Kaum ein Thema erregt die Gemüter der politischen Eliten in Europa so sehr wie ein möglicher Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Die Option für den Beginn von Beitrittsverhandlungen, die eine Entscheidung des Europäischen Rates im Dezember 2004 bewirken würde, hat die Frage nach der Finalität des europäischen Integrationsprojektes auf die politische Agenda gesetzt. Ihre Beantwortung durch die Staats- und Regierungschefs unter Einbeziehung aller realpolitischen Faktoren sollte möglichst schnell erfolgen - bevor Verhandlungen mit der Türkei begonnen werden. Fiele die Entscheidung des Europäischen Rates positiv aus, wären die Würfel gefallen. Dann ginge es nicht mehr um das "Ob", sondern nur noch um das "Wie" des Beitritts. Von den Beitrittsbefürwortern wird eingewandt, dass die Verhandlungen "ergebnisoffen" geführt werden würden. Wenn dies geschähe, würde die EU mit ihrer bisherigen Praxis brechen. Die längsten Beitrittsverhandlungen hat es mit Portugal von 1978 bis 1985 gegeben, mit dem Ziel einer Aufnahme des Landes in die Europäische Gemeinschaft. Warum sollte es mit der Türkei anders sein?
Von Beitrittsgegnern werden immer wieder die Diskriminierung der Kurden, die Verletzung der Menschenrechte durch die fortgesetzte Anwendung der Folter und der starke Einfluss der Armee angeführt. Außerdem sei die Türkei ein islamisches Land, gehöre folglich nicht zum europäischen Kulturkreis und stelle einen Fremdkörper innerhalb der EU dar. Warum konnte dann die Türkei ohne Probleme 50 Jahre Mitglied der NATO sein? Ist nicht auch diese Organisation eine "westliche Wertegemeinschaft"? Hatte man es vielleicht wegen der Bedrohung durch den Ostblock mit diesen Werten nicht so genau genommen? Scheinbar hatte "der Westen" damit in der Vergangenheit keinerlei Probleme. Auch über diesen Widerspruch sollte nachgedacht werden. Warum erspart sich die EU nicht einen jahrelangen Streit über einen formalen Beitritt des Landes, indem es der Türkei eine "privilegierte Partnerschaft", sprich "Association plus" anbietet?
Insbesondere nach den Ereignissen des 11. September 2001 und den Zerwürfnissen des Westens mit der islamischen und arabischen Welt tragen Beitrittsbefürworter ein gewichtiges Argument vor: Der Beitritt eines muslimischen Landes zeige beispielhaft, dass Demokratie und Islam kein Widerspruch seien. Der Türkei käme somit Vorbildcharakter für eine problematische Region zu. Auch die Ideologen innerhalb der US-Administration könnten nochmals über ihre weiter reichenden Pläne einer Demokratisierung der arabischen Länder nachdenken. Ein möglicher EU-Beitritt könnte die Reformkräfte in der Türkei stärken. Auch hat das Land historisch und geographisch seit fast 700 Jahren besondere Verbindungen zum europäischen Kontinent. Bezüglich der Beitrittswilligkeit der Türkei zur EU sollte positiv vermerkt werden, dass dieses Streben von einer als moderat islamisch eingeschätzten Regierung betrieben wird.
Mit dieser Ausgabe möchte die Redaktion ein differenziertes Bild eines potenziellen Beitrittskandidaten zeichnen. Von zwei renommierten Wissenschaftlern werden Argumente für und gegen den Beitritt der Türkei vorgetragen. In weiteren Beiträgen werden der Europäisierungsprozess und die Leistungen der türkischen Regierung auf diesem Wege ebenso bilanziert wie die innenpolitische Auseinandersetzung des Landes zwischen Kemalismus und Islamismus und die außenpolitische Orientierung. Der Beitrag über die Kopftuchdebatte in der Türkei könnte auch für die deutsche Diskussion inspirierend sein.