Die politischen Entwicklungen der letzten Dekade haben für die Europapolitik Bedingungen, Herausforderungen und Probleme geschaffen, die sich grundsätzlich von denen früherer Jahre unterscheiden. Das Ende des Ost-West-Konflikts und die damit ermöglichten Osterweiterungen, die ökonomische Erstarkung der EU und die Schaffung der Europäischen Währungsunion, die fortschreitende Globalisierung der Weltwirtschaft und die Veränderungen in der globalen Machtstruktur haben dem europäischen Integrationsprozess eine neue Qualität gegeben. Sie hat der EU und ihren Mitgliedstaaten politische Möglichkeiten eröffnet, wie sie bislang nicht existierten.
Diese wie auch die weitreichenden inneren Veränderungen der EU mit und nach den Maastrichter Verträgen lassen zu Recht die Frage stellen, ob Konzepte, Strukturen und Strategien der "alten" EU den neuen Aufgaben gerecht werden können oder ob das "neue" Europa nicht nur seine politische Agenda neu konzeptionieren muss, um das alte Selbstverständnis des Integrationsprozesses und des "Europe-buildings" wiederzubeleben und in moderner Form umzusetzen.
Das von Johannes Varwick und Wilhelm Knelangen herausgegebene Buch hilft hierbei in mehrfacher Hinsicht. Es stellt eine Bestandsaufnahme der Geschichte und der politischen Natur des Integrationsprozesses dar, arbeitet seine strukturelle und aktuelle Problematik heraus, diskutiert die vorhandenen Politikentwürfe und -optionen und kommt zu politischen Empfehlungen für eine Fortsetzung beziehungsweise Wiederbelebung der Integrationsdynamik.
Im Sinne der klassischen deutschen Europapolitik und Europaforschung tut es dies mit einer klaren pro-integrationistischen Absicht und einer klaren Zuweisung der politischen Verantwortung insbesondere an die deutsche Europapolitik. Als Festschrift für den Münsteraner Politikwissenschaftler Wichard Woyke und ganz in seinem Sinne stellt dieser Band eine ebenso gelungene wie auch kritische Bestandsaufnahme und einen konstruktiven Beitrag gerade für die notwendig gewordene Neukonzeptionierung wie Revitalisierung der deutschen Europapolitik dar, die über die Jahre hinweg eines der zentralen Forschungsthemen Woykes war und ist.
Für die allgemeine Bewertung des Integrationsprozesses sind dabei insbesondere die Beiträge von Loth und Varwick zur Dynamik des Integrationsprozesses, von O'Neill und Knelangen zur Integrationstheorie und von Gierig, Maurer, Wittkämper und Tränhardt zur EU-Verfassung wichtig. Neben den weiteren Beiträgen zu konkreten aktuellen Themen wie der EU-Sicherheitspolitik, Finanzverfassung und Medienpolitik verdienen die kritischen Analysen zur deutschen Europapolitik besondere Beachtung:
Einschätzungen, dass die deutsche Finanzpolitik aus europäischer Sicht ein "Trauerspiel der besonderen Art" (Andersen) ist, dass die Achse Frankreich-Deutschland ihre "politische Führerschaft in Europa eingebüßt hat" (Guerot), dass Deutschland mit seiner Irakpolitik für die transatlantischen Beziehungen "zum Problem geworden" (Hacke) ist und dass in den Beziehungen zwischen den USA und der EU eine neue Arbeitsteilung auf Grundlage von "shared leadership" (Knapp) gefunden werden müsse und dass dazu sowohl militärische Handlungsfähigkeit (Meiers) als eine globale bi- und multiregionalistische Strategie (Kevenhörster/Bünte) mit einem gemeinsamen Sitz der EU im UNO-Sicherheitsrat (Gareis) gehört, sind wichtige Hinweise aus sicher nicht regierungsfeindlicher Sicht mit gleichwohl kritischen Fragen an die gegenwärtige Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa.
Sie werden durch die Entwicklung und Diskussion von politischen Optionen zur Revitalisierung gerade der deutschen Europapolitik ergänzt, die gerade wegen ihrer konzeptionell-strategischen Perspektiven und ihrer Praktikabilität in Wissenschaft, kritischer Öffentlichkeit und Politik Beachtung finden sollte.
Johannes Varwick / Wilhelm Knelangen (Hrsg.)
Neues Europa - neue EU ?
Neues Europa - alte EU ?
Fragen an den europäischen Integrationsprozess.
VS Verlag für Sozialwissenschaften (ehemals Leske + Budrich), Wiesbaden 2003; 448 S., 29,90 Euro