von Kleinregionen. Dieser Vorschlag wird von den Oppositionsparteien nicht unterstützt: sie befürchten mit Recht die Kürzung der Selbständigkeit der Gemeindeverwaltungen, die per Gesetz zur Zusammenarbeit gezwungen werden sollen. Es wird aber vom Parlament verabschiedet werden, weil es zwar dem Gesetz über die Verwaltungen durch die Beschränkung ihrer Selbständigkeit widerspricht, doch zu seiner Verabschiedung nur die einfache Mehrheit der Stimmen benötigt, die die Abgeordneten der Regierungsparteien - die Sozialisten, und die liberalen freien Demokraten - zahlenmäßig sichern können.
Die Verwaltungen können jedoch nur dann erfolgreich an den Ausschreibungen der EU teilnehmen, wenn sie auch über eigene finanziellen Quellen zur Verwirklichung ihrer Pläne verfügen. Um somit auch den armen Gemeinden Chancen zu geben, notwendige Finanzmittel aus Brüssel zu erhalten, errichtete die ungarische Regierung einen Fonds für die Vorbereitung von EU-Ausschreibungen und einen weiteren für die Bereitstellung von Eigenmitteln. Ersterer beträgt 24 Millionen Euro, letzterer 17,6 Millionen Euro; wenn notwendig, kann die zur Ergänzung der Eigenmittel bereitgestellte Summe relativ rasch aus dem ungarischen Staatsbudget in unbegrenzter Höhe bereitgestellt werden.
Der ungarische Regierungschef betont in diesem Zusammenhang übrigens immer öfter und ungeduldiger, er werde es auf keinen Fall zulassen, dass Ungarn aus irgendeinem Grund auch nur einen Pfennig an EU-Unterstützung verliert. Kritiker befürchten deshalb, dass die verspätete Einführung der Kommunalreform in Ungarn zu einer Verzögerung der Modernisierung insgesamt führen könnte. Peter Medgyessi will deshalb ein zum Erwerb und zur Nutzung der EU-Gelder notwendiges Verwaltungs- und Institutionssnetz ins Leben rufen. Er verweist darauf, dass die Europäische Union im Frühjahr 2005 auch darüber entscheiden wird, "welche Entwicklungsstrategie Ungarn in den Jahren zwischen 2007 und 2013 befolgt". Es sei deshalb überhaupt nicht egal, "ob wir von der EU vier oder nur drei Milliarden Euro bekommen", fügte er hinzu. Seiner Meinung nach geht es in den kommenden Monaten um die Zukunft Ungarns. "Der Beitritt zur Europäischen Union bedeutet einen politischen Wendepunkt."