Die Entscheidung, der Türkei ein Datum für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu nennen, setzt eine Einstellung voraus, durch die sich die Europäische Union in den letzten Jahren nicht eben ausgezeichnet hat: Optimismus und Selbstbewusstsein. Wovon werden sich die europäischen Politiker leiten lassen: vom Status quo oder der Perspektive dynamischer Wandlungsprozesse in den nächsten Jahren? Im ersteren Falle ist eine negative Entscheidung fast zwangsläufig, und dies in dreifacher Hinsicht: Erstens ist die EU nach innen wie nach außen am Rande ihrer Handlungsfähigkeit angelangt; da erscheint die Türkei als nicht "verdaubar". Zweitens hat sich die Grundstruktur des internationalen Systems trotz der durch den 11. September 2001 ausgelösten Krise nicht grundlegend gewandelt; deshalb besteht keine Notwendigkeit, den Status der Türkei in und für Europa über die Mitgliedschaft in der NATO hinaus zu verändern. Drittens ist die Türkei mit Blick auf die "Kopenhagener Kriterien" noch in vielen Punkten nicht in einer Verfassung, die mit den Anforderungen der EU kompatibel ist.
Im zweiten Falle ist die Mitgliedschaft der Türkei ein für die Zukunft Europas konstituierender Faktor: Die Türkei verstärkt erstens das politische Gewicht Europas, wodurch die EU nach tief greifenden Wandlungen und Reformen ein wirkungsvoller Akteur sein wird. Zweitens wird die EU im internationalen System mit seiner Nachbarschaft im Mittelmeerraum und im islamisch geprägten Nahen und Mittleren Osten eine starke Partnerschaft geschlossen haben. Drittens entwickelt sich die Türkei im Zuge tief greifender politischer und wirtschaftlicher Reformen zu einem stabilen Land, innerhalb dessen islamisch geprägter Gesellschaft die Kopenhagener Kriterien umfassend implementiert werden.
Wie stellt sich die EU der Zukunft? Wird sie sich in banger Verzagtheit der Perspektive einer Mitgliedschaft der Türkei verschließen oder sich von einer Vision der EU im 21. Jahrhundert leiten lassen, auf die hin die politischen Repräsentanten die notwendigen Wandlungsprozesse nach innen und außen in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren ausrichten werden?
Tatsächlich ist den Argumenten des Für und Wider, die vorgebracht worden sind, seit sich allseits die Einsicht durchgesetzt hat, dass eine Entscheidung mit Blick auf die Aufnahme von Verhandlungen nicht länger aufzuschieben ist, nicht viel hinzuzufügen. Sie haben freilich keine eindeutige Entscheidungsgrundlage erbracht. Diejenigen Argumente finden verstärkt Gehör, welche die Türkei von ihrer Geschichte und Kultur her als mit einer "europäischen Identität" unvereinbar und "anders" ansehen und für den Fall der Aufnahme des Landes in die EU das Ende derselben prognostizieren. 1 Damit treten für die Entscheidung letztlich zwei Perspektiven hervor: die Lesung der Geschichte sowie der Stellenwert der Türkei für ein Europa, das im Kontext einer langfristigen Neuordnung des internationalen Systems seinen Platz sucht. Dass dabei eine enge Partnerschaft mit der benachbarten islamisch geprägten Welt südlich und östlich des Mittelmeers ein besonderer Stellenwert zukommt, hat sich spätestens seit dem 11. September 2001 abzuzeichnen begonnen.
Die kulturellen Grenzen Europas sind nicht eindeutig nach dem Verlauf der Geschichte zu ziehen. Dies gilt in besonderem Maße für Kleinasien. Vom Mythos, der Rom von dem Trojaner Aeneas gründen lässt, über die griechische Besiedlung Kleinasiens, die Genese des Christentums und die Verortung Ostroms bis zum Osmanischen Reich, das durch seine Geschichte hindurch ein Reich in Europa wie in Asien (und Nordafrika) gewesen ist und spätestens seit dem 17. Jahrhundert als Teil des europäischen Konzerts der Mächte anerkannt war, zieht sich eine lange Kette von Argumenten. Der als Europäisierungsprozess zu verstehende Modernisierungsprozess des Osmanischen Reiches durch das 19. Jahrhundert bis zu den Jungtürken war der lange Weg zur kemalistischen Revolution, einer - in erster Linie - Kulturrevolution, wie sie in ihrer Radikalität nur wenige Völker und Gesellschaften in der Geschichte erlebt haben.
Tatsächlich suchte Mustafa Kemal Atatürk als charismatischer Führer der Revolution einen nachhaltigen Bruch mit der Geschichte eines Reiches, das er als "islamisch" verstand. Den Ausstieg aus der Geschichte sollten die umfassende Implementierung europäischen Rechts ebenso symbolisieren wie die Einführung der lateinischen Schrift oder gar die "Ent-Islamisierung" der (vom arabischen und persischen geprägten) osmanisch-türkischen Sprache.
Die Türkei hat den Umbruch vom multikulturellen, multireligiösen, multiethnischen und multinationalen Staat mit einer europäischen Lösung, dem Nationalismus, bewältigt. Die Selbstbehauptung der Türken stand also im Zeichen einer Ideologie, die sie nicht selbst erfanden. Sie übernahmen sie vielmehr von den Völkern Europas, die ihrerseits nach dem Ersten Weltkrieg eine Neuordnung des Kontinents im Zeichen des Nationalismus suchten. Dem Ende des Osmanischen Reiches vorangegangen war eine systematische ethnische Säuberung Anatoliens durch die Vertreibung und Vernichtung von bis zu 1,6 Mio. Armeniern 19 15/16 und die Vertreibung bzw. Umsiedlung von ca. 1,2 Mio. Griechen zwischen 1912 und 1924. (Umgekehrt nahm die Türkei ca. 1 Mio. Türken aus Griechenland und anderen Balkanländern auf.) Mit der Gründung der Republik 1923 verschwand zugleich das Volk der Kurden hinter der Fiktion "der Türken" als dem Staatsvolk des türkischen Nationalstaats. Auch mit ihrer in einzelnen Zügen diktatorischen Machtausübung entsprach die türkische Führung dem europäischen Zeitgeist zwischen Moskau und Lissabon. Die Exzesse insbesondere des deutschen Nationalismus, eine nationalistische Expansions- und rassistische Vernichtungspolitik, hat die Türkische Republik nicht gekannt. Territorial verstand die Staatsführung das Land als saturiert. Im Inneren überlebten nicht-türkische Ethnien, wenn sie bereit waren, sich zu "türkisieren", d.h. zu assimilieren.
Mit der Gründung der Republik hatte die Türkei also die "islamisch-europäische" Ambiguität abzulegen versucht und war ein europäischer Staat geworden. (Nicht unerwähnt bleiben sollte die Tatsache, dass die Staatsführung seit 1933 zahlreichen aus politischen wie rassischen Gründen im nationalsozialistischen Deutschland Verfolgten Asyl und die Möglichkeit der Berufsausübung bot.) Während sie sich aber geistig, ideologisch und innenpolitisch in europäischen Parametern bewegte, vermochte sie sich aus der europäischen Katastrophe, die sich im Zweiten Weltkrieg entlud, herauszuhalten. Im sich rasch herausbildenden Kalten Krieg (der sie mit den Meerengen unmittelbar betraf) wandte sich die türkische Führung nach Westen und trat 1952 der NATO bei. Im Inneren setzte ein Wandlungsprozess als Demokratisierung ein, der mit den Wahlen vom Mai 1950 eine erste signifikante Etappe erreichte. Der Abschluss des Assoziierungsvertrages 1963 bedeutete die formelle Aufnahme der Türkei in den Kreis der europäischen Staaten.
Nunmehr traten in der Substanz unübersehbare Differenzen zwischen den Demokratien der Römischen Verträge und der Türkei zutage. Für Erstere war das Desaster des Krieges ein tiefer Einschnitt und ein Neubeginn. Der Nationalstaat der Zwischenkriegszeit hatte eine ihm innewohnende Aggressivität freigesetzt, die zum Zweiten Weltkrieg geführt hatte. Er würde nunmehr durch eine übergreifende Ordnung und ihre Institutionen zu domestizieren sein. Zugleich galt es, politische Ordnungen zu schaffen, welche die Gesellschaft vor dem Staat schützen würden. Nach der Vergötzung des Staates würden nun Mechanismen zu etablieren sein, die Würde und die Rechte eines jeden Bürgers zu verteidigen. Hatte sich die Entwicklung der Türkischen Republik nach ihrer Gründung auf der Grundlage eines "europäischen" Paradigmas vollzogen, so gingen jetzt die Wege - mochte sich die Türkei auch formal auf dem Wege ihrer Eingliederung in das europäische System befinden - auseinander. Die Spannungen zwischen formaler Eingliederung in Europa mit der vertraglich gegebenen Perspektive einer schließlichen Mitgliedschaft im System der Europäischen Gemeinschaft und dem Festhalten an als nahezu "heilig" empfundenen Grundlagen der Türkischen Republik bildeten die Wurzel der politischen Stagnation in den Beziehungen während der Jahrzehnte nach 1963.
Nicht nur, dass ein starker türkischer Nationalismus die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges überlebt hat, auch die anhaltende Überordnung des Staates über die Gesellschaft hat sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg für die Ausgestaltung der Beziehungen zu Europa als entwicklungshemmend erwiesen. Die Dominanz des Zentrums über die Peripherie war bereits ein grundlegendes Charakteristikum osmanischer Herrschaft.
Die Kemalisten haben ihren neuen Staat vom Zentrum her organisiert und die revolutionären europäischen Entwicklungsprinzipien der Gesellschaft übergestülpt. Der Staat bestimmte und regelte alles. Er bestimmte, dass es keine Kurden gebe, und wie der Bürger es mit der Religion zu halten habe. Angesichts der überwältigenden Autorität des Staates konnte eine Emanzipation der Gesellschaft nur ansatzweise stattfinden. Jedem, der gegen die vom Staat gesetzten Prinzipien verstieß, ließ dieser seine Macht spüren - gegebenenfalls durch körperliche Züchtigung (Folter). Bürger- und Menschenrechte konnten vor diesem Hintergrund allenfalls eingeschränkt Geltung haben. Von Europa eingeforderte Prinzipien und Kriterien fanden nur insofern Berücksichtigung, als sie mit den im Zentrum von der - zivilen und militärischen - politischen Klasse vorgegebenen Interessen von Staat und "Nation" übereinstimmten. So wurde das Verhältnis zwischen Europa (EG und EU) zur Türkei eine Geschichte der Ungleichzeitigkeit. Sie machte sich an den Schwierigkeiten der politischen Klasse in der Türkei fest, sich auf die "Kopenhagener Kriterien" einzulassen.
Vor diesem Hintergrund gilt es, die jüngsten Entwicklungen in der Türkei zu "lesen". Dadurch, dass der türkische Wähler am 3. November 2002 nahezu die gesamte alte politische Klasse in den Orkus verbannte, könnte sich eine Entwicklung vollzogen haben, die in ihrer Bedeutung der Gründung der Türkischen Republik nahe kommt. In Ankara regiert nun eine Partei, die sich bewusst als konservativ-islamische Partei versteht. Damit aber scheint in der Türkei nicht nur die Kluft zwischen einer einseitig kemalistisch verstandenen Moderne und einer mit dem Islam verbundenen Tradition aufgehoben; auch das Spannungsverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft, das die Demokratisierung der Türkei so nachhaltig belastet hatte, scheint sich zumindest zu lockern. Bedeutet dies nach der Europäisierung des Osmanischen Reiches und der kemalistischen Revolution eine dritte Konversion in Richtung auf Europa - diesmal in Gestalt der EU? Die Lesung der Geschichte lässt eine solche Deutung zu. Sie wird durch die Reformpakete, welche die neue türkische Führung mit Blick auf die nachdrücklicher denn je angestrebte Mitgliedschaft in der EU geschnürt hat, bestätigt. Noch ist dies ein Prozess - und zu Recht weisen Skeptiker darauf hin, dass die beschlossenen Gesetze erst umgesetzt werden müssen. Aber auch hier sind erste wichtige Schritte getan worden - die Einführung kurdischsprachiger Sendungen im türkischen Staatsfernsehen im Juni 2004 ist ein Schritt von ähnlicher Tragweite wie seinerzeit die Verbannung des Kurdischen in allen Facetten aus dem Erscheinungsbild der Türkei. Schon deuten sich weitere Konsequenzen an: Dazu gehört eine Ent-Nationalisierung des türkischen Politikverständnisses: So jedenfalls können die Entspannung des Verhältnisses zum "Erbfeind" der türkischen Nation, Griechenland, und die Bereitschaft der Regierung interpretiert werden, auf Zypern eine Kompromisslösung für eine Wiedervereinigung der Insel zu finden.
Von der Entscheidung der EU mit Blick auf die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Ziel einer Mitgliedschaft der Türkei wird wesentlich abhängen, ob sich die sich andeutenden Entwicklungen von historischer Tragweite festigen werden. Damit ist das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein Europas mit Blick auf die Gestaltung der Beziehungen zu seinen benachbarten Räumen, dem Mittelmeer, dem Nahen und Mittleren Osten, dem Kaukasus und Zentralasien gefragt. An dieser Stelle sei nicht von Interessen gesprochen - etwa davon, dass sich die Türkei in den nächsten Jahren zu einem Terminal von Transportlinien zentralasiatischen Erdöls und Erdgases entwickeln wird. Jedenfalls liegt die Türkei im Schnittpunkt europäischer Interessen zwischen dem Mittelmeer und der Westgrenze Chinas. Die außenpolitischen Entscheidungen der Regionalmacht Türkei berühren die sicherheits- und wirtschaftspolitischen Interessen der EU unmittelbar.
Vielmehr geht es um die Zukunft des politischen Akteurs EU im internationalen System; womit im gegebenen Kontext die Beziehungen zur islamischen Welt gemeint sind. Eine demokratische und entwickelte Türkei 2 - in Geschichte und Kultur wesentlich geprägt von der islamischen Religion und zugleich modernen europäischen Werten verpflichtet sowie in die Institutionen der EU integriert - hätte weitreichende Auswirkungen auf jene islamische Nachbarschaft, die nach dem 11. September 2001 so nachhaltig ins Blickfeld der Europäer getreten ist. Den islamischen Staaten und Gesellschaften steht ein tief greifender Wandlungsprozess bevor. Dabei wird es darum gehen, sich modernen politischen Wertvorstellungen zu öffnen und diese zugleich in ihrer eigenen Tradition, d.h. in ihrer Kultur und Religion, zu verankern. Das Ringen darum in Iran ist ein Symptom dieses zugleich schwierigen und weitreichenden Prozesses.
Zum ersten Mal ist die Türkei heute tatsächlich jene "Brücke", von der in der Vergangenheit so viel die Rede war. Denn zum ersten Mal hat sie wirklich zwei Pfeiler: einen in Europa und - als nunmehr islamisch-demokratisches System - einem in der islamischen Welt. Arabische Eliten, die sich vom "Kemalismus pur" eher abgestoßen fühlten, betrachten die türkische Synthese von Demokratie und Islam in der Gegenwart mit nachhaltigem Interesse.
Gewiss wird die Türkei dann auch ihre Geschichte kritisch aufzuarbeiten haben. Die türkischen politischen und geistigen Eliten werden dazu nur bereit sein, wenn sie sicher sein können, dass dies nicht gegen ihre auf Europa gerichteten Aspirationen missbraucht werden kann. Die Tragödie der Armenier am Ende des Zerfallsprozesses des Osmanischen Reiches und vor der Gründung des türkischen Nationalstaates wird dann wohl zeigen, dass die Türkei am Anfang des 20. Jahrhunderts eher zu nahe an Europa und seiner "Moderne" denn zu weit davon entfernt gewesen ist.
1 'Zur
Systematisierung der Argumente vgl. Heinz Kramer, EU-kompatibel
oder nicht? Zur Debatte um die Mitgliedschaft der Türkei in
der EU, (SWP)-Studie, Berlin 2003.'
2 'Zu den Perspektiven der
Wirtschaftsentwicklung mit Blick auf einen Beitritt vgl. Wolfgang
Quaisser/Alexandra Reppegather, EU-Beitrittsreife der Türkei
und Konsequenzen einer EU-Mitgliedschaft, Osteuropa-Institut,
Working Paper Nr. 252, München, Januar 2004.'