Komm", sagt der Mann im grünem Overall zur kleinen Sonja aus der Steiermark, wirft Ancka, dem scheckigen Pony, das Zaumzeug um und einen Sattel über und nimmt sich den Papa vor. "Da festhalten", sagt er und packt gleich neben dem Maul in die Trense. "Kurz!" Hier leben keine Freunde vieler Worte. Dafür führt Sonjas Ritt auf dem Pony geradewegs durch das Pferdeparadies. Hufe scharren, Nüstern blasen, der Wind wirbelt weiße Mähnen auf. Überall starke Rösser mit sanftem Auge und kühn geschwungenem, breitem Rücken - Koppel für Koppel ein neuer Himmel. Hier leben die Lipizzaner.
Lipizzaner kommen, wie der Name sagt, aus Lipizza. Den Ort gibt es wirklich. Er liegt ein paar Kilometer von Triest, wird heute Lipica geschrieben, aber immer noch Lipizza gesprochen und ist, wie man erwarten darf, voller weißer Pferde. Auf einer Hochebene, von der man die Alpen und das Meer sehen kann, stehen auf kargem Grund Linden, Eichen und Pinien lose in lichtem Abstand, durchzogen von schmalen Wegen und hundertjährigen Alleen, über die kräftige, etwas gedrungene Schimmel galoppieren. Lipica ist trotz seines großen Namens im Norden wenig bekannt, gehört aber mit der Camargue zu den klassischen Pferdeparadiesen Europas - eine Landschaft wie gepflanzt, die Bäume so sorgfältig verteilt wie die venezianisch anmutenden Karstbrunnen, über die dauernd der kräftige Bura weht, der Wind der Adria. Am Rande eines Pinienhains liegen großzügig angeordnet die Ställe. Sogar die beiden Hotels haben sich den stolzen, alles beherrschenden Bäumen untergeordnet. Obwohl viel besucht, ist Lipica doch etwas für Entdecker. Es liegt in einem vergessenen Winkel des alten Mitteleuropa. Nicht weit von hier sind Rilkes "Duineser Elegien" entstanden. Sie sind unter Freunden der Poesie so beliebt wie die Lipizzaner unter den Pferdekennern. Aber von Duino weiß man in Deutschland so wenig wie von Lipica.
Lipica ist nicht nur das älteste Lipizzanergestüt, sondern wahrscheinlich die älteste Pferdezuchtstätte der Welt. Als es im Jahre 1580 gegründet wurde, lag es in "Innerösterreich". Im Karst lebten damals noch Wildpferde, und zwar besonders starke, schnelle und ausdauernde. Der Erzherzog Karl brauchte starke Rösser für die Ställe seiner Grazer Residenz. Er ließ hoch gezüchtete Pferde aus Spanien heranschaffen und sie mit den Ur-Lipizzanern kreuzen. Vom 18. Jahrhundert an belieferte Lipizza die Spanische Hofreitschule zu Wien. Von dort ging der Ruhm seiner Pferde über die ganze Erde. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, als die Welt der europäischen Fürsten in Turbulenzen geriet, begann für das Gut eine wechselvolle Geschichte: In den napoleonischen Kriegen mussten die Pferde dreimal umziehen - das erste Mal nach Stuhlweißenburg, dann nach Djakovo in Kroatien, schließlich ins südungarische Mezöhegyes.
Die Reisewege geben eine Vorstellung von der damals ganz anders aufgeteilten Landkarte in diesem Teil des Kontinents. Wo wir heute Nationalstaaten sehen, war alles in einem Reich vereint. Ein bisschen etwas von dieser Einheit hat sich erhalten. Die Lipizzaner gehören dazu. Alle ihre Gestüte sind in einer Weltföderation vereinigt. Die Ortsnamen der prominentesten Mitglieder stecken noch heute die Grenzen der alten k.u.k.-Monarchie ab: Piber in der Steiermark, Karadjordjevo in der heute serbischen Wojwodina, Janow beim polnischen Tschenstochau, Kladruby in Böhmen - alle sind sie wie die Filiationen eines Ordens mit dem "Mutterhaus" in Verbindung. Zu Turnieren kommen sogar Clubs aus Rumänien. Das Netz der Lipizzanergestüte ist ein wichtiges Element eines kaum bekannten österreichisch-ungarischen Commonwealth, der die Ost-West-Konfrontation überdauert hat. Politisch organisiert ist er in der Central European Initiative, deren Mitglieder ihre Staatschefs zu jährlichen Treffen schicken.
Wenn Wien immer die Hauptstadt des Balkans blieb, war Lipica sein Marstall. Dabei unterstand der Ort, der heute nur noch aus Gebäuden des Gestüts besteht, allein in diesem Jahrhundert fünf Souveränen: Bis 1918 gehörte es zu Österreich, dann zu Italien, nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1947 zum "autonomen" Triest, dann zu Jugoslawien, seit 1991 zu Slowenien - die Besetzung durch deutsche und später durch englisch-amerikanische Truppen noch gar nicht mitgerechnet. Bei allen Wechselfällen wurde die Zuchttradition nie unterbrochen. Die Zuchthengste und -stuten tragen noch immer die großen Namen ihrer Vorfahren: Maestoso, Conversano, Neapolitano oder Betalka, Slavina und Dubovina.
Früher wurde in Lipizza nur gezüchtet, und auch als das Gestüt nach Jugoslawien kam, gab es dort für die geborenen Dressurpferde noch keine Schule. Erst viel später machte Lipica selber eine auf, denn die Zuchtpferde ließen sich mit Leistungsprüfung in der "klassischen Reitkunst" viel besser verkaufen. Inzwischen stellt das Gestüt weltberühmte Trainer und Dressurreiter wie Stojan Moderc, Olympia-Pferde wie den schönen Hengst Maestoso Allegra, richtet Weltcupturniere und Europameisterschaften aus und hatte außer natürlich Tito schon den Schah und den Prinzen Sihanouk zu Gast. Das Paradies für Pferde wurde auch eines für Reiter: Heute kann man hier auf 30 echten Lipizzanern Reitstunden nehmen, vom ersten Mal im Sattel bis zur schwersten Dressurprüfung. Die Reitergäste aus Deutschland, Österreich, Holland oder der Schweiz wohnen in zwei Hotels, dem Maestoso, einem Bauwerk der Jugo-Moderne aus den 70er-Jahren, oder dem moderneren Klub-Hotel. Lipica liegt ein paar 100 Meter von der italienischen Grenze. Ein Abstecher nach Lipica lohnt sich auch für Badeurlauber. Man kann einen Hengststall aus dem Jahre 1703 besichtigen, die Kinder auf Ponys reiten lassen, sich mit Kutschen durch die Parklandschaft fahren lassen, die Galerie des Malers Avgust Cernigoj anschauen oder einfach 200 Pferde bestaunen: Ein besonders schöner Anblick sind im Frühjahr die rabenschwarzen Fohlen, die wie wild neben ihren schneeweißen Müttern herrennen. Lipizzaner werden schwarz geboren und im Alter von drei bis sechs Jahren erst grau und dann zu echten Schimmeln.
In Lipica gibt es 40 Zuchtstuten. Noch heute übrigens besteigt der stolze Hengst in wilder Leidenschaft seine edle Stute, unter den kritischen Blicken erfahrenen Züchterpersonals - künstliche Besamung gibt es nicht. Lipizzaner sind wie andere so genannte Barockrassen zur Zeit modern und gefragt. Sie leben lange, gelten als robust und leicht zu pflegen und werden als ideale Familienpferde angepriesen, ein Tier bringt im Verkauf mindestens 5.000 Euro. Eines trägt rechts an der "Genasche", der Wange, das Brandzeichen "L" - eine umkämpfte Marke, auf die das Gestüt Lipica den Alleinvertretungsanspruch erhebt.
Auch ohne Brandzeichen und Züchter-Rassismus kennzeichnet Stolz die Tiere, die sich vom Karstboden, den vielen Herren und den Touristen nicht haben beugen lassen. Wenn dem Pony Ancka die Reitbahn zu öd wird, beknabbert es zur Freude der kleinen Reiterin die Hecke. Lipizza ist unser, mag es denken, wenn Sonjas Vater verzweifelt an der Trense zerrt. Der Name verpflichtet. Norbert Mappes-Niediek