Im Streit um die Errichtung einer Stiftung, die sich mit der Aufarbeitung von Vertreibungen und ihren Folgen im vergangenen Jahrhundert in Europa beschäftigen soll, ist ein Argument nicht zu widerlegen: Würde eine derartige Einrichtung ausschließlich oder auch überwiegend von deutschen Vertriebenen getragen und vielleicht auch noch ihren Sitz in Berlin haben, wie es Erika Steinbach und Peter Glotz anstreben, würde sie nolens volens, selbst wenn sie nur das Richtige täte, in den Verdacht geraten, das Schicksal der deutschen Vertriebenen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu rücken, deren Leiden überzubewerten, Aufrechnungen vorzunehmen und einseitige Geschichtsbilder zu verbreiten. Die Bundesregierung lehnt daher einen solchen Weg ab. Im europäischen, vor allem osteuropäischen Ausland stößt er auf großes Misstrauen.
Nun wird eine klare und auch dringend notwendige Alternative ins Auge gefasst. Am 11. und 12. März hat sich im Anschluss an eine internationale wissenschaftliche Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn mit Teilnehmern aus acht europäischen Ländern ein Initiativkreis für ein "Europäisches Netzwerk: Zwangsmigrationen und Vertreibungen im 20. Jahrhundert" konstituiert, dessen Ziele in einer "Bonner Erklärung" formuliert wurden. Dieses Netzwerk soll in mehrjähriger Vorarbeit die Gründung einer "Europäischen Stiftung" gleichen Namens vorbereiten.
Es ist eine historisch unumstößliche Tatsache, dass den Vertreibungen der Deutschen die Verbrechen Nazi-Deutschlands vorausgingen. Das Recht jeder Nation, ihrer Opfer zu gedenken und um sie zu trauern, so die Präsidenten Polen und Deutschlands, Kwasniewski und Rau, in ihrer Danziger Erklärung vom Oktober 2003, darf aber, um der Einigung Europas willen, nicht zu gegenseitigen Schuldvorwürfen bei der Aufarbeitung der Vergangenheit führen. "Vielmehr sollte die Geschichte gemeinsam erinnert werden", heißt es daher auch in der "Bonner Erklärung". Erinnerung und Aufarbeitung der Vertreibungsgeschichte seien eine europäische Aufgabe. Dazu gehöre, "nationale Geschichtsbilder füreinander zu öffnen, um die aufkeimenden Ansätze eines europäischen Geschichtsbewusstseins in seiner ganzen Vielfalt zu befördern".
Die zu gründende Stiftung soll die entsprechenden Aktivitäten auf den nationalen Ebenen einschließlich der heute schon aktiven grenzüberschreitenden zivilen Initiativen vernetzen, entwickeln und fördern, "nicht zuletzt in der Gedenk- und Mahnmalkultur". Sie ist offen für alle Personen und Institutionen, "die sich diesem Thema in europäischer Perspektive verpflichtet fühlen". Um eine "gesamteuropäische Öffentlichkeit" zu stimulieren, soll die Stiftung Konferenzen und Tagungen veranstalten, transnationale Forschungsprojekte, Ausstellungen und Dokumentationen anregen und fördern, Informationsmaterialien für Wissenschaft und Bildung erstellen und ein gemeinsames Internetportal einrichten.
Die Dauerfinanzierung soll nicht national, sondern durch europäische und internationale Institutionen erfolgen. Nationale Anlauffinanzierungen sind wünschenswert. In ein zu schaffendes Leitungsgremium sollten durch die jeweiligen Staatsoberhäupter fachlich ausgewiesene Persönlichkeiten aus den einzelnen Ländern berufen werden.
Der Initiativkreis sieht eine gründliche Vorbereitung der Stiftungsgründung durch Schaffung mehrerer Netzwerke vor. Eine erste Kontaktstelle für die Schaffung eines Netzwerkes entsteht jetzt am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte (Prof. Dr. Karl Schlögel) an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), die eine internationale Konferenz zum Migrationsthema und die Herausgabe einer Europäischen Enzyklopädie zu den Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert projektiert. Ein zweites Netzwerk der Orte des Geschehens und der Erinnerung wird vorbereitet. Der Initiativkreis schlägt schließlich die Gründung einer "International Society for Forced Migration History" vor, welche die Arbeit der verschiedenen Netzwerke koordinieren und schließlich die Errichtung der "Europäischen Stiftung" vorbereiten soll.
Die "Bonner Erklärung" haben 26 der angesehensten europäischen Wissenschaftler unterzeichnet. Angesichts des hochsensiblen Themas, das immer noch Verletzungen schafft, Misstrauen regeneriert und neue Empfindlichkeiten bei allen Beteiligten weckt, gehen die Bonner Initiatoren behutsam vor. Nur dieser Weg kann zu gesamteuropäischer Verständigung auch in diesen Fragen führen.