Es war einmal ein Systemwechsel" - so heißt das neueste Buch des renommierten ungarischen Historikers Ignác Romsics. Der Titel erregt Aufsehen in Zeiten, in denen die opponierenden politischen Lager Ungarns noch darüber streiten, ob der Systemwechsel bereits abgeschlossen ist oder überhaupt jemals stattgefunden hat. Im Hinblick auf das politische System scheint die Antwort jedoch eindeutig: Die von Romsics auf die Jahre 1988 bis 1990 datierte Zeit der politischen Wende brachte einen Wandel von einer zuletzt autoritären Diktatur mit Zügen eines "latenten Pluralismus" hin zu einer parlamentarischen Republik mit inzwischen stabilen demokratischen Institutionen.
Dennoch: Die Tatsache, dass es in Ungarn eine "samtene Revolution" gegeben hat, die von politischen Elitegruppen am Runden Tisch ausgehandelt wurde und die Massen nur bedingt mobilisieren konnte, wirkt sich heute auf die politische Kultur des Landes aus.
Nichts symbolisiert diesen "ausgehandelten Systemwechsel" besser als die ungarische Verfassung. Das Land hat als einziger postsozialistischer Staat seine 1949 nach sowjetischem Muster geschriebene Verfassung beibehalten und diese 1989/90 lediglich durch zwei Verfassungsnovellen umgestaltet. Trotzdem änderte sich das politische System entscheidend: Ungarn ist heute parlamentarische Republik mit einem vom Parlament gewählten Staatspräsidenten, einem Einkammersystem, einer dem Parlament verantwortlichen Regierung und einem starken Verfassungsgericht.
Als besonders charakteristisch für das ungarische Regierungssystem hebt der ungarische Politologe András Körösényi den starken Einfluss des Rechts auf die Politik, das spezielle Verhältnis von Gesetzgebung und Vollziehung sowie die starke Position von Parlament und Opposition hervor.
Der starke Einfluss des Rechts auf die Politik geht auf die weite politische Zuständigkeit des Verfassungsgerichts zurück, das zwar nach deutschem Vorbild angelegt ist, aber ein wesentlich "aktivistischeres" Rollenverständnis hat als das Bundesverfassungsgericht. Der provisorische Charakter der ungarischen Verfassung veranlasste die Verfassungsrichter zu Anfang, de facto verfassungsgebend zu wirken und mit ihren Entscheidungen eine "unsichtbare Verfassung" aufzubauen. Die Kompetenzen des Gerichts gelten auch deshalb als besonders weitreichend, weil es über seinen normalen Aufgabenbereich hinaus bei Streitigkeiten zwischen Staatsorganen den politischen "Schiedsrichter" spielen kann. Da es zudem keine Anträge ablehnen darf, ist der Umfang seiner Tätigkeit nicht nur besonders breit, häufig wird es auch von politischen Akteuren instrumentalisiert.
Darüber hinaus gibt es die seit 1995 eingesetzten Ombudsmänner. Der Ombudsmann für die Grundrechte der Staatsbürger hat die Aufgabe, Verletzungen der Grundrechte zu untersuchen. Zudem gibt es einen besonderen Ombudsmann für Minderheiten sowie für den Datenschutz. Und obwohl sie kein Vollzugsrecht haben, zeichnen sie sich in der Praxis durch eine bedeutende Wirkungsmacht aus.
Der spezielle Dualismus von Legislative und Exekutive zielt auf größtmögliche Stabilität. So kann einerseits die Regierung nur durch ein Konstruktives Misstrauensvotum abgesetzt werden, wobei Misstrauensvoten gegen einzelne Minister nicht möglich sind. Andererseits hat der Regierungschef kein Recht, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen ausschreiben zu lassen.
Seine starke Stellung verdankt das Parlament der Tatsache, bei besonders vielen Entscheidungen der Regierungen mitbestimmen zu dürfen. Ungewöhnlich hoch ist auch die Hürde, die Gesetze bei ihrer Verabschiedung nehmen müssen: In mehr als 30 Gesetzgebungsbereichen ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig, um entsprechende Gesetze zu verabschieden. Dies führt zu einem "Quasi-Vetorecht" der parlamentarischen Opposition gegenüber der Regierungsmehrheit und schränkt die Handlungseinheit von Regierung und Parlament erheblich ein.
Das Wahlsystem Ungarns gehört zu den kompliziertesten der EU-Beitrittsländer. Es kombiniert Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht, wobei ein Teil der Mandate nach einem kompensatorischen System zugeteilt wird. Ein Parlamentsmandat kann also auf drei Wegen errungen werden: nach absolutem Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen, nach Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen und über das kompensatorische System, das verlorene Stimmen aus den beiden anderen Wahlverfahren berücksichtigt. Auf dem Weg der Volksabstimmung wurde auf Initiative der Regierung über den Beitritt zur NATO und der EU entschieden; aber auch volksinitiierte Gesetzesreferenden sind möglich.
In Ungarn hat es seit 1990 jede Regierungskoalition geschafft, eine ganze Legislaturperiode zu regieren, länger allerdings nie. Die Bündnisse haben sich seit den 90er-Jahren nach einem klassischen Links-Rechts-Schema formiert. Heute dominieren zwei Großparteien das Spektrum: Auf der einen Seite steht die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP). Sie ist die Nachfolgeorganisation der ehemaligen Kommunistischen Partei, hat heute aber ein pragmatisch-sozialdemokratischem Profil. Auf der anderen Seite steht der Bund der Jungen Demokraten (FIDESZ). Er wurde ursprünglich als radikal-antikommunistische Jugendorganisation gegründet, gab sich jedoch als Partei zunächst pragmatisch-liberal, bis er Mitte der 90er-Jahre schließlich auf einen national-konservativen Kurs einschwenkte.
Abgesehen von der inzwischen marginalisierten rechtsextremen Gerechtigkeitspartei (MIÉP) haben sämtliche ungarischen Parteien den Beitritt zu NATO und Europäischer Union unterstützt. Volksparteien gibt es in Ungarn allerdings noch keine, die Wahlen werden zumeist bei relativ geringer Wahlbeteiligung von den Wechselwählern entschieden - ein Trend, der sich erkennbar erst mit den Parlamentswahlen von 2002 umgekehrt hat. Allerdings hat der vorangegangene Wahlkampf auch gezeigt, dass populistische Polarisierungen ihre Wirkung bei der Bevölkerung nicht verfehlen. Thomas von Ahn