Die Wiederherstellung polnischer Souveränität 1989/90 war die entscheidende Voraussetzung dafür, dass nunmehr in Polen eine wissenschaftliche Erforschung des Schicksals der deutschen Bevölkerung östlich von Oder und Neiße beginnen konnte, und zwar in völliger Befreiung vom Balast politischer Bevormundung. Wlodzimierz Borodziej, Historiker und hervorragender Kenner der Vertreibungsgeschichte, gibt zusammen mit dem deutschen Osteuropaexperten Hans Lemberg die bisher umfangreichste Quellensammlung in Polen über die Vertreibung der Deutschen heraus.
Es sind offizielle Dokumente aus polnischen Archivbeständen der Zentralbehörden in Warschau und der lokalen Autoritäten in den einzelnen Wojewodschaften nach der administrativen Einteilung unmittelbar nach Kriegsende. Die katholische Kirche hat ihre Archive bisher nicht zur Verfügung gestellt. Die gesamte Dokumentation wird vier Bände umfassen. Sie erscheint in Polen und in Deutschland, der polnische Titel lautet "Die Deutschen in Polen 1945-1950"; hier spiegeln sich deutsche und polnische Positionen wider. Allen Bänden ist oder wird eine zweisprachige Karte beigefügt, die für die Erarbeitung der Texte und Dokumente unverzichtbar ist.
Als wichtigsten Bezugspunkt für ihre Arbeit bezeichnen die Herausgeber "Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa", die 1953-62 das damalige Vertriebenenministerium in Bonn herausgegeben hatte. Eine Gegenüberstellung beider Perspektiven sowie eine erneute Reflexion über die in der Dokumentation enthaltenen Berichte von Betroffenen wird von den Herausgebern für dringend erforderlich gehalten. Das wäre ein weiterer Schritt zur Versachlichung der Diskussion über Vertreibung, Aussiedlung und Umsiedlung der Deutschen. Zugleich kann registriert werden, dass die unterschiedlichen Bezeichnungen für denselben Vorgang Deutsche und Polen nicht mehr so trennen - Hardliner auf beiden Seiten ausgeschlossen.
Der Aufbau des jetzt erschienenen zweiten Bandes gliedert sich wie folgt: für Zentralpolen - stellvertretend sind es die Wojewodschaften Warschau, Lodz und Krakau - und für Oberschlesien wird zunächst die Quellenlage vorgestellt und dann die Geschichte der deutschen Besiedlungen behandelt. Es folgt der jeweilige Dokumententeil, insgesamt sind es 377; sie stammen ausnahmslos aus den Jahren ab 1945, den Anfängen polnischer Staatlichkeit.
Die Geschichte der Deutschen in beiden Regionen ist unterschiedlich; in Oberschlesien lebten seit der mittelalterlichen Ostsiedlung im 13. und 14. Jahrhundert Deutsche, die mit den slawischen Einwohnern zum Neustamm der Schlesier verschmolzen, die östlichen Randgebiete blieben slawisch-polnisch geprägt. Die deutschen Siedlungsinseln in Zentralpolen gehen überwiegend auf Aktivitäten der Teilungsmächte Preußen und Österreich im 19. Jahrhundert zurück. Stellvertretend wird das Textilzentrum Lodz genannt.
Unverzichtbar zum Verständnis der Quellen ist die Beschreibung der ethnischen Verhältnisse in Oberschlesien; Deutsche, Polen, Autochthone bildeten eine Mischung mit einer eigenen schlesischen Identität bis in die Gegenwart. Die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik versuchte hier - häufig vergeblich - durch die Einführung einer Deutschen Volksliste eine Entpolonisierung zu erreichen.
Nach Kriegsende kam es in Oberschlesien zu wahrhaft chaotischen Verhältnissen; Willkür, Terror, Rechtlosigkeit und Arbeitslager für die deutsche Bevölkerung, ernsthafte Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen Roter Armee und polnischen Autoritäten, langsamer Beginn polnischer Staatlichkeit, Anfänge der ersten Aussiedlungen (Vertreibungen) der Deutschen, der Einzug von polnischen Repatrianten aus dem ehemaligen Ostpolen und Übersiedlern aus Zentralpolen sowie von Rückkehrern aus Deutschland und Westeuropa, die Feststellung der Staatsangehörigkeit, Verbote der deutschen Sprache unter dem Stichwort Bekämpfung des Deutschtums - dies alles wird deutlich durch die Dokumente und durch eine schonungslose Darstellung in der Einführung. Sie endet mit der Aussage, dass es den polnischen Behörden trotz gegenteiliger Aussage zu keinem Zeitpunkt gelungen war, die deutsche Frage endgültig zu lösen. Das zeigte nach 1989 das Auftauchen einer bis dato geleugneten deutschen Volksgruppe in Oberschlesien.
Das Kapitel Zentralpolen beschreibt schwerpunktmäßig die Jahre 1918-1950, das Ende der "Aussiedlung" der Deutschen. Der Leser erhält ein deutliches Bild von den Volkstumskonflikten in der Zwischenkriegszeit, von der NS-Besatzungspolitik mit Massenvertreibungen von Polen und Ansiedlungen Volksdeutscher aus dem Baltikum, Wolhynien und anderen Regionen Osteuropas. Schließlich beschreiben Text und Dokumente die Jahre nach 1944/45. Eine möglichst schnelle Entdeutschung bei völliger Rechtlosigkeit der Betroffenen steht im Widerspruch - wie in Schlesien - zum Bedarf an Arbeitskräften für Wiederaufbau, Industrie und Landwirtschaft.
Fazit: jede Darstellung der Vertreibung in Deutschland und in Polen muss künftig diese Dokumentationen berücksichtigen. Eine komprimierte Sammlung deutscher und polnischer Quellen für den Schulgebrauch ist jetzt möglich. Die präsentierten Dokumente aus polnischen Archiven können einen Beitrag dazu leisten, dass der deutsch-polnische Antagonismus der letzten zwei Jahrhunderte weiter abgebaut wird und damit der Zeitpunkt gekommen ist, die wechselseitigen Feindbilder der Vergangenheit durch Aufarbeitung zu überwinden. Karlheinz Lau
Wlodzimierz Borodziej, Hans Lemberg (Hrsg.)
Die Deutschen östlich von Oder und Neiße -
Dokumente aus polnischen Archiven.
Band 2, Zentralpolen, Wojewodschaft Schlesien (Oberschlesien).
Verlag Herder-Institut, Marburg 2003; 768 S., 75,- Euro