Spätabends im Sommer. Die Innenstadt ist in weiches, sympathisches Licht getaucht. Das Motto lautet: Sehen und gesehen werden. Tausende flanieren über den "Korso", die Hauptstraße, entlang an traumhaft schönen Fassaden wundervoll restaurierter Stadthäuser und den Auslagen guter Fachgeschäfte. Die meisten, die auf und ab gehen, sind jung, modisch gekleidet und haben fröhliche Gesichter, studieren vermutlich, wie mehr als 20.000 an einer der drei renommierten Universitäten oder an der ebenso anerkannten Musikhochschule. Aber auch viele Familien mit Kind und Kegel sind unterwegs.
Der Hauptstrom hält sich rechts. Von der Grünanlage, wo man über Bodenfenster mit Sicht auf unterirdisch freigelegte einstige Stadtmauern spaziert, als erstes zum prachtvollen gotischen Dom der Heiligen Elisabeth. Dann zum Musikbrunnen am Barocktheater, auf dem Wasserfontänen im Takt klassischer Musik tanzen. Anschließend weiter auf der platzartigen Flaniermeile, in deren Mitte ein künstlicher Bach plätschert, in dem Kinder Papier-Schiffchen schwimmen lassen. Und immer wieder vollbesetzte Straßencafes, vor denen Teufelsgeiger spielen, und zwar phantastisch gut. Vor dem Denkmal des Marathon-Läufers schließlich dreht der Menschenstrom um, spaziert auf der anderen Seite wieder zurück. Wie oft wohl noch an diesem Abend?
Gegenüber der Zeit vor der politischen Wende von 1989 ist Kosice (deutsch Kaschau, ungarisch Kassa), nicht mehr wiederzuerkennen. Spürte der Fremde in jenen Tagen beim ersten Besuch vor allem Tristesse, weil das meiste grau in grau war und die Gesichter vieler Einwohner müde wirkten, so ist das heute völlig anders. Die Metropole der Ostslowakei, mit ihren 230.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt der slowakischen Republik, ist aufgeblüht und voll pulsierenden Lebens. Ihre Altstadt kann sich inzwischen sehr wohl mit der von Krakau, Salzburg, Siena oder Bratislava (Preßburg) messen, und letzteres ist den Ostslowaken eine Herzblutangelegenheit. Denn die Konkurrenz zur Hauptstadt, der es wirtschaftlich viel besser als Kosice geht und die politisch angeblich immer bevorteilt wird, ist ein Reizthema für die Ostslowaken. Mit einer Mischung aus Wut und Scham nehmen sie zur Kenntnis, dass hervorragend ausgebildete junge Kosicer, die wegen der hohen Arbeitslosigkeit zu Hause keine Arbeit finden, nach Bratislava gehen (müssen), wo praktisch Vollbeschäftigung herrscht.
Zu Zeiten der alten Strukturen, so umschreibt man hier die Epoche der kommunistischen Kommandowirtschaft, spürten die Gäste die wahre Kraft dieser Stadt und die mitreißende Weltoffenheit ihrer Bewohner nur einmal im Jahr. Das war am ersten Sonntag im Oktober beim Internationalen Friedensmarathon-Lauf, wenn Fahnen- und Blumenschmuck sowie Hunderte von Transparenten die von Abgasen der Industrie und dem Ruß der Schornsteine zerfressenen Fassaden verbargen und aus der resignierten eine fröhliche Gastgeberstadt machten. Dann überraschten die Kosicer die aus aller Welt angereisten Läufer und deren Begleiter mit weltmeisterlicher Gastfreundschaft, getreu dem slowakischen Sprichwort und Anspruch, jeden Gast müsse man ehren wie Gott.
In Kosice ist übrigens Langstreckenlauf so populär wie in München das Fußballspiel oder in Köln der Karneval. Seit 1924 wird hier Europas ältester Marathonlauf veranstaltet (weltweit ist lediglich der von Boston ein Jahr älter). Deshalb sind die Zuschauer, die schon als Kleinkinder von Eltern und Großeltern mitgenommen wurden und das mit ihrem eigenen Nachwuchs ebenso machen, fast ausnahmslos Experten. Sie feuern nicht nur die Spitzenläufer an, sondern auch jeden anderen, der mitmacht. Den Siegerinnen und Siegern verspricht diese Stadt fast unsterblichen Ruhm. Ihre Namen werden in goldenen Lettern auf schwarzem Marmor am Denkmal des Marathon-Läufers verewigt.
Die lebensgroße Bronze-Statue steht hoch über dem Marathon-Platz, dem größten der Stadt. Dort fällt ein nach Westen zeigendes Verkehrsschild ins Auge, das manche überrascht: "Wuppertal 1190 Kilometer". Es erinnert an legendäre Freundschaftsläufe zwischen Kosice und seiner deutschen Partnerstadt aus den Jahren 1988 und 1998, wobei sich beim ersten für die slowakischen und deutschen Läufer bei Furth im Wald sogar ohne Paß- und Zollformalitäten der Eiserne Vorhang öffnete. Bis dahin war das unvorstellbar, und nicht wenige schwer bewaffnete Grenzschützer hatten auf beiden Seiten Tränen in den Augen.
Obwohl die in Etappen aufgeteilte Strecke von den slowakischen und deutschen Sportlern enorme Kondition verlangte, lag das Außergewöhnliche dieser Freundschaftsläufe weniger im sportlichen Bereich. Es waren vielmehr politische Demonstrationen von europäischer Dimension. Der erste Lauf warb unter dem Motto "Wer miteinander redet, schießt nicht" für mehr Dialog zwischen Ost und West, der zweite, nach der Wende, für Solidarität und aktive Unterstützung der demokratischen Kräfte in Ostmitteleuropa.
Vieles, was im Rahmen dieser 1979 von Hans-Dietrich Genscher und seinem damaligen tschechoslowakischen Amtskollegen Bohuslav Chnoupek vereinbarten Modellstädtepartnerschaft zwischen Kosice und Wuppertal über den Eisernen Vorhang hinweg möglich war, verblüffte die politischen Beobachter. So verabschiedeten beide Stadtparlamente in der wohl frostigsten Phase des Kalten Krieges eine Resolution für ein friedliches, gutnachbarschaftliches Miteinander, die sowohl im Westen als auch im Osten Zustimmung fand. Beide Städte realisierten eine Vielzahl von direkten Bürgerbegegnungen einschließlich Kinder- und Jugend-Austauschprogrammen mit Unterbringung in Familien, was ebenfalls lange einmalig zwischen den verfeindeten Systemen blieb.
Treibende Kraft auf Kosicer Seite war mit Rudolf Schuster ein Oberbürgermeister ("Primator"), der als Angehöriger der deutschen Minderheit in der Slowakei während der kommunistischen Zeit vor allem wegen seiner Kompetenz als Ingenieur und Krisenmanager Karriere gemacht hatte. So hatte er gegen den Widerstand der KP-Elite wegen der gesundheits- schädlichen Emmissionen ein Bauxit-Werk geschlossen und nach dem Zusammenbruch für die alte Wasserversorgung innerhalb kürzester Zeit ein neues, leistungsfähigere System geplant und realisiert.
Auch nach der politischen Wende blieb Schuster für Kosice eine wichtige Persönlichkeit. Nachdem er in der entscheidenden Zeit von November 1989 bis Juli 1990 zunächst Parlamentspräsident in Bratislava und anschließend Botschafter in Kanada war, bewarb er sich Mitte der 90er-Jahre in seiner Heimatstadt erneut um das Amt des Oberbürgermeisters. Er wurde mit knapper Mehrheit gewählt und engagierte sich für die Sanierung der Innenstadt. Er selbst zeichnete Pläne, warb um politische Zustimmung und um Investoren, ermutigte Hausbesitzer, kontrollierte Baustellen, versammelte jeden Montag sieben Uhr früh alle Dezernenten und Amtsleiter vor Ort, vergab Aufträge, setzte Termine und wachte darüber, das jeder tat, was ihm aufgetragen war. Die Seele der Bürger setzte er beim Stolz, ihrer empfindlichsten Stelle, unter Druck, in dem er sowohl den Papst (Schuster ist gläubiger Katholik) als auch den Weltstar Pavarotti überzeugte, Kosice zu besuchen. Kaum hatten sie zugesagt, verlangte er von den Einwohnern, den Umbau der Stadt noch intensiver zu unterstützen, weil sie sich sonst vor dem Heiligen Vater, dem berühmten Tenor und vor den Fernsehkameras der ganzen Welt blamieren und Schande über die Ostslowakei bringen würden.
So schaffte er die an ein Wunder grenzende Wandlung von Kosice zu einer attraktiven Metropole. Das machte ihn im ganzen Land populär. Als er sich dann der zweiten demokratischen Oberbürgermeister-Wahl stellte, wurde er mit 77 Prozent Ja-Stimmen im Amt bestätigt. Wenig später gründete er seine eigene Partei, bewarb sich um das Amt des Staatspräsidenten und setzte sich in der Direktwahl gegen den Rechtspopulisten Meciar durch. Untreu wurde er der Stadt Kosice dadurch nicht. Viele Staatsgäste, die er in seinem Präsidentenpalast in der Hauptstadt zu Gast hatte, begleitete er anschließend nach Kosice und machte sie mit seinem Amtsnachfolger Zdenko Trebula bekannt, einem seiner politichen Zöglinge.
Als Verwalter einer schwierigen Erbschaft begleitete Trebula vor allem die Sicherung von mehr als 20.000 Arbeitsplätzen beim wichtigsten Arbeitgeber, den Kosicer Eisenhüttenwerken, und die Übernahme dieses die Stadt noch immer prägenden Großunternehmens durch US-Steel. Obwohl sich in Kosice in den vergangenen Jahren einige mittelständische Unternehmen neu ansiedelten, kämpft die ostslowakische Metropole nach wie vor mit hoher Arbeitslosigkeit.
Jedem Investor wird zwar der Rote Teppich ausgerollt, doch scheitern die meisten Vorhaben an der nach wie vor unbefriedigenden Verkehrsanbindung. Die Stadt hat zwar einen leistungsfähigen Flugplatz, doch solange der von der Politik versprochene Ausbau der Autobahn und die Erneuerung der Schienenwege zwischen der Hauptstadt und Kosice nicht abgeschlossen sind und weiterhin so zögerlich verlaufen, bleibt das die politisch und wirtschaftlich dringlichste Herausforderung für die Ostslowakei.
Zurück zur Flaniermeile zwischen Dom und Marathon-Läufer-Denkmal. Viele Jahre, nachdem er Kosice als Partner von Wuppertal vorgeschlagen hatte, wurde der ehemalige tschechoslowakische Außenminister Chnoupek gefragt, ob die so überaus große Entfernung zur West-Grenze den Ausschlag dafür gegeben habe, dass er sich für diese und keine andere Stadt entschieden habe. Seine Antwort: "Ach was. Ich hatte aus meiner Studentenzeit so wunderbare Erinnerungen an den Korso von Kosice. Da war ich sehr verliebt." In solchen Fragen haben sich die Zeiten nicht geändert.
Ernst-Andreas Ziegler
Ernst-Andreas Ziegler lebt als Autor und Kommunikationsberater in Wuppertal.