Sind die Mitglieder des Europäischen Parlaments frei schwebende Wesen? Haben sie wirklich nichts mit dem zu tun, was in der nationalen Politik und in den nationalen Parlamenten als wichtig und vorrangig angesehen wird? Zunächst wohl einmal nicht. Denn um nach Europa geschickt zu werden, muss man sich bekanntlich zunächst einmal um einen Platz auf der Wahlliste seiner Partei bewerben. Dazu gehört die möglichst volle Übereinstimmung mit dem, was die jeweilige Partei von Europa erwartet. Und dafür soll der Kandidat stehen. Dann muss man versuchen, den Bürgern im Wahlkreis deutlich zu machen, dass man ihre Interessen in Europa im Sinne der jeweiligen Partei vertreten möchte. Hat man diese Hürden überwunden und das Mandat in der Tasche, dann beginnen für den Europaabgeordneten die Schwierigkeiten.
Wie soll er eines Tages seinen heimischen Wählern erklären, dass ausgerechnet die besonderen, bodenständigen kulinarischen Spezialitäten, für die sein Wahlkreis seit Generationen bekannt ist, irgendwelchen europäischen Richtlinien über Lebensmittelsicherheit unterworfen werden müssen, wo doch seit Jahrzehnten eigentlich nichts auszusetzen war an diesen Spezialitäten. Oder wenn Frankfurter Würstchen sich auch dann so nennen dürfen, wenn sie irgendwo anders her kommen. Europa ist eben nicht nur Vielfalt, sondern bedeutet auch Vereinheitlichung einerseits und Durchlässigkeit andererseits.
Vorbei die Zeiten, in denen Renault-Lastwagen nicht in Deutschland verkauft werden durften, nur weil sie die DIN-Norm für eine bestimmte Schraube am Hinterradgetriebe nicht erfüllten. Welcher deutsche Konkurrent mag wohl damals dafür gesorgt haben? Europa hat alle die überholt, die aus Eigennutz am Bestehenden festhalten wollten. "Gemeinsamer Binnenmarkt" heißt die Zauberformel. So gibt es derzeit großes Kopfzerbrechen über das deutsche Dosenpfand, wie es ehedem schon die deutschen Bierbrauer hatten, die nur nach dem Reinheitsgebot hergestellte Biere über deutsche Tresen gehen lassen wollten. Für solches und anderes werden "die da in Brüssel" verantwortlich gemacht. Nicht nur die Institutionen wie Kommission und Ministerrat, sondern auch das Europäische Parlament und somit die Abgeordneten.
Letztere haben es zwar immer wieder geschafft, übertriebene, von übereifrigen Bürokraten ausgedachte Verordnungen zu Fall zu bringen. Den Grundregeln der EU aber, dem gemeinsamen freien Markt und dem Gebot der Nichtdiskriminierung, sind auch sie unterworfen. Die Spielregeln sind in allen Ländern der Union nun einmal die selben. Und das müssen auch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments lernen, wenn sie es nicht schon aus längerer Erfahrung auf diesem Posten bereits verinnerlicht haben. Und jeder Abgeordnete ist zudem mit einer ganz anderen, neuen Dimension konfrontiert. Er findet sich plötzlich in Fraktionen mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen EU-Staaten wieder, die zwar auch den Namen christlich, liberal, sozial oder wie auch immer gesellschaftspolitisch motiviert in ihrer Partei tragen, aber dennoch andere Schwerpunkte, aus der nationalen Tradition bedingt, verfolgen. Holländische Christdemokraten haben in vielen Dingen eine andere Auffassung als deutsche, aber man ist sich in einigen Grundlinien einig. Dies gilt für alle nationalen Parteien, welcher Couleur auch immer.
Also gilt es, sich zunächst einmal in der Fraktion zusammen zu raufen. Auch dies ist ein persönlicher europäischer Werdungsprozess. Und dann stellt man meist schon sehr schnell bei der Arbeit in den diversen Kommissionen fest, dass auch Abgeordnete anderer politischer Denkweisen in den Sachfragen gar nicht so weit von der eigenen Meinung entfernt sind. Und dann kommt man zusammen, der Sache Europa zuliebe, für die man sich ja einsetzen möchte. Spätestens dann stellt man auch fest, dass die nationale Dimension gar nicht mehr die ausschlaggebende ist, sondern das Wohl aller Bürger Europas.
Es geht ja nicht nur darum, den einen oder anderen zu bürokratisch formulierten Vorschlag der Brüsseler Kommission kritisch unter die Lupe zu nehmen und nach Bürgerfreundlichkeit zu überprüfen. Europas Abgeordnete sind besonders dann gefragt, wenn sich der eine oder andere Ministerrat nach oftmals langen Sitzungen, weil jeder seine nationalen Interessen einbringen möchte, auf die eine oder andere Kompromissformel geeinigt hat und sie dann dem Parlament zur Abstimmung vorlegen muss. Das sind dann die eigentlichen Sternstunden des Europäischen Parlaments. Es kann dem Ministerrat, aber auch der EU-Kommission auf die Finger klopfen.
Es hat sich seit den ersten direkten Wahlen im Jahre 1979 Schritt für Schritt immer mehr Mitentscheidungsbefugnisse erstritten. Natürlich spielte dabei auch das "demokratische Gewissen" der EU-Mitgliedsländer eine entscheidende Rolle. Wie kann man beispielsweise demokratische Grundregeln aufstellen für potenzielle Neumitglieder, wenn man sich selbst nicht an das Prinzip der parlamentarischen demokratischen Kontrolle hält? Nationale Parlamente sind ganz einfach überfordert, haben oftmals den Überblick nicht, wenn es um die europäische Dimension geht. Dies kann eben nur ein Europäisches Parlament. Und so wurden logischerweise, aber zunächst auch lediglich schrittweise, durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam die Rechte und Befugnisse des Europäischen Parlaments ausgeweitet, um der neuen Realität Rechnung zu tragen. Ein logischer Vorgang.
Wenn Verordnungen und Richtlinien, so die Umschreibung für gesetzliche Erlasse auf europäischer Ebene, dort alle Hürden, eben auch die des Parlaments genommen haben, müssen sie von den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten noch formell als nationales Recht verabschiedet werden. Dass es bei der Umsetzung oftmals hapert, ist ein anderes Kapitel. Dafür aber hat die EU-Kommission als Hüterin der EU-Verträge und als Vollstreckerin der verabschiedeten Gesetze noch einen "Knüppel im Sack", nämlich die säumigen Mitgliedsstaaten vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen.
Mitentscheidung in allen Bereichen ist das Schlüsselwort für das EP und somit für die gesamte EU-Gesetzgebung geworden. Es gibt nur noch zwei, wenn auch gravierende Defizite, die aber in hoffentlich nicht allzu langer Zeit auch der Vergangenheit angehören werden: In Fragen der Agrar- und Steuerpolitik kann das EP nur eine Stellungsnahme abgeben. Ministerrat und Kommission sind nicht daran gebunden.
Das Recht der Mitentscheidung aber hat aber bei den Europaabgeordneten, egal welcher politischen Couleur, ganz entschieden dazu beigetragen, dass sie sich loslösen konnten von Rücksichtnahmen auf nationale oder sogar heimische parteipolitische Interessen. Für sie ist nicht ausschlaggebend, wer zu Hause an der Regierung oder in der Opposition ist. Sie müssen ja nicht über einen heimischen Regierungsvorschlag entscheiden, sondern ab Mai dieses Jahres über das, was 25 Regierungen im Ministerrat der EU aushecken. Und dabei geht es gar nicht anders, als die Interessen aller Bürger Europas zu wahren, und nicht nur an heimischen Wähler denken, die einem ihre Stimme gegeben haben. Nationale politische Absichten werden im Ministerrat ausgefochten. Ob dies auch allen Bürgern der Union gerecht wird, darüber haben die Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu wachen. Und das macht einen deutschen, niederländischen oder französischen Abgeordneten eben zum Anwalt nicht nur der eigenen Wähler, sondern ab jetzt auch der Esten, Slowenen, Polen oder Malteser, um nur einige der Neueuropäer zu nennen. Es geht um die Sache, um das Gemeinwohl für alle Bürger Europas, und nicht um die Frage, wer zu Hause regiert. Vielleicht wird eines Tages auch der Wähler bei nationalen Wahlen den Kandidaten die Frage stellen, was sie denn eigentlich für Europa tun.
Die europäische Entwicklung hat inzwischen den Europaabgeordneten einen Freiraum verschafft, an den man früher auch in den Hauptstädten nicht so recht glauben wollte, früher, als die Abgeordneten von den nationalen Parlamenten nach Europa abgeordnet wurden, um eine "parlamentarische Versammlung" zu spielen. Mit den ersten Direktwahlen zum EP 1979 wurde die Sache endgültig ernster genommen. Jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück. Woran es noch mangelt, ist, dass die nationalen Politiker endlich dem Wahlbürger erklären, dass auch ihre lokalen Sorgen und Nöte nicht ohne die europäische Dimension gelöst werden können. Dann würden die Bürger die Wahlen zum Europaparlament wohl auch ernster nehmen und vermehrt zur Wahlurne gehen.
Der Autor ist freier Journalist in Brüssel.