Wir nennen ihn Zoltan - seinen richtigen Namen möchte er nicht gedruckt sehen. Er ist ungelernter Verkäufer in einem der unzähligen Gemischtwarenläden in Budapest, die bis spätabends geöffnet haben. Er hofft auf Kunden, die mit ten in der Nacht ein Pfund Zwiebeln, Bier, Papiertaschentücher oder Geschirrspülmittel kaufen wollen.
Für den gesetzlichen Minimallohn von 60.000 Forint (umgerechnet 230 Euro) im Monat steht der blass-blonde, schlaksige junge Mann acht Stunden am Tag in dem Laden im 13. Bezirk. Nach Feierabend geht Zoltan nach Hause zu Frau und Kind, in eine Ein-Zimmer-Wohnung im 8. Bezirk. Dort bezahlt er 35.000 Forint Miete - kalt. Zum Glück bekommt seine Frau, die wegen des Kindes ihren Job als Kassiererin an den Nagel hängen musste, noch insgesamt 25.000 Forint vom Staat - Kindergeld und Familienzuschuss zusammen. Vom bevorstehenden EU-Beitritt seines Landes erhofft sich Zoltan vor allem, dass er der Jugend mehr Unterstützung bringt. Dass er nicht mehr vergeblich eine Sozialwohnung suchen muss. Auch dass die Grenzen sich öffnen, findet er gut, obwohl er sich nicht vorstellen kann, jemals Geld für Reisen zu haben. Ins Nachbarland Rumänien würde er gerne mal fahren, oder nach Deutschland. In beiden Ländern sei es schön, weiß er vom Hörensagen. Er hat Ungarn noch nie verlassen.
Zoltan, geboren in Budapest als Sohn einer Krankenschwester und eines Krankenpflegers, hätte gerne eine Ausbildung gemacht, vielleicht sogar Englisch gelernt. "Es ist ein Vorteil, Sprachen zu können", meint er. Aber dann kam die kleine Tochter, und mit ihr die Geldsorgen. Das Kind war nicht geplant, aber ausdrücklich gewollt. "Wir haben uns hingesetzt und besprochen, ob wir es haben sollen, oder" - und das sagt er leise, fast verschämt - "ob es nicht sein soll". Er überlegt, ob er sich nicht doch per Abendkurs weiterbilden sollte, um weiterzukommen. Um vielleicht in der nahen oder fernen Zukunft, einen eigenen Laden aufzumachen. Verkaufen ist seine Leidenschaft.
Wissenschaftlich gesehen, gehört Zoltan zu den 39 Prozent jungen Ungarn, die laut einer Studie des Soziologen Béla Bauer noch ein Lebensziel haben und nur eine etwas bessere Ausbildung bräuchten, um zu annähernd westlichem Lebensstandard zu gelangen. Dramatische 43 Prozent der Ungarn zwischen 15 und 29 Jahren zählt Bauer in seiner Untersuchung zu den "Verlierern" der Gesellschaft. Für sie ist das nackte Überleben die größte Herausforderung, heißt es in der Studie. Sie sind schlecht ausgebildet, sprechen keine Fremdsprachen, kennen die Möglichkeiten der Informationsgesellschaft nicht und haben wegen ihrer schlechten materiellen Lage keine Chance auf Anschluss an die Mittelklasse.
Nur 18 Prozent der jungen Ungarn gehören den Soziologen zufolge zu den "Gewinnern". Sie leben auf westeuropäischem Niveau, haben höhere Schulbildung und gebildete Eltern. Nicht zuletzt beherrschen sie Fremdsprachen und erfüllen damit eine der entscheidenden Voraussetzungen für eine gute Karriere in Ungarn. Paradoxerweise lernen die Ungarn höchst ungern fremde Sprachen, obwohl ihre Wirtschaft seit der Wende von ausländischen Investoren dominiert wird. Der Anteil der Fremdsprachenkundigen in Ungarn liegt weit unter dem EU-Durchschnitt. Die Rentner-Generation spricht zum Teil Deutsch, weil dies in ihrer Kindheit die lingua franca in der Region war, deren Kenntnis zur bürgerlichen Bildung gehörte. Die Jüngeren hingegen hatten während des Kommunismus weitgehend nur Russisch als Pflichtfach in der Schule.
So kam es, dass kurz nach der Wende nur die wenigen Ungarn Jobs bei den anrückenden Multis bekamen, die mit Deutsch- oder Englischkenntnissen dienen konnten. Fachkompetenz war deshalb nachrangig, erzählt Hajnalka Nikli. Sie ist Head-Hunterin bei einem führenden Unternehmen zur Vermittlung von Spitzenmanagern in der Region. Die 29-Jährige hat ihr Büro in einer festungsartigen Villa auf dem feinen Rosenhügel im beschaulichen Buda.
Geheimnisvolle Stille herrscht in diesem Tempel, in dem Karriere-Fäden gesponnen werden, dicke Teppichböden schlucken jedes Geräusch auf den ohnehin leeren Korridoren. Lautlos, aber dynamischen Schrittes tritt die zierliche, natur-rotblonde Frau in das elegante Konferenzzimmer zum Gespräch. Vom EU-Beitritt erwartet Hajnalka "weniger radikale Änderungen, als wir früher gedacht haben". Es wird, so sagt sie, "ein sanfter Übergang". Dann kommt sie schnell auf den wunden Punkt zu sprechen: Viele Ungarn sind enttäuscht darüber, dass die meisten EU-Staaten ihre Arbeitsmärkte nicht sofort für die Beitrittsländer öffnen werden, sondern sich dafür mehrjährige Übergangsfristen ausbedungen haben. Und dies, obwohl Ungarn dem Westen sowohl den Arbeits- als auch den Immobilienmarkt anstandslos geöffnet habe. Immerhin aber, meint Hajnalka, werde das Land auf lange Sicht durch EU-Finanzierung eine bessere Infrastruktur bekommen, bessere Straßen und Verkehrsmittel. Wie viele andere Experten sieht auch die Jung-Unternehmensberaterin, dass Ungarn sich nicht mehr lange als Billiglohnland und verlängerte Werkbank Westeuropas halten könne, sondern andere Standortvorteile bieten müsse. Sie ist zuversichtlich, dass die Multis anstelle ihrer Billig-Produktionsstätten nun Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen nach Ungarn verlagern: "Nokia ist schon da, und IBM kommt auch." Am meisten aber hofft sie, dass der Druck der Brüsseler Normen "etwas im Kopf der Ungarn" bewegt. Dass die "kommunistische Mentalität verschwindet", dass es weniger Korruption gibt und mehr öffentliches Engagement und Umweltbewusstsein. "In Amerika gibt es doch tatsächlich Städte, wo das Rauchen auf der Straße verboten ist", schwärmt sie, "bei uns schmeißen die Leute die Zigarettenkippen auf das Pflaster."
Der Soziologe Béla Bauer würde Hajnalka in eine besonders interessante Unter-Kategorie in seiner Gruppe der "Gewinner" einordnen: jene Klasse der Aufstrebenden entfernt von der Hauptstadt, die er als sehr empfänglich für Macht, öffentliches Leben und Politik beschreibt. Hajnalka kommt aus der tiefsten ungarischen Provinz und hat sich hart nach Budapest hochgearbeitet. Ihre Mutter ist Buchhalterin im Rathaus von Tótszerdahely, ihr Vater repariert Kühlschränke. Als nach der Wende 1989 in Ungarn einige wenige zweisprachige Gymnasien gegründet wurden, bewarb sie sich in der englisch-ungarischen Internatsschule von Balatonalmádi am Plattensee. Sie gehörte zu den 75 Zöglingen, die aus rund 2.000 Kandidaten nach einem Test ausgewählt wurden. Geprüft wurde dabei neben Mathematik und Literatur auch "Logik" - ein Fach, von dem Hajnalka bis dahin nie etwas gehört hatte. Nach dem Abitur studierte sie Anglistik und Hungarologie in Budapest, arbeitete zwischendurch ein Jahr lang in einem internationalen Londoner Konferenz-Zentrum. "Meine erste multikulturelle Erfahrung", nennt sie diesen Aufenthalt. Da sie wegen der schlechten Bezahlung nicht Lehrerin werden wollte, schaute sie sich gleich nach dem Abschluss an der Job-Börse der Volkswirtschafts-Fakultät in Budapest um und fand prompt eine Anstellung bei einem österreichischen Head-Hunter. Parallel belegte sie Kurse an einer Budapester Management-Schule. Die Schul-Gebühren fraßen etwa ein Drittel ihres damaligen Gehalts. Jetzt, beim neuen Arbeitgeber, hat sie eine höhere Position. Sie recherchiert selbständig, mit viel Diskretion, wer von den ungarischen Top-Managern mit seinem Job unzufrieden ist, und eventuell in einem anderen Unternehmen die Chance hat, die Karriereleiter noch weiter hochzuklettern. Sie hat einen Arbeitstag von mindestens zehn Stunden. Sie lebt als Single, denn "der Richtige" ist noch nicht erschienen. Sollte der auftauchen, sagt sie, würde sie ihren Beruf aufgeben. Mann und Kinder seien das Wichtigste.
Zoltan und Hajnalka haben wohl nur den traditionellen Familiensinn und die relativ bescheidene Herkunft gemeinsam, ansonsten trennen sie Welten. Er war zum Zeitpunkt der Wende 1989 gerade sieben Jahre alt, sie fast 15. Zoltan hat vom Kommunismus so gut wie nichts mitbekommen. "Mich interessiert die Vergangenheit nicht, denn die kann man sowieso nicht ändern", meint er, "wichtig ist das, was ist, und was sein wird." Hajnalka hingegen war als Kind "Junge Pionierin" in der kommunistischen Jugendorganisation. Diese Erfahrung trennt sie von ihren Altersgenossen in Westeuropa. Das hat sie während ihres London-Aufenthalts zu spüren bekommen, wo sie mit jungen Leuten aus Ost und West zusammenkam. Mit den Osteuropäern konnte sie den Stolz auf die vorkommunistische Vergangenheit ihrer Länder teilen. Die Briten hätten aber mit der Geschichtseinteilung in Vor- und Nach-Kommunismus nichts anfangen können.