Am 1. Mai 2004 wird die größte Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union vollzogen. Zehn neue Mitgliedstaaten werden in Zukunft an den Entwicklungen und Errungenschaften der EU teilhaben und mitwirken. Auf der Kopenhagener Konferenz 1992 wurde den ost- und mitteleuropäischen Reform-Staaten das Angebot gemacht, der damaligen Europäischen Gemeinschaft beizutreten, und am 13. Dezember 2002 wurde es für acht osteuropäische Länder, Zypern und Malta Wirklichkeit - ein Datum, das in die Geschichte Europas eingehen wird.
Seit langer Zeit ersucht auch die Türkei um Aufnahme der Beitrittsverhandlungen. Zentrale Frage auf politischer Ebene ist neben der europäischen Identität auch, ob die Türkei grundsätzlich beitreten solle. Die Türkei ist seit vielen Jahren ein wichtiger Partner für Europa. Bereits 1964 trat ein Assoziierungsabkommen zwischen der Türkei und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Kraft, das auch den Beitritt des Staates zur Wirtschaftsgemeinschaft in Aussicht stellte. Ende der 80er-Jahre stellte die Türkei einen Antrag zum Beitritt der Europäischen Gemeinschaften, der zunächst abgelehnt wurde. Aber an einer generellen Beitrittsfähigkeit der Türkei wurde festgehalten. Die erneute Ablehnung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei im Zuge des Kopenhagener Gipfels war aber keine endgültige Entscheidung, sondern lediglich eine Verschiebung, um Zeit für die Entwicklung der Türkei zu gewinnen.
In diesem Jahr werden die Reformen der Türkei geprüft, um zu entscheiden, ob konkrete Beitrittsverhandlungen mit dem Land aufgenommen werden können. Aus verschiedenen Gutachten und Fortschrittsberichten der letzten Zeit geht hervor, dass die Türkei trotz beachtlicher Fortschritte noch erhebliche Zeit benötigen wird, um die Kopenhagener Kriterien wertlich und praktisch zu erfüllen.
Während wirtschaftliche Ziele erst zum Zeitpunkt des Beitritts erreicht sein müssen, sollten in der Türkei entscheidende politische Ziele, wie die Schaffung einer demokratischen Regierung und die Einhaltung der Menschenrechte bereits vorher weitgehend realisiert sein. Davon ist der Staat bisher weit entfernt. Es wird prognostiziert, dass eine Erfüllung dieser politischen Kriterien von Seiten der Türkei in vorgegebener Zeit wenig wahrscheinlich sei. Gerade aber die Menschenrechte und die Demokratie sind die Grundsteine des Europäischen Gedankens. Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft, die für Freiheit, Demokratie und die Rechte des Individuums steht. Die Mitgliedstaaten sollen in ihrer Vielfalt geeint in einem Europa des Friedens miteinander leben.
Es besteht auch die Frage, wie weit die Integrationskraft der Europäischen Union strapaziert werden kann. Die Bindekraft der Union darf nicht durch eine zu weit gehende Erweiterung beschädigt werden. Die Europäische Union muss vielmehr Fantasie entwickeln, um andere Optionen als die Vollmitgliedschaft zu entwickeln. Dazu gehört zum Beispiel das Angebot eines Europäischen Wirtschaftsraumes an europäische Staaten, die für längere Zeit der EU nicht beitreten wollen, sollen oder können. Das Konzept der "Privilegierten Partnerschaft" statt eines Beitritts geht weit über die zwischen der EU und der Türkei eingegangene Zollunion hinaus. Eine alle Gütergruppen umfassender Wirtschaftsraum könnte geschaffen werden. Weitere Länder, wie Rumänien und Bulgarien, sitzen bereits in den Startlöchern für einen Beitritt.
Doch mit der Erweiterung kommen auf die Union auch neue Herausforderungen zu, die es zu bewältigen gilt. Es wird schwieriger werden, Entscheidungen und Kompromisse zu finden. Diese Umstände machen eine Europäischer Verfassung, die der Konvent in Brüssel in einem Zeitraum von 18 Monaten verhandelt und ausgearbeitet hat, unumgänglich. Auch die europäische Identität wird eine Verfassung, die werteorientiert ist, für Europa fördern. Dieser Grundgedanke muss auch im Europa der 25 zunächst wachsen. Die Türkei ist aber derzeit am weitesten von solchen Werten entfernt.
Die Machtverhältnisse in der EU werden als Folge der EU-Erweiterung eine Änderung zugunsten der von Kohäsionsfonds geförderten Länder erfahren, was durch einen Beitritt der Türkei in hohem Maße verstärkt würde. Auf interne EU-Prozesse hätte eine Mitgliedschaft des Staates entscheidende Auswirkungen. Die Türkei hätte als zweitgrößter EU-Staat den gleichen Einfluss wie Deutschland, aber nur einen sehr geringen Anteil am BIP der Europäischen Union.
Eine Aufnahme der Türkei in die EU würde den finanziellen Rahmen der EU sprengen. Selbst wenn keine weitere makroökonomische Krise den Staat erschüttern wird, kann frühestens in zehn Jahren von einer Erfüllung der wirtschaftlichen Kriterien die Rede sein. Die - aufgrund des enormen wirtschaftlichen Abstandes zwischen der Türkei und der EU - erforderlichen umfassenden Reformen sind auf den Weg gebracht, für das Hier und Heute müssen jedoch andere Wege der Kooperation zwischen den europäischen Staaten und der Türkei gefunden werden.
Eine Alternative zum Beitritt des Türkischen Staates stellt die bereits erwähnte privilegierte Partnerschaft, bilateral oder im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums, dar. Insbesondere im Bereich der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der Gesellschafts- und Sozialpolitik sowie Forschung und Kultur könnte die Türkei involviert werden, ohne eine Vollmitgliedschaft zu gewähren. Diese Partnerschaft würde an die Zusagen, die die Türkei von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erhalten hat, anknüpfen.
Diese wirtschaftlich und politisch für beide Seiten interessante Lösung wird es möglich machen, Zeit für notwendige Reformen sowohl auf türkischer als auch auf europäischer Seite zu gewinnen. Der grundsätzliche Unterschied der politischen Traditionen und die Kluft, die noch zwischen den Werten der EU und der Realität in der Türkei besteht, macht es unmöglich, entsprechend den Regeln mit Verhandlungen zu beginnen. Dies ist keine Diskriminierung, sondern das normale Verfahren. Aus demselben Grunde wurde 1997 der Slowakei auf dem Luxemburger Gipfel die Aufnahme von Verhandlungen verweigert.
Elmar Brok
Elmar Brok (CDU) ist Mitglied des Europäischen Parlamentes und Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, Menschenrechte, gemeinsame Sicherheit und Verteidigungspolitik.