Einleitung
Die Entscheidung naht: Die Prüfungskommission der EU wird
noch im Herbst 2004 feststellen, ob der Türkei ein Termin
für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen genannt
werden kann. Fällt das Votum positiv aus, könnten die
Entscheidungs-gremien der Union zustimmen, so dass jener
langwierige Prozess begänne, an dessen Ende vermutlich die
Aufnahme der Türkei in die europäische Staatenunion
stünde. Die Regierungen wichtiger Mitgliedstaaten haben sich
bereits im Vorfeld dereigentlichen Entscheidung positiv
geäußert. Namentlich die Spitzen der rot-grünen
Koalition in Berlin sind in letzter Zeit, ziemlich unvermittelt,
geradezu massiv für den Beitritt eingetreten.
Was aber gebietet eine Bestandsaufnahme der Interessenlage der
EU, auch und gerade der Bundesrepublik? Denn es steht großen
Staaten nicht an - um Bismarcks berühmtes Diktum zu
wiederholen -, anders als nach Maßgabe ihrer Interessen zu
handeln. Die These lautet: Kommt es zu Beitrittsverhandlungen und
schließlich zur Aufnahme der Türkei, würden damit
vitale europäische und deutsche Interessen verraten, das
große Projekt der politischen Einigung Europas würde
zerstört.
Zunächst sollen aus Gründen der Fairness einige
Perspektiven erörtert werden, die eine protürkische
Position begründen, deshalb aber auch erste Einwände
hervorrufen:
- Unstreitig liegt es im europäischen und deutschen
(überhaupt im westlichen) Interesse, dass das Experiment der
Demokratiegründung und -verankerung endlich einmal auch in
einem islamischen Land gelingt. Deshalb verdient es wirksame
Unterstützung. Im Vergleich kommt zurzeit am ehesten die
türkische Republik für diese politische Modernisierung in
Frage. Gelänge das Experiment, ginge davon eine ungleich
attraktivere Vorbildwirkung im Nahen Osten, darüber hinaus in
der muslimischen Welt überhaupt, aus als von den
Demokratisierungsillusionen des amerikanischen Präventivkriegs
im Irak. Die offene Frage ist jedoch, ob diese Entwicklung zu einer
auf Dauer stabilen demokratischen Republik innerhalb der EU
gefördert werden muss oder ob sie nicht ebenso gut von
außen, zudem mit weitaus geringeren Kosten jeder Art,
unterstützt werden kann.
- Mit diesem Argument hängt die Behauptung zusammen, dass
die westlich orientierten türkischen Funktions- und
Machteliten ihre Annäherung an Europa nur dann auf lange Sicht
erfolgreich fortsetzen könnten, wenn sie mit dem Anschluss an
die EU belohnt würden. Diese Forderung hat einen leicht
erpresserischen, ultimativen Charakter; sie ignoriert, dass solche
Transformationsprozesse wie die Europäisierung der Türkei
letztlich aus eigener Kraft gewollt und durchgesetzt werden
müssen, und sie setzt sich stillschweigend über den
gewaltigen Preis hinweg, der Europa dafür zugemutet wird.
- Der viel beschworene geostrategische Wert der Türkei
gebiete, heißt es insbesondere in Washington und in der NATO,
der Türkei die Vollmitgliedschaft in der EU einzuräumen,
um ihr beachtliches militärisches Potenzial einzubinden und
bei künftigen Konflikten im Nahen Osten einsetzen zu
können.
- Allerdings hat die Regierung Erdogan mit ihrer Opposition gegen
die Teilnahme am zweiten Irakkrieg unmissverständlich
demonstriert, dass sie gegen muslimische Nachbarn nicht zum zweiten
Mal Krieg führen will - und aus innerparteilicher
Rücksichtnahme auf den Zusammenhalt und den islamistischen
Charakter der "Gerechtigkeitspartei" (AKP) auch nicht führen
kann. Künftiger Streit im Nahen Osten involviert aber stets
muslimische Staaten, ein simpler Tatbestand, der das vermeintlich
durchschlagskräftige geostrategische Argument im Kern
entwertet.
- Und schließlich wird immer wieder auf das seit 1963
wiederholte Versprechen verwiesen, das der Türkei den
Anschluss an die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
in Aussicht stellte. Ob damit auch die Einbeziehung in eine
politische Staatenunion gemeint war, ist zumindest umstritten. Da
es bereits eine Zollunion zwischen der EU und der Türkei gibt,
wäre, wenn sie formell auch zur Freihandelszone erweitert
würde, der Zusage des ökonomischen Anschlusses
Genüge getan. Außerdem ist zum einen die
Geschäftsgrundlage des Versprechens - der Kalte Krieg gegen
die Sowjetunion - inzwischen entfallen, und zum anderen hat die
Türkei fast vierzig Jahre lang buchstäblich nichts getan,
um das Land allmählich europakompatibel zu machen.
- Das derzeit vorherrschende Drängen, als europäischer
Staat anerkannt zu werden, hat neuerdings zu einigen in hektischer
Eile verabschiedeten Reformgesetzen geführt, die aber nicht
nur noch immer sehr unvollständig sind, sondern in den
nächsten Jahrzehnten auch der glaubwürdigen Realisierung
im Alltag, in der Verwaltung und Justiz bedürfen. Käme
daher die EU-Prüfungskommission demnächst dazu, die
Aufnahmekriterien bereits zwei Jahre nach dem Reformbeginn für
erfüllt zu erklären, hieße das
sinngemäß, dass die Türkei die Belastungen eines
langlebigen Traditionsüberhangs in kurzer Zeit
abgeschüttelt hätte.
- Unvergleichlich stichhaltiger als die protürkischen
Argumente ist die Vielzahl der grundsätzlichen Einwände
gegen einen Türkei-Beitritt:
- Die Türkei ist ein kleinasiatischer,
nichteuropäischer Staat, dessen Aufnahme das großartige
Projekt der politischen Einheit Europas torpedieren würde. Sie
gehört einem anderen Kulturkreis an und würde mit 90
Millionen Muslims, die sie in den Beitrittsjahren nach 2012/14
zählen wird, eine nichteuropäische Bevölkerung
mitbringen, die weder das unverzichtbare, historisch gewachsene
europäische Identitätsbewusstsein teilt, noch zur
künftigen Identitätskontinuität beitragen
könnte. Überdies entfiele jedes plausible Argument gegen
die Beitrittswünsche der Ukraine (Beitritt: bis 2011) und
anderer östlicher Länder, aber auch Marokkos
(Beitrittsantrag liegt vor) und weiterer maghrebinischer Staaten.
Statt der politischen Einheit des historischen Europas käme es
allenfalls zu einer Freihandelszone vom Atlantik bis eventuell nach
Wladiwostock. Sie käme allerdings englischen Vorstellungen,
auch geheimen Wünschen der USA entgegen, die ein politisch
geeintes Europa zusehends als ernsthaften Konkurrenten
betrachten.
Mit der Zielutopie eines politisch geeinten Europas, das aus
zwei totalen Kriegen in einem mühseligen Lernprozess endlich
die richtige Konsequenz gezogen hat, hätte der pure
Ökonomismus einer riesigen Freihandelszone nichts mehr gemein.
(Auch diese Problematik unterstreicht die Aufgabe, dass Europa
endlich seine Grenzen nach Ostern und Südosten definieren
muss.)
- Nach der Aufnahme der acht osteuropäischen Länder und
der beiden Inselstaaten zeichnet sich eine extreme Belastung aller
europäischen Ressourcen ab; der ohnehin strittige
Agrarsubventionismus ist nur ein besonders eklatantes Beispiel
dafür. Da die EU seit der Konferenz in Nizza ihre Hausaufgaben
nicht gemacht hat, überschneidet sich diese Belastung mit den
ungelösten Fragen einer Reform der komplizierten politischen
Entscheidungsprozesse. Im Grunde zeichnet sich bereits das
klassische Problem des "Imperial Overstretch" deutlich ab. Ein
Türkei-Beitritt wenige Jahre nach der "Osterweiterung"
würde diese Gefahr bis zu einer lebensgefährlichen
Überdehnung aller Sehnen und Gelenke, bis zu einer fatalen
Belastungsprobe dramatisch zuspitzen. Überdies wäre die
Türkei sogleich der größte EU-Staat, stellte die
größte Fraktion im Straßburger Parlament (da sich
deren Umfang nach der Bevölkerungszahl der Heimatländer
bemisst), wäre ständig in Versuchung, eine politische
Sonderrolle und finanzielle Sonderzuweisungen zu beanspruchen.
- Ökonomisch ist die Türkei wegen ihrer Probleme
dringend auf die europäische Wirtschafts- und Finanzkraft
angewiesen, nachdem die Milliarden des Internationalen
Währungsfonds immer wieder spurlos versickert sind. Die
türkische Wirtschaft erreicht gerade einmal 20 Prozent des
durchschnittlichen europäischen Sozialprodukts, und jahrelang
hat sie mit einer Inflationsrate über 40 Prozent zu
kämpfen gehabt. Mehr als ein Drittel aller Erwerbstätigen
lebt von einer Subsistenzwirtschaft. Die Grundlagen für ein
"Wirtschaftswunder" sind auch nicht von ferne zu erkennen.
Ökonomisch bleibt die Türkei auf absehbare Zeit ein Fass
ohne Boden. Künftige EU-Zuschüsse werden auf
jährlich bis zu 40 Milliarden Euro geschätzt. Der
Nettozahler Bundesrepublik müsste davon wohl 10 Milliarden
übernehmen.
- Die Armut Anatoliens verschärft das Migrationsproblem.
Einschließlich der Auslandstürken gibt es zurzeit dank
der jährlichen demographischen Zuwachsrate von 3,4 Prozent
rund 75 Millionen Türken. Selbst wenn man diese Rate auf 2,5
Prozent absenkt, kommt man für die eventuelle Beitrittsphase
auf 90 Millionen Türken oder sogar noch auf mehr. Deshalb hat
der ehemalige türkische Präsident Demirel gegenüber
Altbundeskanzler Schmidt von der Notwendigkeit des "Exports" von 15
Millionen Türken gesprochen. Türkische Experten gehen
ebenfalls von einer Abwanderungsbereitschaft von 15 bis 18
Millionen aus.
- Deutschland hat zwischen 1950 und 2000 die weltweit relativ
höchste Zuwanderungsrate erlebt und ist, aufs Ganze gesehen,
mit der Einwanderung bravourös fertig geworden. Die
größte türkische Minderheit in Europa, nahezu drei
Millionen Menschen umfassend, lebt in der Bundesrepublik. Ihre
Integration ist bisher, um es vorsichtig zu sagen,
unvollständig verlaufen, da der Widerwille der Zuwanderer und
das Versagen der deutschen Eingliederungspolitik zusammenwirken.
Wenn unlängst 94 Prozent aller in Berlin eingeschulten Kinder
türkischer Herkunft kein Wort Deutsch konnten und zwei Drittel
aller vierzehn- bis vierundzwanzigjährigen Berliner
Türken, also alle aus der dritten Generation, wegen des
fehlenden Schulabschlusses und der mangelhaften Sprachkompetenz
arbeitslos waren, unterstreichen solche Gefahrensignale das
Integrationsdefizit. Käme es zu einer Massenzuwanderung,
würde die unabdingbare Integration der türkischen
Minderheit noch einmal extrem erschwert, vielleicht sogar dauerhaft
blockiert, zumal sich muslimische Zuwanderer bisher in allen
europäischen Ländern gegen die Integration erfolgreich
gesträubt haben.
- Auffallend selten wird hierzulande diskutiert, dass in der
Türkei zum zweiten Mal eine islamistische Protestpartei gegen
den säkularisierenden Kemalismus und die laizistische Republik
gewonnen hat - sie verkörpert nicht nur das Aufbegehren der
vernachlässigten Peripherie gegen das urbanisierte Zentrum.
Faktische Einparteienherrschaft gilt auf einmal als attraktiv. Das
proeuropäische Kalkül der Regierung Erdogan, deren
geschickte PR-Berater die "Gerechtigkeitspartei" völlig
irreführend mit der CDU vergleichen, ist leicht zu erkennen:
Der Zugang zu den europäischen Wirtschafts- und
Finanzressourcen ist äußerst attraktiv. Er gestattet
auch eine großzügige Bedienung der eigenen Klientel. Die
europäische Religionsfreiheit schützt auch den Islamismus
samt seiner ungestörten Weiterentwicklung. Das Militär
wird entmachtet, damit entfällt aber auch der Hüter des
kemalistischen Erbes in der laizistischen Republik.
Teilt aber die Erdogan-Partei, die Türkei überhaupt,
die westliche "Wertegemeinschaft"? Fraglos gelten seit der
Republikgründung (1922) für die Machteliten westliche
Zielwerte, da die Türkei, wie auch Russland seit Peter dem
Großen, Europa ähnlich zu werden bestrebt ist. Doch eine
soziologische Umfrage ergab kürzlich eklatante Unterschiede in
den Werthaltungen. In der EU wünschten nur mehr zehn Prozent
einen Einfluss der Religion auf die Politik, in der Türkei
aber mehr als zwei Drittel. Die Demokratie wurde in der EU von 85
Prozent als überlegenes politisches System betrachtet, in der
Türkei votierten, der historischen Erfahrung folgend, mehr als
zwei Drittel für ein Regime autoritärer
Führungspersönlichkeiten. Und wie ist mit der
beanspruchten Zugehörigkeit zur westlichen "Wertegemeinschaft"
das hartnäckige Leugnen des türkischen Genozids an 1,5
Millionen Armeniern (1915) zu vereinbaren, dem wenige Jahre
später die Ermordung und Vertreibung von 1,5 Millionen
Griechen aus Kleinasien folgte? Zugegeben, die Bundesrepublik
trägt mit dem Holocaust eine schwerere Bürde. Doch
hätte sie ein einziger westlicher Staat, wenn sie während
der Entstehung der EG, der EWG und der EU Auschwitz geleugnet
hätte, auch nur mit der Feuerzange angefasst?
- Warum sollte sich die EU so charmante Nachbarn wie den
chaotischen Irak, die syrische Diktatur, die iranische Theokratie
und erodierende Staaten wie Georgien und Armenien freiwillig
zulegen? Ganz zu schweigen von dem Kurdenproblem, das die zur Zeit
latente türkische Aggressivität, wie im letzten Irakkrieg
wieder deutlich wurde, weiterhin zu mobilisieren vermag.
- Allensbach hat im April 2004 in einer Umfrage erneut ermittelt,
dass 66 Prozent der Deutschen gegen, aber nur 12 Prozent für
einen Türkei-Beitritt sind. Vier Fünftel der Befragten
halten die Türkei nicht für ein europäisches Land.
Beitrittsverhandlungen unterstreichen daher das Demokratiedefizit
der bisherigen Vorentscheidungen. Das Ideal des mündigen
Bürgers spielt für sie keine Rolle mehr.
DieGenerationengerechtigkeit wird ebenfalls ignoriert, obwohl
kommenden Generationen mit einem Türkei-Beitritt aberwitzige
Kosten ohne erkennbare überzeugende Gegenleistungen
aufgebürdet würden.
- Kritiker eines Türkei-Beitritts wenden ein, dass Berlin
sich ungefährdet türkeifreundlich gebärden
könne, da Einstimmigkeit bei der Aufnahmeprozedur von den 25
(vielleicht sogar 28) EU-Staaten schlechterdings nicht zu erwarten
sei, insbesondere die osteuropäischen Mitglieder würden
ihre Eigeninteressen gegen jede Schmälerung zugunsten der
Türkei zu verteidigen wissen. Außerdem: Wenn von ca. 600
000 wahlberechtigten Staatsbürgern türkischer Herkunft
tatsächlich - so die demoskopischen Umfragen - 80 Prozent
für Rot-Grün stimmen sollten, lohne sich, zumal mit dem
Blick auf den geringen Stimmenunterschied im Wahljahr 2002, die
türkeifreundliche Rhetorik allemal. Im Kern sind das
unredliche oder parteiegoistische Hoffnungen, die der Dimension der
Problematik völlig unangemessen sind.
Längst hätte die europäische Politik an Stelle
der Alternative von Vollmitgliedschaft oder Außenseiterrolle
vielfältige, flexible Stufen der Kooperation entwickeln
sollen. Ein großes Nachbarland wie die Türkei, mit dem
freundschaftliche Beziehungen geboten sind, verdiente, so gesehen,
durchaus eine "privilegierte Partnerschaft", als
nichteuropäischer Staat aber keineswegs die EU-Mitgliedschaft.
Auch das Wählerstimmenkalkül setzt sich über alle
überzeugenden Einwände gegen einen Türkei-Beitritt
hinweg. Dabei könnte sich eine rationale
Interessenabwägung schon die beiden besonders triftigen
Gegenargumente nicht außer Acht lassen, die Bedrohung mit der
letalen Überforderung aller Ressourcen, erst recht die
unvermeidbare Zerstörung des großen Projekts der
europäischen Staatenunion durch die Aufnahme eines
nichteuropäischen muslimischen Staates.