Dass Wuttke einer ist, der das kann, glauben seine Auftraggeber. Sie bezahlen Geld dafür, dass er ihnen sagt, wie die Zukunft aussieht. Ob sie grün, gelb oder blau ist, knielang oder minikurz, ob sie Nieten trägt oder Pelz. Die Mode braucht solche Propheten, die auf der ganzen Welt nach dem Look von übermorgen Ausschau halten und der Industrie sagen, welche Klamotten sich in der nächsten Saison verkaufen werden: Trendscouts heißen die Vorausschauer in der Branche. Martin Wuttke sagt: "Wir sind die eingebaute Sicherheit für andere." Aber kann man das? Sicher sein, was der Trend von morgen ist?
Mit der Mode ist es wie mit dem Wetter: man weiß nie, was morgen kommt. Regen oder rot, Wolken oder Wolle, Sonne oder Sandalen, und der Mensch schaut zu mit runden Augen. Zu undurchsichtig sind die Regeln, nach denen chaotische Systeme funktionieren. Natürlich gibt es die Wettervorhersage, von der manche behaupten, sie habe eine Trefferquote von 90 Prozent. Wie dem Wetter versucht man auch der Mode wissenschaftlich beizukommen. Inzwischen kann man sich in Deutschland sogar zum Trendscout ausbilden lassen: Trendgeschichte, Medien und Internetrecherche, Branding, Marketing, Marktanalyse und Expertenbefragung heißen die Unterrichtsfächer an der Trendakademie Stuttgart. Am Ende halten die Absolventen einen "Master of Trend Business Management" in den Händen. 250 Menschen geben in Deutschland als Beruf Trendscout an. Gerade mal zehn entsprechen den Kriterien, die die Trendakademie anlegt. Als Trendscout gehen dort die durch, die hauptberuflich in dem Beruf arbeiten, eine qualifizierende Ausbildung wie Modedesigner oder Journalist abgeschlossen und einige Jahre Berufserfahrung haben, weltweit Informationen sammeln und für mehr als eine Firma tätig sind.
Menschen wie Martin Wuttke. Gemeinsam mit seiner Frau Uta Riechers-Wuttke gründete der gelernte Designer unter dem Namen "Next-Guru-Now" ein erfolgreiches Modelabel. Seit 1999 gibt es die eigene Linie nicht mehr: "Als Designer muss man sich vom Knopfloch bis über das Etikett um alles kümmern", sagt Wuttke, "da bleibt die Kreativität auf der Strecke." Jetzt macht er wieder das, was ihm am meisten am Herzen liegt: Konzepte für Firmen entwickeln, die er dann allerdings in den meisten Fällen nicht selber umsetzt.
Vor das Konzept hat die Modewelt die Recherche gesetzt, die Trendfindung. Heute sucht Martin Wuttke auf der Straße und läuft bei der Trendrecherche eine asphaltierte Zeitachse entlang. Die Zukunft ist vorn, die Vergangenheit hinten. So einfach ist das. Aber wer ist vorn, wer hinten? Ist der Anzugträger, der da gerade auf dem Fahrrad vorbeistrampelt, vorn oder hinten? "Das geht gleich los bei mir", erzählt Wuttke: "Wie der Anzug ist, ob der Typ gut oder schlecht gestylt ist, visionär oder vorn oder hinten ist. Und wieso gibt es immer noch keine Hosenhalter für solche Anzüge?" Mit der Kunst des Decodierens ist Wuttke so tief in die Materie eingedrungen, dass sich die Sache mit der Mode vergeistigt hat: "Ein Kleidungsstück muss ich nicht besitzen. Wenn ich einen Gucci-Anzug sehe und verstanden habe, dann habe ich ihn schon besessen."
Wie sieht einer aus, der jeden Stofffetzen dekonstruiert? Mittellanges und braunes Haar, eine schwarze Dior-Kastenbrille im Gesicht, Sweatshirt mit Schulterreißverschluss, dessen Ende über den Rand des Kragens ragt, und darunter dünn gestreifte Hosen, die aussehen, als würden sie ins Bett gehören. Auf den ersten Blick wirkt das alles nicht besonders stylisch, aber irgendwie sieht man doch, dass der Mann ziemlich weit vorn ist.
In Scharen kriechen die Vordermenschen an diesem sonnensatten Nachmittag hoch auf den Prenzlauer Berg, der die Berliner Mitte mit der Kastanienallee verbindet. Unten am Hackeschen Markt liegt die Gegenwart mit ihren Freizeitjacken tragenden Touristen und den standardisierten Kommerzgeschäften. Oben wohnt die Idee einer schöneren Welt: In die Kastanienallee haben sich die von den Mieten in Mitte vertriebenen Designer, Jungvorderen, Trendsetter und Vorausblicker geflüchtet. Auf dem ausgeflickten Asphalt laufen sie herum, die Stilettos und Sneakers, die Sonnenbrillen und Sweatshirts, die Seidenshirts und Sushis. Leute, die tagsüber nicht ins Büro und abends in die Clubs gehen. Hier ist das Biotop, in dem neue Trends entstehen, manchmal.
Man muss ein Kenner sein, um das zu sehen. Ein Alleskenner. Alles saugt er auf, sagt Martin Wuttke, jeden Flyer, jedes Geschäft, jede Ausstellung, jede Zeitschrift. Mit den Zeitschriften ist das allerdings so eine Sache. Dahinter stecken Redakteure, die bereits aussortiert haben - zweite Wahl sozusagen. Es geht darum, den Trend als erster zu erspüren, wenn er wie ein früher Blütenduft in der Luft liegt, eine Ahnung von dem, was noch kommen wird. Wenn er diesen Hauch erspürt, schlägt Wuttke Alarm. Nicht umsonst bezeichnet er sich als Barometer. Den Begriff Trendscout mag er nicht. Das Wort Trend übrigens auch nicht. "Trend hat etwas Abgeschmacktes", sagt Wuttke, "das hört sich nach in und out an, und das will doch keiner sein." Ein bisschen hört sich Wuttke nach dem Wettermann im Fernsehen an, wenn er über den Trend als "Strömung" redet, eine von vielen: "Ein Trend ist das, was sich verändert, was ein Anfang und ein Ende hat, ein Hoch und ein Tief." Und er, Wuttke, ist der Höhen- und Tiefenforscher.
Andere Trendmenschen bezeichnen sich als Wissenschaftler. Thilo Hartung, Zukunftsforscher und Dozent in Stuttgart, ist einer von denen. Aber er sagt auch: "Wissenschaftler streiten das ab." Die Ähnlichkeit liegt in der Vorgehensweise. Wenn Hartung künftige Trendscouts ausbildet, schult er erst einmal die Wahrnehmung und Informationsverarbeitung: Was sehe ich auf einem Bild in einem angesagten Magazin? Man stützt sich auf Markt- und Markenanalysen, durchsucht die richtigen Internetseiten und sorgt überhaupt ständig für neue Informationen. Thilo Hartung beispielsweise führt eine Infodatenbank, in der von "moderne Beerdigungsriten" bis "Unterwäsche" so ziemlich jede aktuelle Tendenz gelistet ist. "Wenn etwas ein Trend wird, dann muss es in mindestens vier gesellschaftlichen Bereichen auftreten", doziert Thilo Hartung, der nicht allein Mode, sondern auch beispielsweise Technologie- oder Haushaltstrends erforscht. Bei aller vermeintlich objektiven Datenerhebung steht doch immer der Trendscout als Subjekt im Zentrum: Welche Informationen nimmt er wahr, wie wertet er sie aus? Besonders wenn es um Straßentrends der Mode geht, sind die Trendforscher mit ihrem Wissenschaftslatein am Ende: Am Ende bleiben wie beim Wetter zehn Prozent unerklärlich.
Auf der Suche nach der Strömung peilt Martin Wuttke einen unscheinbaren Laden an. Klein, ohne Namen, nur ein Kleid im Schaufenster. "Ach, die Gummersbacher-Leutchen", murmelt Wuttke und tritt ein. Der erste Eindruck ist bescheiden: Eine Stange voll Klamotten hängt in dem winzigen Ladenlokal, dahinter ein Atelierkämmerchen. Die beiden Betreiberinnen sind Designstudentinnen, erfährt der Trendscout, der in diesem namenlosen Experimentalgeschäft seine Kontakte vernetzt: Wer-macht-was-und-kennt-wen? Eigentlich ja jeder jeden, wenigstens über ein paar Ecken. Dann geht es an die Klamotten: T-Shirtkleider mit Radfahrer-Logos aus den 70ern ("Sportiv ist noch Jahre angesagt"), Sweatshirts mit scherenschnittartigen Aufnähern aus Märchmotiven ("Toll. Märchen habe ich noch gar nicht gesehen.") und das mit einer wilden Grafik überwucherte Oversized- Shirt ("All-over Print - das kommt nächsten Sommer"). Das Resümee: "Designmäßig sind die weit vorn." Aber der eigentliche Knaller kommt zum Schluss. Die Visitenkarten der beiden Modemädchen zaubern beim Knicken ein dreidimensionales Etwas heraus. Selbst Wuttke staunt: "Das ist echt frisch." "Frisch" ist noch besser als "vorn".
Warum sich die Vordermenschen rund um die Kastanienallee niedergelassen haben, ist schwer zu sagen. Sicher ist, dass erst einer kommt und dann alle anderen. Natürlich ist die Ecke um die Kastanienallee auch deshalb so angesagt, weil es noch relativ günstige Mietpreise gibt. Also sitzt hinter jedem dritten Schaufenster ein Nachwuchsdesigner und näht frei von Erfolgszwängen seine Vision zusammen. Die Dialektik zwischen Kreativität und Kommerzfreiheit funktioniert auf der ganzen Welt. In Berlin, in London, in Paris, in New York, in Mailand und in Tokio. Überall sucht Martin Wuttke die neuesten Boutiquen, die verrücktesten Klamotten, die frischesten Ideen. Hat der Trendscout etwas gefunden, ist noch lange kein neuer Trend entdeckt: "Ein Punk macht noch keinen Sommer."
Es geht um diese Koinzidenzen, die sich in London und Paris gleichzeitig bemerkbar auftreten. Wenn in Tokio einer in "total baggy und oversized Sweatshirts" herumläuft, erklärt Martin Wuttke, dann sei das typisch japanisch. Aber wenn derselbe Look zwei Wochen später in London zu sehen ist, dann ist das kein Zufall, wie manche Modemuffel behaupten. Dann ist das ein Zeitphänomen, das umgehend unter Trendverdacht gerät. Ob aus dem Experimentallook dann tatsächlich der letzte Schrei wird, hängt von der Gesamtwetterlage ab: Gibt es in Kunst, Grafik und Musik ähnliche Tendenzen? Fügt sich die Aussage des Kleidungsstücks in die gesamtgesellschaftliche Stimmung? Wenn ja, stehen die Chancen nicht schlecht. Weniger entscheidend ist dabei der Geschmack. "Diese Buffalo-Turnschuhe sind grässlich", seufzt Wuttke, "trotzdem rennen die Großstadt-Teenager seit Jahren damit rum. Die sind einfach nicht tot zu kriegen." Die klobigen Turnschuhe sind in die Strömung geraten, und die hat sie mitgerissen. Nichts anderes zählt. Selbst wenn das klappt, differenzieren Profis noch zwischen Mikro und Makrotrends. Die Mikros bleiben in der Subkultur, die Makros landen auf den Stangen von "Zara" und "H&M".
Die Mode von morgen kennt Martin Wuttke schon. Sommer 2005? Sportlich wird es bleiben, sportlich und transparent. Longtermtrends nennt Wuttke die Modethemen, die mehrere Jahre anhalten und in denen sich der Zeitgeist am deutlichsten zeigt. Kurzzeittrends gibt es übrigens auch, das sind Farben und Schnitte, die jedes Jahr gewechselt werden, damit die Industrie verkauft. Im nächsten Sommer werden das wild bedruckte Stoffe sein, so genannte All-over Prints, großflächig bedruckt. Alles wird größer werden prognostiziert Wuttke: "Wenn dieses Jahr Pünktchen angesagt sind, kommen nächstes Jahr Luftballons.
Was nächstes Jahr kommt, ist sicher. Die Modebranche hat die Klamotten für den nächsten Sommer längst entworfen, die als Stoffproben im Büro von Martin Wuttke hängen: Jeans mit der Struktur von Opaanzügen, oder leichtes Weiß mit bonbonfarbenen Streifen. Regelmäßig fährt der Trendscout auf die großen Stoffmessen in Mailand und Paris, um von dort die Materialien der Zukunft mitzubringen. Wenn ein neuer Stoff gleichzeitig bei mehreren Händlern auftaucht, dann ahnt Wuttke: Das wird was. Wenn er seinen Kunden dann Empfehlungen für die künftigen Kollektionen gibt, legt er die Stoffprobe gleich dazu.
Ob er sich auch schon einmal geirrt hat? "Man kann nicht daneben liegen", sagt Martin Wuttke, "der Trend wird kommen. Nur manchmal kommt er zu früh oder zu spät." In der Mode vergeht nichts: Seit Jahrhunderten zitiert sie sich wieder und wieder selbst, ein Ende ist nicht in Sicht. Aber selbst in Zeiten der Postmoderne sind dem Trendscout Grenzen gesetzt: "Manchmal gibt es unvorhergesehene Ereignisse, wie den 11. September zum Beispiel, mit denen sich auf einen Schlag alles ändert." Oder Mitte der 90er-Jahre als Prada-Schwarz die gesamte Mode dominierte. Irgendwann musste eine Farbexplosion bei den Designern kommen, das war klar, aber wann genau? Schwer voraus zu sagen. Bei aller Kunst des Dechiffrierens bleibt die Mode ein chaotisches System. An diesem Abend wird Martin Wuttke nach Hause gehen, ohne den Look von übermorgen gesehen zu haben. Macht nichts, sagt er, so einfach funktioniert das nicht. Man kann nicht morgens losziehen und abends mit einem Trend nach Hause kommen: Das wäre etwa so, als würde man sich für den nächsten Tag Sonne bestellen.