Im kommenden Jahr feiert das Zentrum für Türkeistudien (ZfT) sein 20-jähriges Bestehen. Was als ein Institut der Gesamthochschule Essen begann, hat sich zu einem Mittler zwischen der Türkei und Deutschland entwickelt. Als das Zentrum 1985 als Institut der Gesamthochschule Essen gegründet wurde, war die damalige Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl gerade zwei Jahre im Amt und darum bemüht, vor allem türkische "Gastarbeiter" durch das Zahlen von Rückkehrprämien zur Remigration in die Türkei zu bewegen.
In nicht wenigen Fernsehsendungen konnte man seinerzeit stolze türkische Heimkehrer bewundern, die dank ihrer Ersparnisse und der Rückkehrerprämie ein Café in Antalya oder eine Tankstelle im anatolischen Bergland gegründet hatten. Die Türkei selber war kein Land, von dem man glaubte, dass es jemals in die EU aufgenommen werden könnte: In Ankara herrschten Generäle, und knapp ein halbes Jahrzehnt zuvor hatten bürgerkriegsähnliche Zustände das Land erschüttert. Die Türkei war ein etwas obskurer NATO-Partner, das kaum ein Deutscher je besucht hatte, und das Bild von den in Deutschland lebenden Türken war von Günter Wallrafs Buch "Ganz unten" geprägt, in dem der Kölner Journalist zu Recherchezwecken in die Rolle des Türken Ali geschlüpft war: schnauzbärtige Verlierertypen, ausgebeutet und sprachlos.
Die Aufgaben des Zentrums lagen damals darin, diesem Bild Wissen über das unbekannte Land entgegenzusetzen. Dazu regte es Forschung über die Türkei an, förderte den Wissenschaftleraustausch und organisierte Tagungen. Doch ZfT-Direktor Faruk Sen war das zu wenig. Er erschloss schnell neue Aufgabenfelder für das Zentrum: Schon bald wurde die politische, soziologische und wirtschaftliche Entwicklung ebenso zum bestimmenden Thema wie die Migrationsforschung. Sen, der vor seiner Tätigkeit an der Universität Essen bei der Stadt Duisburg Maßnahmen zur Berufsvorbereitung und Integration junger Ausländer leitete, wollte auch nicht länger nur in das akademische Milieu hineinwirken: "Für mich war immer wichtig, das Zentrum zu einem Mittler zwischen der Türkei und Deutschland, zwischen den Türken und Deutschen auszubauen."
Obwohl Mitte der 80er-Jahre fast zwei Millionen Türken in Deutschland lebten, nahm die Öffentlichkeit kaum Notiz von ihnen. Sie waren für die Deutschen weitgehend unbekannt. Mit einer Reihe von Forschungsprojekten sorgte das Zentrum dafür, dass das Bild der Deutschen über die Türken sich zu verändern begann: Weg von Wallfrafs Bild des wehrlosen Opfers, hin zu Menschen mit zum Teil gar nicht so anderen Vorstellungen und Wünschen, wie sie die deutsche Mehrheitsbevölkerung teilten.
Das Zentrum profitierte dabei von einem seit den 80er-Jahren einsetzenden, eher zögerlich begonnenen Bewusstseinswandel - sowohl bei den Deutschen als auch bei den Türken: Die Deutschen begannen einzusehen, dass ihr Land längst zum Einwanderungsland geworden war, und die in Deutschland lebenden Türken gestanden sich in immer größerer Zahl ein, dass sie wohl nicht wieder in ihr Heimatland zurückkehren werden.
Gleich von Beginn an widmete sich das Zentrum für Türkeistudien, das seit 2001 von der Gesamthochschule Essen unabhängig als Stiftung existiert, türkischen Unternehmern in Deutschland. Schon 1986 erschien eine erste Studie zu diesem Thema. Mittlerweile kann das Zentrum selbst auf eine lange Geschichte der Förderung der Selbstständigkeit türkischer Migranten zurückblicken: Es beheimatete die regionale Transferstelle zur Förderung selbstständiger Migranten in NRW, war aktiv beim ersten türkisch-europäischen Unternehmerkongress Eurokon in Dortmund und berät türkischstämmige Unternehmer, wenn es um die Schaffung von Ausbildungsplätzen geht. "Es ist uns wichtig zu zeigen", so Sen, "dass ein großer Teil der Migranten mittlerweile in der Mitte der bundesrepublikanischen Gesellschaft angekommen ist. Viele haben hier Unternehmen gegründet und hunderttausende Arbeitsplätze geschaffen. Immer mehr schaffen sich Immobilien an und beantragen die deutsche Staatsbürgerschaft."
Doch dass das Verhältnis Deutschlands zur Türkei und den Türken noch immer nicht so normal ist, wie das zu Polen und Frankreich, spürt Faruk Sen vor allem bei zwei Themen, zu denen er sich als Experte häufig in den Medien äußern muss. Seit dem 11. September wird er häufig zu Themen wie dem islamistischen Terror und dessen mögliche Sympathisanten unter den in Deutschland lebenden Muslimen gefragt, eine Problematik, bei der er für Augenmaß plädiert: Er sieht die Gefahr des islamistischen Terrors, spricht sich für die Ausweisung von Extremisten wie Metin Kaplan, dem so genannten Kalifen von Köln, aus, weist aber unbeirrt darauf hin, das solcherlei Gestalten unter den Muslimen in Deutschland kaum Anhänger haben. Sen und das Zentrum für Türkeistudien stehen am ehesten dem von Bassam Tibi propagierten Euro-Islam nahe und sehen ihn in der strikten Trennung von Staat und Religion, wie sie Atatürk in der Türkei einführte.
Auch die immer intensiver geführte Debatte um den EU-Beitritt der Türkei wird vom Zentrum für Türkeistudien begleitet. Das ZfT tritt nicht nur als neutraler Beobachter auf, der mit Umfragen und Studien das Thema begleitet, sondern auch als Partei, die sich für den EU-Beitritt unter der Bedingung, dass die Türkei alle Auflagen erfüllt, eintritt. Aktiv unterstützt das Zentrum den Annäherungsprozess durch die Schaffung von Kontakten, über die es selbst in alle politischen Lager hinein und in die Wirtschaft verfügt. Es vermittelt zwischen der Europäischen Union, Deutschland und der Türkei, ist längst über die Rolle des Hochschulinstituts hinausgewachsen, als dass es einmal begonnen hat: Es hat sich zum einflussreichen Player der deutsch-türkischen Beziehungen entwickelt. Stefan Laurin