Sie war die erste Verfassung, die im besetzten Nachkriegsdeutschland in Kraft trat. Am 1. Dezember 1946 stimmten die Hessen mit großer Mehrheit für eine Landesverfassung, die sich den Sozialstaat, verbindliche Grundrechte und die Freiheit des öffentlichen Lebens von religiösen Bindungen auf ihre Fahnen schrieb. Ihre Grundaussagen waren für die damalige Zeit mutig und gingen teilweise weiter als das Grundgesetz: "Die sozialstaatliche und laizistische Ausrichtung der Hessischen Verfassung", betont der Historiker Helmut Berding, "gaben dem Land Hessen sein unverwechselbares Profil."
1946 soll auch weiterhin auf der hessischen Verfassung stehen, wenn das Werk nach dem Willen des hessischen Landtags reformiert worden ist, ein Projekt, das derzeit allerdings wenig Aussicht auf Erfolg zu haben scheint. Es gehe nicht um eine Totalrevision, betont zwar der Vorsitzende der zuständigen Enquetekommission, Lothar Quanz. Man wolle den "historischen Charakter" der Verfassung bewahren, heißt es unisono auch aus den Fraktionen. Allerdings stehen mittlerweile 41 Änderungsvorschläge allein für den Hauptteil zur Diskussion und die Auffassungen, wie eigentlich die historische Botschaft der Verfassungsväter- und -mütter gemeint war, gehen weit auseinander. "Wir sind jetzt weiter auseinander als zu Beginn", räumt CDU-Obmann Axel Wintermeyer ein. Dass die Reform auf alle Fälle gelingen werde, könne er nicht garantieren, äußert sich auch sein FDP-Kollege Dieter Posch zurückhaltend, dessen Partei seit den 70er-Jahren auf eine Revision drängt.
Viermal wurde die hessische Verfassung bislang geändert, zuletzt mit der Bundestagswahl 2002, als per Volksabstimmung das Konnexitätsprinzip, die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre und das Staatsziel "Sport" verankert wurden. Etliche Artikel hingegen, die gegen das Grundgesetz verstoßen und von der Verfassungswirklichkeit längst überholt sind, blieben bislang unangetastet. Um den Anachronismus vieler Passagen zu verdeutlichen, zitieren Reformbefürworter nicht nur die Todesstrafe und den Sozialisierungsartikel 41, sondern - mit Blick auf den ehemaligen grünen Justizminister Rupert von Plottnitz - gerne auch das Verbot für "Angehörige ehemals regierender Häuser, Mitglied der Landesregierung zu werden".
Doch sechs Kommissionssitzungen weiter steht plötzlich viel mehr auf der Tagesordnung als solch unstrittige Punkte. Gentechnik, neue Medien, Datenschutz, mehr Mitbestimmung und die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften nennen die Grünen, das Recht auf Information, politische Teilhabe und informationelle Selbstbestimmung die SPD. Die Christdemokraten, die eigentlich nur eine "behutsame Reform" wollen, warten dagegen mit einer völlig neuen Präambel auf. Der neue Text soll nicht nur einen konkreten Gottesbezug enthalten, sondern - in Zeiten, in denen um das Kopftuchverbot gestritten wird - nun auch die "christlich-humanistische Tradition" Hessens würdigen. Ferner möchte die CDU die Soziale Marktwirtschaft und das Subsidiaritätsprinzip festgeschrieben wissen sowie die Artikel 41 und 42 zur Sozialisierung und Bodenreform und das Aussperrungsverbot ganz streichen.
Auch die FDP sieht den größten Reformbedarf im Bereich der Sozial- und Wirtschaftsverfassung und fordern zudem statt der Streichung weniger Vorschriften eine "grundlegende Modernisierung", die vor allem die Artikel zum Arbeitsrecht und zum Schulwesen entrümpeln soll. Die 1946 festgeschriebenen Vorschriften zum Tarif- und Arbeitsrecht und zur Bildung jedoch stehen für die Sozialdemokraten nicht zur Dis-position. Religionsfreiheit, eine für das ganze Volk verbindende Sozialversicherung und "sogar das Aussperrungsverbot" hält SPD-Chefin Andrea Ypsilanti nicht für überholte Normen, sondern für die "einzigartige moralische Substanz" der hessischen Verfassung. Die Frage, ob die vor fast 60 Jahren festgeschriebene Sozial- und Wirtschaftsverfassung vielleicht "unantastbar" sei, sei in der Enquetekommission noch nicht abschließend beantwortet, kommentiert Wintermeyer süffisant die SPD-Forderungen.
"Alle haben Verhandlungsbereitschaft signalisiert", bemüht sich Lothar Quanz dennoch um Optimismus. Die derzeitige Gemengelage jedoch erinnert eher an die Auseinandersetzungen, die die von den Hessen gewählte verfassungsgebende Landesversammlung 1946 um genau die gleiche Sollbruchstelle führte. Die Debatte um die Wirtschaftsverfassung provozierte laut Berding seinerzeit einen "unübersehbaren Riss" zwischen den Gewerkschaften, SPD und KPD auf der einen und CDU, LDP sowie Industrie- und Handelskammern auf der anderen Seite. Nachdem SPD und KPD ihre Vorstellungen zunächst in Kampfabstimmungen durchgesetzt hatten, wurde zum Schluss auch die CDU mit ins Boot geholt, weil das linke Lager keine Niederlage in der Volksabstimmung riskieren wollte. Der ausgehandelte Kompromiss bewies nach Auffassung des Historikers, dass CDU und SPD in "richtungsweisenden Punkten der Verfassung" übereinstimmten während die Liberalen damals gegen die ihrer Ansicht nach "rote Verfassung" Wahlkampf betrieben.
In der jetzigen Diskussion um die Verfassungsreform zu einer Einigung zu kommen hält FDP-Obmann Posch zumindest für "schwierig". Mit ihrer absoluten Mehrheit hätte die CDU zwar die Möglichkeit die eigenen Vorstellungen durchzusetzen, will das Thema Verfassung jedoch nicht zum "Spielball" der Tagespolitik machen. "Wenn es keinen Konsens gibt", betont Wintermeyer, "lassen wir die Finger von der Verfassung, da sie sich nicht zum Parteienstreit eignet." Bis zum Jahresende muss die Enquetekommission dem Landtag ihre Vorschläge unterbreiten. Sollte es tatsächlich zu einem gemeinsamen Vorstoß kommen, sollen die Hessen parallel zur Bundestagswahl 2006 über ihre reformierte Verfassung abstimmen.