Im Sommer 2003 hat ein italienischer Staatssekretär mit der Verunglimpfung deutscher Touristen für Irritationen im deutsch-italienischen Verhältnis gesorgt. Sie waren nur von kurzer Dauer; Bundeskanzler Gerhard Schröder, der im vergangenen Jahr seinen Adria-Urlaub abgesagt hatte, ist in diesem Sommer wieder nach Italien gereist. Das Ereignis hat vor allem eines gezeigt: Die gegenseitige Wahrnehmung ist - zumindest unterschwellig - immer noch durch Vorurteile, Ressentiments und Klischees geprägt. Der derzeitige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi trägt auf deutscher Seite kaum zu deren Abbau bei.
Mit dieser Ausgabe möchte die Redaktion einen Beitrag zum besseren Verständnis Italiens und der italienischen Politik leisten, Konfliktlagen und Probleme verdeutlichen sowie Perspektiven aufzeigen. Die wissenschaftliche Analyse der vielschichtigen Wirklichkeit von Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft, wie sie vier italienische und zwei deutsche Autoren vornehmen, soll zu einem differenzierteren Italien-Bild beitragen. Dabei geht es auch darum, das "Phänomen Berlusconi" zu erhellen, den "Berlusconismo" verständlich zu machen.
Die zweite Regierung Berlusconi ist mit ihren mehr als drei Jahren die langlebigste seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Italien hatte seither im Durchschnitt jedes Jahr eine neue Regierung. Die kürzeste Amtszeit - lediglich neun Tage - verzeichnete ein Kabinett unter Giulio Andreotti im Jahr 1972. Selbst wenn Italien möglicherweise schon wieder kurz vor einem Regierungswechsel steht, so handelt es sich doch bei dieser Ausgabe um mehr als nur eine Momentaufnahme.
Während Vittorio Lucchetti im einleitenden Essay nahezu einen Stillstand in der italienischen Politik konstatiert, wofür er u.a. die Linke verantwortlich macht, zeigt Alexander Grasse auch Veränderungen im politischen System Italiens auf. Vor dem Hintergrund der Europa- sowie Provinz- und Kommunalwahlen vom Juni 2004 analysiert er die Entwicklung des politischen System Italiens seit dem Ende der so genannten "ersten Republik". Es entsteht dabei ein etwas anderes Bild als das von der vollkommenen Reformunfähigkeit des Landes.
Hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Entwicklung bildet der G-7-Staat Italien derzeit allerdings das europäische Schlusslicht. Helmut Drüke dokumentiert dies anhand der aktuellen strukturellen wie auch konjunkturellen Probleme der italienischen Wirtschaft.
Mario Caciagli macht in seinem Beitrag auf die unveränderte Europafreundlichkeit Italiens aufmerksam. Ohne die eingetretenen Kursveränderungen in der italienischen Außen- und Europapolitik und die wachsende Europaskepsis auf dem Stiefel zu unterschätzen, erteilt er Theorien eines möglichen Isolationismus eine Absage. Gian Enrico Rusconi zeigt die Grenzen des Berlusconismo auf und leistet damit einen Beitrag zu der 1994 mit der ersten Regierung Berlusconi aufgekommenen Telekratie-Debatte.
Im Zentrum des Beitrages von Giuseppe Gangemi stehen Fragen der politischen Kultur. Der Autor thematisiert die bestehende Kluft im Verhältnis von Regierung und Zivilgesellschaft und unterstreicht die Bedeutung, welche die sozialen Bewegungen in Italien haben - ein in Deutschland vielfach zu wenig wahrgenommener Sachverhalt.
Die Redaktion dankt Alexander Grasse für seine Mitwirkung bei der Konzeption, Realisierung und Koordination dieser Ausgabe vor Ort.