Die Vereinigung ist auf den Weg gebracht. Mit acht mittelosteuropäischen Staaten, dem leider nach wie vor geteilten Zypern und Malta wurde die EU kräftig aufgestockt. Entstanden ist ein riesiger Binnenmarkt, in dem 450 Millionen Menschen leben, die wiederum ein Viertel der Weltwirtschaftsleistung erbringen. Es ist nicht das Ergebnis des Vernichtungswerkes eines Krieges, sondern der Wirkungsmächtigkeit politischer Interessen, des Rechts und vor allem der Ökonomie. Das lässt hoffen. Andererseits bleiben Ängste und es kommen neue hinzu - sowohl in den alten als auch in den jungen Mitgliedstaaten. Niemand weiß genau, wie das "Europa der 25" mit dem Großteil seiner Bevölkerung sozial umgehen wird und welche Rolle es international als globaler Akteur spielt. Auch der noch als Entwurf vorliegende Verfassungsvertrag, der die Union zwar handlungsfähig erhält und demokratischer macht, schafft wegen signifikanter Widersprüche keine endgültigen Klarheiten.
In der Tat steht die EU vor Herausforderungen, die einmalig in ihrer Geschichte sind. Die dramatischen Folgen des völkerrechtswidrigen Krieges der USA gegen den Irak lassen nur eine Schlussfolgerung zu: Die EU muss sich als Zivilmacht profilieren, wenn sie zukunftsfähig werden will. Ihre wachsenden politischen und ihre enormen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Möglichkeiten müssen für mehr Entwicklungshilfe und zur Konfliktprävention eingesetzt werden, wozu auch die Aufstellung eines zivilen Friedenscorps für den Einsatz in Krisen- und Katastrophengebieten gehört. Schon vor Jahren hatte dazu das Europäische Parlament Vorschläge unterbreitet.
Leider sieht die Wirklichkeit anders aus: Wie 1999 vom Europäischen Rat beschlossen und in der Verfassung festgeschrieben, soll sich die EU zu einem Abziehbild US-amerikanischer Militärmachtentfaltung mit transatlantischer Loyalität entwickeln. Auch zeigt die Verfassungsauflage nach stetiger Verbesserung der nationalen Militärpotenziale bereits Wirkung. Rüstungsunternehmen legen kräftig zu, und 2003 übertraf die EU im internationalen Waffenhandel erstmals die USA. Obwohl in der Verfassung zivile Konfliktlösungen Militärmaßnahmen vorgeschaltet sind und die Achtung der UN-Charta bekräftigt wird, heißt es in der inzwischen verbindlichen Sicherheitsdoktrin, die EU müsse zur "frühen, schnellen und - falls nötig - robusten Intervention" bereit sein, was offenbar die Selbstermächtigung nicht ausschließt. Das ist ein Irrweg, der zu korrigieren ist. Ferner darf nicht länger sein, dass das Europaparlament als einzig demokratisch gewählte EU-Institution in der Frage von Krieg oder Frieden wie bisher nichts zu sagen hat.
In sozialer Hinsicht vermittelt die größer gewordene EU ebenfalls ein diffuses Bild, wobei auch hier der Verfassungsentwurf nicht eindeutig ist. Er lässt in seiner jetzigen Fassung zwei Wirtschaftsphilosophien zu, die wie Feuer und Wasser zueinander stehen: "offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" und eine "wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft". Ein soziales "roll back" ist möglich, wenn es nicht gelingt, hohe Sozialstandards auf europäischer Ebene zu vereinbaren. Voraussetzung dafür ist die schrittweise Angleichung der Sozial- und Steuerpolitik in allen Mitgliedstaaten. Andernfalls können Menschen und Staaten gegeneinander ausgespielt werden, Konzerne und Banken bleiben die einzigen Gewinner und in den alten Mitgliedsländern steigt der Druck zur "Flexibilisierung" der Arbeitsmärkte sowie zum weiteren Abbau der Sozialsysteme.
Mit den neuen Mitgliedsländern droht noch mehr Steuer- und Sozialdumping. Hinzu kommt, dass deren neue Eliten oft sehr wertkonservative Vorstellungen vertreten, die künftig noch stärker auf die in der alten EU meist anerkannten sozialen Verhaltensnormen prallen werden. Schon im Verfassungskonvent habe ich das erlebt. So wollten die meisten Konventsmitglieder aus den EU-Mitgliedstaaten quer durch alle Parteien "soziale Gerechtigkeit" als zwar immer umkämpften, aber dennoch anerkannten Wert in die Verfassung aufnehmen, während ihn viele Kollegen der Beitrittsländer grundsätzlich in Frage stellten. Soziale Gerechtigkeit könne nicht staatlich verordnet werden, und ein Zurück in den Staatssozialismus dürfe es mit der EU nicht geben, meinten sie. Ein anderes Beispiel liefert der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der dringend modifiziert werden muss, um in Krisenzeiten nationale Investitionsprogramme mit dem Ziel aufzulegen, Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Während dies in Paris, Berlin und Brüssel diskutiert wird, bestehen einige neue EU-Mitglieder auf strikte Einhaltung und prangern die Defizitsünder sogar wegen "Reformstau" an.
Alles das verunsichert Bürgerinnen und Bürger. Um sie wieder stärker an Europa heranzuführen, tut eine breite Debatte darüber Not, wie die gemeinsame europäische Zukunft gestaltet werden soll. Auch deshalb plädiere ich für einen EU-weiten Volksentscheid über die Verfassung am 8. Mai 2005, dem 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus und Vorabend des Europatages.
Sylvia-Yvonne Kaufmann ist Abgeordnete des Europäischen Parlamentes und Spitzenkandidatin der PDS.