Von einem "unwürdigen Kandidatenkarussell" war in den vergangenen Monaten des Öfteren die Rede, als die Unionsparteien und die FDP, die in der Bundesversammlung die Mehrheit stellen, nach einem gemeinsamen Kandidaten für das höchste Staatsamt suchten. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt dabei: Eine kontroverse Kandidatenkür für die Wahl des Bundespräsidenten hat ebenso Tradition wie die nachfolgende Einsicht, dass der gewählte Kandidat sein Amt als Bundespräsident letztlich angemessen ausgefüllt und damit die Deutschen als Staatsoberhaupt würdig repräsentiert hat. Das gilt auch für Karl Carstens, den fünften Bundespräsidenten.
Ebenso wie bei der diesjährigen Wahl stellte die damalige Opposition in der Bundesversammlung vor 25 Jahren die Mehrheit. CDU und CSU verfügten 1979 sogar über eine absolute Mehrheit. Angesichts dieser politischen Machtverhältnisse hatte der damalige Bundespräsident Walter Scheel (FDP) auf eine erneute Kandidatur für das Bundespräsidentenamt verzichtet. Auch die Option, durch einen Koalitionswechsel der FDP seine Wiederwahl zu sichern, lehnte Scheel ab. Der Unions-Kandidat ging somit als Favorit in die Präsidentenwahl. Die fand damals noch nicht in Berlin, sondern in der Bonner Beethoven-Halle statt. Als Wahltermin wurde 1979 erstmals (und seitdem immer wieder) der 23. Mai angesetzt, also der Tag, an dem 1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verkündet worden war.
Innerhalb der Union wurde 1979 nicht nur der damalige Bundestagspräsident Karl Carstens (CDU), sondern auch der damalige bayerische Kultusminister Hans Maier (CSU) als Kandidat für das Amt ins Gespräch gebracht. Doch gerade innerhalb der CSU gab es - ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl - einen starken Trend zu Carstens, weil ihr Parteivorsitzender, der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß, 1980 zum Kanzlerkandidaten der Union nominiert werden wollte. So einigte sich die Union im März 1979 schließlich auf Carstens.
Obwohl sich der damals 64-Jährige als Staatsrechtler und Politiker in führenden Ämtern bereits einen Namen gemacht hatte, stieß seine Kandidatur im sozialliberalen Regierungslager, aber auch in der Presse auf Kritik. Angelastet wurde dem Christdemokraten vor allem die Tatsache, dass er als junger Jurist und Leutnant der Wehrmacht 1940 der NSDAP beigetreten war. Auch der Hinweis, dass der junge Carstens in der NSDAP keine aktive Rolle gespielt habe und ihm bei einem Nicht-Eintritt berufliche Nachteile gedroht hätten, konnte seine Kritiker nicht besänftigen.
Während Carstens über sich selbst sagte: "Ich sehe mich als einen Liberalen und bin es meiner Herkunft nach außer jeden Zweifel", sahen seine politischen Gegner in ihm den Exponenten einer rechtskonservativen Geisteshaltung. Als rhetorisch scharfzüngiger Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte Carstens 1973 den Grundvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR abgelehnt, weil er in dessen Nichterwähnung des fortbestehenden Ziels der Wiedervereinigung Deutschlands "ein möglicherweise nicht mehr wiedergutzumachendes historisches Versäumnis" erkannte.
Suspekt erschien Carstens' Kritikern auch, dass er in seinen Reden immer wieder traditionelle Tugenden wie Leistungsbereitschaft, Einsatzwillen und Pflichtbewusstsein betonte. Zusätzlich angeheizt wurde die Kontroverse um die Carstens-Kandidatur durch einen Rechtsstreit zwischen dem CDU-Politiker und dem ehemaligen SPD-Abgeordneten Metzger. Allerdings wurde das Verfahren, bei dem es um angebliche Kenntnisse von illegalen Waffengeschäften ging, im März 1979 mit einem Vergleich beendet. Angesichts der öffentlichen Debatte konnte es nicht verwundern, dass es am Rande der Präsidentenwahl vom 23. Mai 1979 in Bonn zu Anti-Carstens-Demonstrationen kam.
Davon unbeeindruckt erhielt Carstens an diesem Tag in der Beethoven-Halle 528 der 1032 abgegebenen Stimmen und wurde bereits im ersten Wahlgang zum fünften Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Seine von der SPD nominierte Gegenkandidatin, die damalige Bundestagsvizepräsidentin Annemarie Renger, erhielt 431 Stimmen. Die 66 Wahlmänner der FDP enthielten sich der Stimme, um ihre Verbundenheit mit dem scheidenden Präsidenten Scheel zu dokumentieren. Noch kurz vor der Wahl am 23. Mai 1979 hatten die Sozialdemokraten vergeblich versucht, den angesehenen Wissenschaftler Carl-Friedrich von Weizsäcker für eine Kandidatur zu gewinnen. Dessen Bruder Richard sollte fünf Jahre später die Nachfolge von Carstens antreten.