Frank, der Holländer, kämpft um sein Gondeldiplom. Mit einer Holzlatte stochert er mit seinem Schlauchboot durch das Fassadenlabyrinth. Eine ganz bestimmte Route soll er abfahren, so hat es ihm der Gondellehrer angewiesen, ein falscher Italiener mit rot-weiß gestreiftem Strohhut: ein Dreieck von der Gondelschule zum Parlament, weiter zur Akademie und zurück zur Gondelschule.
Da hört er den Ruf des Zuhälters von der "Liebesinsel", der auf seiner Insel Nutten mit Federballschlägern, eine Meerjungfrau und eine Wahrsagerin beschäftigt: "Taxi!" Einige Besucher wollen abgeholt werden. Frank muss seine Route ändern. Mühsam versucht er, sein Schlauchboot zu wenden, um die Wartenden an Bord zu nehmen.
"Das ist Berlin", lacht John, der Amerikaner, als er von der Liebesinsel ins Boot krabbelt. Auch er hat das Ticket zur "Fassadenrepublik" gelöst, jener Performance mit Publikumsbeteiligung, für die der ehemalige Palast der Republik im Erdgeschoss auf einer Fläche von rund 800 Quadratmetern geflutet wurde. Auf etwa 20 Schlauchbooten paddelt das Publikum durch eine Landschaft aus Fassadenteilen, die locker von der Decke hängen. In der "Akademie" kann es einem Vortrag lauschen, in dem die Mittelmäßigkeit der Fassade des ehemaligen Berliner Stadtschlosses mit der Mittelmäßigkeit des Palastes des Republik verglichen wird. Im "Parlament" kann es über gelungene und misslungene Fassaden abstimmen und anschließend gleich neue Fassaden selbst malen. Und dem Team von Fassaden-TV kann es dann noch ein Interview geben. Die Fassadenrepublik ist ein verspielter Mikrokosmos, eine jener Veranstaltungen, in denen sich Spaßkultur, Dilettantismus und Tiefsinn auf eine Art mischen, wie man sie so vielleicht nur in Berlin finden kann.
Das grelle Spiel mit Oberflächen und auswechselbaren Schaufronten ist Teil einer auf drei Monate angelegten Veranstaltungsreihe, mit der die asbestsanierte Ruine des Palasts der Republik noch einmal für die Allgemeinheit geöffnet worden ist. Der ehemalige DDR-Bau auf dem Berliner Schlossplatz erlebt seinen vermutlich letzten Herbst als "Volkspalast". So heißt das Programm, das unter Federführung der Off-Theaterhäuser "HAU" und "sophiensaele" sowie des Vereins Zwischenpalastnutzung bis Anfang November stattfindet. In einer höchst theatralischen Umgebung: Die weitläufigen Foyers und Säle, zwischen denen bei der Sanierung die Trennwände entfernt wurden, sind auch im Rohzustand noch vielfältig zu nutzen.
Zudem bietet die Geschichte des Hauses und die Diskussion um die Zukunft dieses Ortes im Zentrum der Hauptstadt Stoff genug für spannende Projekte. Der Palast soll abgerissen werden, so hat es der Bundestag beschlossen. Im kommenden Frühling soll die auf mindestens 40 Millionen Euro veranschlagte Demontage beginnen - wenn die Finanzierung steht. Doch was dann? Keinesfalls werden sofort die Bauarbeiten für die Schlossrekonstruktion beginnen. Es gibt dafür weder ausreichend Geldmittel noch einen endgültigen Beschluss über die Nutzung. Als erstes würde wohl über den Trümmern des Palasts eine Grünfläche entstehen.
Amelie Deuflhard, Theaterintendantin und eine der Leiterinnen des "Volkspalasts", wünscht sich ein Umdenken. Sie nimmt das Motiv auf, dass die Schlauchboot-Performance vorgibt: "Bei der Debatte über die Zukunft des Schlossplatzes geht es doch in erster Linie um Fassaden. Ich finde aber, dass man ein Haus von seinem Inneren her planen sollte, von seiner Nutzung. Das Berliner Schloss soll von außen wie ein Schloss aussehen, innen wird es ein Hotel oder ein Museum werden. Das finde ich sehr unbefriedigend."
Auch der Berliner Kultursenator Thomas Flierl (PDS) unterstützt den "Volkspalast". "Das Projekt der kulturellen Zwischennutzung nimmt den skelettierten Palast der Republik als das, was er sein könnte: als Rohbau für eine Zukunft mit dominant öffentlicher Nutzung", meint er. Zugleich plädiert er aber auch dafür, nicht wieder die alten ideologischen Gräben der Palast-Schloss-Debatte aufzureißen, die oft entlang der Ost-West-Trennlinien verliefen.
Bei den Befürwortern des Stadtschlosses stößt das Kulturprogramm im Palast indes nicht auf große Zustimmung. "Ich vermag nur wenig Wegweisendes an Kultur zu entdecken", meint etwa der Hamburger Unternehmer Wilhelm von Boddien, Spiritus Rector des Fördervereins Berliner Stadtschloss. Er sieht im "Volkspalast" einen Ausdruck für Berliner Eventkultur und kritisiert die öffentliche Subventionierung des Projekts. So haben unter anderem die Bundeskulturstiftung und der Hauptstadtkulturfonds Mittel bereitgestellt. Hinter der Kritik mag die Befürchtung stecken, dass eine neue Popularität des Palasts den Abriss verzögern könnte.
Und in der Tat mehren sich die Stimmen für eine Moratorium. So plädiert auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) dafür, den Palast als Veranstaltungsort bis zum Abriss intensiv zu nutzen. Und hat es gleich selber vorgemacht: Mitte Juni lud er rund 1.500 Mitglieder zur BDI-Jahrestagung in die mit Rollteppichen und Toiletten-Containern aufgeputzte Palast-Ruine. Der Spitzenverband der deutschen Wirtschaft im ehemaligen Paradebau des Arbeiter- und Bauernstaats? Doch es war weniger die ideologische Pikanterie als eine praktische Erwägung, die den BDI zu dieser Ortswahl veranlassten. Es fehlt in der Berliner Mitte einfach ein Ort für große Tagungen. "Der Palast hat in der Öffentlichkeit einen zu schlechten Ruf", meint BDI-Hauptgeschäftsführer Ludolf von Wartenburg.
In den kommenden Wochen wird sich zeigen, ob es den "Volkspalast"-Veranstaltern gelingt, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Bis dahin können die Besucher im Palast Teil einer Tanzchoreographie werden ("Le Bal Moderne"), sich in einer fiktiven Führung von dem Schauspieler Sepp Bierbichler den Rohbau des Palasts der Republik im Jahr 1975 zeigen lassen oder in Konzerten den Bands aus "schrumpfenden Städten" wie Detroit, Manchester oder Ischevsk (Russland) lauschen.
Wenn sie dann den Palast wieder durch das Hauptportal verlassen, fällt ihr Blick auf das Zentrum der Berliner Fassadenrepublik anno 2004: direkt voraus auf die Kunststoffplane, die die alte Bauakademie von Karl Friedrich Schinkel simuliert und einen Wiederaufbau propagiert; rechts hinten auf den jüngst fertiggestellten Neubau der Berliner Bertelsmann-Repräsentanz Unter den Linden 1, der nach vorn wie eine Kopie des ehemaligen Kommandantenhauses an gleicher Stelle wirkt, zur Gartenseite aber moderne Formen besitzt; und links auf das ehemalige Staatsratsgebäude, das zu einer Managementschule umgebaut wird und dessen große Fensterfronten gerade demontiert sind. Mitten auf dem Platz, auf dem einst das Schloss stand, campieren Wohnmobile. Johannes Wendland
Das aktuelle Veranstaltungsprogramm im ehemaligen Palast der Republik ist im Internet unter "www.volkspalast.com" zu finden.