Manche politischen Ereignisse vollziehen sich so rasend schnell, dass man sich im Nachhinein verdutzt fragt, was überhaupt passiert ist. Wenige Wochen vor dem 25-jährigen Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes wurde die Bundesrepublik von einem Spionagethriller wie aus dem Groschenroman erschüttert. In der Nacht zum 24. April 1974 wird der Referent im Bundeskanzleramt, Günter Guillaume, verhaftet, kurz darauf auch dessen Frau. Beide spionierten als Agenten für die DDR. Die Öffentlichkeit ist geschockt. Zwei Tage später diskutiert der Bundestag bereits in einer Aktuellen Stunde über die spektakuläre Enttarnung, nur zwei Wochen später tritt Willy Brandt (SPD) als Kanzler zurück. Die Öffentlichkeit ist konsterniert. Mit der Demission Brandts endet eine Ära: Die sozial-liberale Reformpolitik ist Geschichte, die Aufbruchsstimmung in der Gesellschaft der späten 60er- und frühen 70er-Jahre weicht einer skeptischeren Grundtendenz.
Was war geschehen? Günter Guillaume war 1956 in die Bundesrepublik gekommen - als vermeintlicher Flüchtling aus der DDR. In Wahrheit steht der Hauptmann der Nationalen Volksarmee in den Diensten der Stasi. Sein Auftrag: Informationen über die Parteiarbeit der SPD beschaffen. Guillaume arbeitet sich erfolgreich die Karriereleiter hinauf. 1970 kommt er schließlich als Referent ins Bundeskanzerlamt, zwei Jahre später steigt er zum persönlichen Referenten von Willy Brandt auf. Im Mai 1973 erhält das Bundesamt für Verfassungsschutz erste Hinweise auf seine Agententätigkeit. Dennoch begleitet Guillaume Brandt noch im Juli des selben Jahres bei dessen Urlaubsreise nach Norwegen. Dort bekommt der Spion Gelegenheit, geheime Dokumente zu lesen.
Die lange Zeit, die der damals 47-Jährige am Puls der Macht mit Wissen des Verfassungschutzes und des Kanzlers schnüffeln konnte, erklärt Bundesjustizminister Gerhard Jahn (SPD) in der Aktuellen Stunde des Bundestages damit, dass nur so genügend Beweise für die Spionagearbeit des Referenten gesammelt werden konnten. Gleichzeitig seien natürlich "von den Sicherheitsbehörden unverzüglich Überwachungs- und Abwehrmaßnahmen getroffen" worden. Zwar ist laut Gerhard Jahn sicher, dass Guillaume seit seiner Einreise "ständig nachrichtendienstlich interessantes Material" gesammelt und weitergegeben hat. Der genaue Umfang von dessen Agententätigkeit ist jedoch bis heute ungeklärt.
Willy Brandt reagiert geschockt und "menschlich tief" enttäuscht über die Machthaber in Ost-Berlin, denen er mit seiner Entspannungspolitik erst geholfen hatte, die lang versagte internationale Anerkennung im Westen zu bekommen. "Wie andere Behördenchefs" sei auch er davon ausgegangen, dass die Sicherheitsüberprüfung seines Referenten "von den zuständigen Stellen im Rahmen des Möglichen durchgeführt werde", so Brandt vor dem Bundestag. Am 6. Mai verfasst der Kanzler seinen knapp formulierten Rücktrittsbrief, in dem er "die politische Veranwortung für die Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffaire Guillaume" übernimmt. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schreibt später von einem "Eindruck von Nachlässigkeit und Eile" bei der Sicherheitsüberprüfung.
Als einen "Schaden für uns alle" bezeichnet Oppositionsführer Karl Carstens (CDU) den spät entdeckten Spionagefall: "Niemand kann über diesen Fall Genugtuung empfinden." Der Vorsitzende der Unionsfraktion kritisiert jedoch die "Austauschpraxis" der Bundesregierung, die seiner Einschätzung nach enttarnte Agenten bereits kurz nach deren Verhaftung in die DDR abschiebe. Deswegen sei das mit der Spionagetätigkeit in der Bundesrepublik verbundene Risiko "nahezu gleich Null".
Das Ehepaar Guillaume, das im Dezember 1975 wegen schweren Landesverrats zu langen Haftstrafen verurteilt wurde, musste bis 1981 auf seine Begnadigung und umgehende Abschiebung warten. 1985 erhielt der Top-Spion für seine Agententätigkeit die Ehrendoktorwürde der Universität Potsdam. In Bonn wird am 16. Mai 1974 der bisherige Finanz- und Wirtschaftsminister Helmut Schmidt (SPD) Kanzler, am Tag zuvor war bereits Außenminister Walter Scheel zum Bundespräsidenten gewählt worden.
Bis heute wird der rasche Rücktritt von Willy Brandt, den viele Beobachter in In- und Ausland als übertrieben ansahen, als vorbildhaftes Verhalten gewürdigt. Fraglich ist aber, ob der Kanzler, der innenpolitisch durch die angespannte wirtschaftliche Lage und innerparteilich durch Streitigkeiten zwischen den beiden SPD-Flügeln unter starkem Druck stand, die öffentliche Diskussion über den Spionagefall überhaupt hätte überstehen können. Bert Schulz