Für die Untersuchung mit dem Titel "Abschied vom rationalen Wähler" wurden über einen Zeitraum von viereinhalb Jahren die Wahlberechtigten im Rhein-Main-Gebiet insgesamt elf Mal nach ihren Vorstellungen von der Lage des Landes, von der Fähigkeit der Parteien, Probleme zu lösen, und nach der Persönlichkeit und Sachkompetenz der Spitzenpolitiker befragt. Zugleich wurde die Darstellung der Personen, Parteien und Probleme in den Fernsehnachrichten untersucht, so dass der Einfluss des Fernsehens auf die Meinungen und Wahlabsichten über einen langen Zeitraum festgestellt werden konnte.
Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass die Wähler sich am aktuellen Geschehen und dem Wesen der Kanzlerkandidaten orientieren und bei der Wahlent-scheidung rational ihren persönlichen Interessen folgen. Der Kommunikationswissenschaftler Kepplinger stellt diese Sicht der Dinge grundsätzlich in Frage: "Die meisten Wähler kennen weder das aktuelle Geschehen noch die Kanzlerkandidaten aus eigener Anschauung. Sie verhalten sich bei ihrer Wahlentscheidung vielfach auch nicht rational. Viele haben Schröder als Kanzler gewollt, obwohl sie Stoiber sachlich mehr zugetraut haben."
Kepplinger, Schüler und später enger Mitarbeiter von Elisabeth Noelle-Neumann, hatte bereits in den 80er-Jahren die bis dahin unterschätzte Macht des Fernsehens, seine vielfältigen Darstellungstechniken und ihre Wirkungen auf das öffentliche Erscheinungsbild von Politikern analysiert. In seiner Mainzer Wahlstudie ist Kepplinger mit seinem Assistenten Marcus Maurer den Fragen nachgegangen, wie die handelnden Personen im Fernsehen dargestellt werden, wie die Zuschauer mit der Darstellung umgehen und wie sich ihre medial vermittelten Vorstellungen auf das Wahlverhalten auswirken.
Kepplinger hat herausgefunden, dass die Wähler bei der Präferenz für einen Kanzlerkandidaten eher ihren Emotionen folgen als ihren Vorstellungen von den Sachkompetenzen der Politiker. Deshalb ziehen die Wähler einen Kandidaten, den sie sympathisch finden, aber nicht für effektiv halten, einem Kandidaten vor, dem sie viel zutrauen, jedoch keine Sympathie entgegenbringen. Das habe sich im Jahr 2002 bei der Kanzler-Präferenz besonders deutlich gezeigt. Während des gesamten Wahljahres wurde dem Unionskandidaten Edmund Stoiber erheblich mehr Sachkompetenz als dem SPD-Kandidaten Gerhard Schröder zugeschrieben. Aber er genoss nicht so viel Sympathie wie Schröder, der sich zudem im Fernsehen besser "verkaufen" kann. Das gab letztlich den Ausschlag.
Für das Wahljahr 2002 macht dies Kepplinger an einigen konkreten Beispielen deutlich. Die negative Dar-stellung der Lage des Landes, verbunden mit einer deutlichen Zuschreibung der Kompetenz an die Union und ihren Kanzlerkandidaten, hatte gegen eine Wiederwahl der Regierungskoalition gesprochen. Schröder und der SPD wurden in den Nachrichten besonders häufig die Kompetenzen zur Senkung der Arbeitslosigkeit und der Steuerlast abgesprochen. Infrage gestellt wurden auch ihre Fähigkeiten zur Ankurbelung der Wirtschaft und zur Bewahrung der inneren Sicherheit.
Vor diesem negativen Hintergrund hob sich die Be-richterstattung über zwei Themen ab, nämlich die Si-cherung der sozialen Gerechtigkeit und die Vertretung der deutschen Interessen in der Welt. Es überrasche nicht, meint Kepplinger, dass der SPD und Schröder im Fernsehen soziale Kompetenz zugebilligt wurde. Dies sei auf die lange Tradition der Sozialdemokratischen Partei zurückzuführen. Bemerkenswert sei hingegen, dass den Sozialdemokraten in den Fernsehnachrichten die Kompetenz zur Wahrung deutscher Interessen zugesprochen wurde. In diesem Zusammenhang erinnert der Autor der Studie an die ge-scheiterten Bemühungen der Regierung Schmidt um die Nachrüstung und die "problematische Haltung" von Oskar Lafontaine im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung. Dennoch sei die Resonanz in den Fernsehnachrichten auf Schröders Distanzierung von der Irak-Politik der USA positiv gewesen - mit dementsprechenden Folgerungen für die Einstellung der Wähler.
Kepplinger ergänzt: "Witzigkeit, Schlagfertigkeit und die Fähigkeit, einen Sachverhalt in Talkshows auf den Punkt zu bringen - diese Talente werden für Politiker immer wichtiger." Guido Westerwelle sei deshalb an die FDP-Spitze gekommen, so Kepplinger in einem Interview, weil er im Fernsehen "besser rüberkommt" als Wolfgang Gerhardt. Bei den Grünen sei Joschka Fischer auch ohne wichtiges Parteiamt der Star, weil er medienwirksam auftritt. Angela Merkel verdanke ihre heutige Position auch der Tatsache, dass sie im CDU-Spendenskandal den Rückenwind der Medien hatte. Aber sie sei kein Medienstar wie Schröder und müsse diesen Nachteil - wie früher Helmut Kohl - durch eine starke Verankerung in der Partei ausgleichen.
Kepplinger spricht von den zentralen Qualifikationen eines Politikers als wesentliche Voraussetzungen für die Machtausübung. Diese und die peripheren Qualifikationen als entscheidende Bedingungen für erfolgreiche Fernsehauftritte schlössen sich nicht aus. An den Beispielen Helmut Schmidt und Helmut Kohl sei festzustellen, dass Politiker in unterschiedlichem Maße über zentrale und periphere Qualifikationen verfügten. Schmidt habe sich im Fernsehen auf eindrucksvolle Weise als Kanzler präsentieren können, er konnte aber nicht den Nachrüstungsbeschluss gegen den Widerstand in seiner Partei verwirklichen. "Bei Schmidt bestand eine Kluft zwischen der theoretischen Einsicht in das Notwendige und der praktischen Fähigkeit, es zu verwirklichen," analysiert Kepplinger. Dies habe sich auch bei dem misslungenen Versuch gezeigt, die Staatsfinanzen zu konsolidieren, woran er letztlich als Kanzler gescheitert sei. In einer ähnlichen Situation befinde sich "aus vergleichbaren Gründen" auch Schröder. Kohl habe als Kanzler im Fernsehen weniger eindrucksvoll gewirkt, konnte jedoch die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze trotz des Widerstandes in seiner Partei durchsetzen.
Durch den Siegeszug des Fernsehens haben die von Kepplinger als peripher bezeichneten Qualifikationen heute einen größeren Einfluss auf den Machtgewinn von Spitzenpolitikern als früher. Dies gelte vor allem für die nationale Ebene, treffe aber in abgeschwächter Form auch auf regionale Bereiche zu. Dadurch hätten sich die Chancen von Politikern mit ausgeprägten peripheren Qualifikationen zu Lasten jener vergrößert, die stärker über zentrale Qualifikationen verfügten.
Positive Fernsehnachrichten, so eine weitere Erkenntnis aus der Untersuchung, vergrößern die Zustimmung für eine Partei; als Faustregel könne gelten: Aufgrund einer durchgehend positiven Berichterstattung gewinnt eine Partei innerhalb von sechs Monaten rund zwei Prozent Anhänger. Bei Fernsehnachrichten mit negativem Inhalt ist es nahezu umgekehrt, hier verliert eine Partei in der gleichen Zeit rund zweieinhalb Prozent ihrer Anhängerschaft.
Die Kanzlerkandidaten, heißt es in der im Verlag Karl Alber (Freiburg/München) erscheinenden Untersuchung, bewegen zusammen etwa 14 Prozent der Wählerstimmen zugunsten ihrer Partei. Bei der jüngsten Bundestagswahl hat Gerhard Schröder seiner Partei circa acht Prozent an zusätzlichen Stimmen gebracht, Stoiber rund sechs Prozent. Der Vorsprung von Schröder zu Stoiber betrug folglich nur etwa zwei Prozentpunkte - diese haben dann allerdings die Wahl 2002 entschieden.
Aufgrund der intensiven Kritik unter anderem in den Fernsehnachrichten - die Regionalzeitungen sind laut Kepplinger die zweitwichtigste Informationsquelle - über die Politik der ersten Regierung Schröder waren im November 1999 etwa zwei Drittel der Wähler davon überzeugt, dass die SPD sie im Bundestagswahlkampf 1998 getäuscht hatte. Bei dem Gefühl, im Wahlkampf getäuscht worden zu sein, habe es sich nicht um eine kurzzeitige Aufwallung gehandelt, sondern um eine dauerhafte Emotion. Im September 2002 waren von jenen, die sich 1999 getäuscht gefühlt hatten, immer noch mehr als zwei Drittel dieser Ansicht. Die entsprechenden Auswirkungen auf das Wahlverhalten demonstrieren zugleich die Macht des Fernsehens, die den Wähler unmittelbar beeinflussen kann.
Dabei stellt Kepplinger die Frage, weshalb die rot-grüne Koalition trotz der dauerhaften Enttäuschung weiter Teile der Wählerschaft die Bundestagswahl 2002 knapp gewonnen hat. Ein wesentlicher Grund sei gewesen, dass es am Ende des Wahlkampfes nicht mehr um die Parteien ging, sondern nur noch um ihre Kandidaten. Damit hatte die CDU/CSU einen großen Vorteil gegenüber der SPD eingebüßt.
Ein weiterer wichtiger Grund war, dass die Rentenpolitik als Hauptursache der Enttäuschungen nach der Wahl 1998 im Wahlkampf 2002 keine nennenswerte Rolle gespielt hat. Folglich sei, so der Publizistik-Professor, die noch vorhandene Enttäuschung nicht effektiv wieder belebt worden. Damit habe die Union eine weitere Chance nicht genutzt.
"Bedeutsamer als diese Gründe war jedoch letztlich der Einfluss des Fernsehens, das Gerhard Schröder trotz massiver Kritik an seiner Problemlösungskompetenz als den alles in allem wesentlich akzeptableren Kanzlerkandidaten präsentierte", unterstreicht Kepplinger.
Eine weitere Frage laute, welche Auswirkungen der erneute Vorwurf des Wahlbetrugs nach der Bundes-tagswahl 2002 auf die künftigen Wahlchancen der SPD besitze. Eine erste Vorstellung davon geben die Antworten der Wähler nach der Wahl auf die Frage: "Fühlen Sie sich von der rot-grünen Regierung im Wahlkampf getäuscht, nachdem erst jetzt das tatsächliche Ausmaß der Defizite im Bundeshaushalt bekannt geworden ist und Steuern wie Abgaben erhöht werden?" Im Oktober 2002 äußerten 62 Prozent der Befragten, sie fühlten sich getäuscht. Nur etwas mehr als ein Drittel (35 Prozent) war nicht dieser Ansicht, und fast niemand (ein Prozent) hatte keine Meinung. Die Umfrage wurde ein halbes Jahr vor den Einschnitten in das Renten- und Gesundheitssystem durchgeführt, die für Millionen direkt spürbar und nach Meinung Kepplingers entsprechend lange in der Erinnerung bleiben werden.
Wie viel Wahrheit kann man im Wahlkampf von Volksparteien angesichts von unvermeidbaren und schmerzlichen Reformen erwarten? Kepplinger beantwortet die hypothetische Frage selbst: Sagen sie den Wählern die ungeschminkte Wahrheit, werden sie nicht gewählt. Verschweigen sie die Wahrheit, werden sie möglicherweise gewählt, jedoch abgestraft, wenn die Parteien das Notwendige tun. Eine Aussage, die auch das Dilemma der Regierung bei den Hartz-IV-Reformen treffend beschreiben. Dies sei auch dann der Fall, wenn die Parteien - wie die 2002 etablierte rot-grüne Koalition - "von nahezu allen meinungsbildenden Medien unterstützt und vorangetrieben werden, weil die organisierten Interessen, gestützt auf das Eigeninteresse der Boulevardmedien und des Fernsehens, jeden Einschnitt als moralisch verwerflichen Angriff auf berechtigte Besitzstände diskreditieren." Für den politischen Diskurs im Wahlkampf verspreche dies nichts Gutes, für das politische Handeln nichts Erfreuliches.
Die Wähler glauben, dass sie sich bei ihren Urteilen über die Politiker und ihre Parteien sowie über die aktuellen Probleme an der Realität orientieren. Wenn sich die Darstellung eines Politikers im Fernsehen ändere, glauben sie, der Politiker und sein Handeln hätten sich geändert. Wenn die Zahl der Beiträge über die Arbeitslosigkeit zu- oder abnimmt, halten sie die Arbeitslosigkeit für ein mehr oder ein weniger drängendes Problem. Kepplingers These: Tatsächlich orientieren sich die Wähler jedoch nicht an der Realität, sondern an ihrer Darstellung vor allem im Fernsehen. Dabei unterliegen die Bürger einem Trugschluss; denn was sie für ein Urteil über die Politiker selbst halten - ihre Sachkompetenz und ihre Persönlichkeit -, ist tatsächlich ein Urteil anhand von Realitätsdarstellungen, die gelegentlich mit der dargestellten Realität wenig zu tun haben.
Der Mainzer Professor greift zum überzeugenden Beispiel des Elbhochwassers, das den Wählern als "Jahrhundertflut" erschienen sei. Sie seien davon überzeugt gewesen, dass sie aufgrund der Bilder und Filmaufnahmen von den reißenden Fluten und über-schwemmten Feldern selbst über das Ausmaß des Elb-Hochwassers urteilten und sie glaubten, dass sie sich aufgrund der fernsehvermittelten Eindrücke von Poli-tikern selbst eine Meinung über sie bildeten. Kepplin-ger kommt zu dem Schluss, dass die Wähler die Dar-stellung für ein maßstabgetreues Abbild der Realität halten, aus der sie ihre Folgerungen ableiten. Sie sind überzeugt davon, dass es sich dabei um eigene Ein-sichten handelt. Dabei erliegen sie, wie Kepplinger es nennt, der "Illusion der autonomen Urteilsbildung". Was die Bürger also für ein eigenständiges, selbst entwickeltes Urteil über das aktuelle Geschehen halten, sei in Wirklichkeit meist das kollektive Nachvollziehen von Folgerungen, die sich aus der Art der medialen Darstellung ergeben.
Die Wähler seien paradoxerweise umso mehr von ihrem eigenständigen Urteil überzeugt, je zwingender es aus der Art der Darstellung folge. Die Berichterstattung über das Elb-Hochwasser habe seinerzeit die Frage nach der Schuld der Regierung an der schlechten Lage weitgehend aus den Fernsehnachrichten ver-drängt. Über die Ursachen des knappen Wahlsieges habe in der öffentlichen Diskussion schnell Einver-nehmen bestanden. Danach beruhte die Vorliebe für den amtierenden Kanzler auf seiner Fernsehtauglichkeit, während die SPD ihren Erfolg vor allem den Hilfszusagen der Regierung nach dem Hochwasser verdankte. Hinzu kam noch die Kritik führender Sozialdemokraten an der Politik der Vereinigten Staaten von Amerika, die sich entsprechend auswirkte.
Der deutsche Wähler sei längst nicht so rational, wie er es zu sein meine, und er binde sich nicht mehr langfristig an eine politische Partei. Auch wenn 75 bis 80 Prozent der Wähler von sich behaupten, dass sie eine langfristige Bindung haben, so ergeben die Befragungen der Mainzer Wissenschaftler zwischen Frühjahr 1998 und Herbst 2002 ein anderes Bild. Nur 42 Prozent der Wahlberechtigten blieben nämlich bei ihrer ursprünglichen Parteibindung. Der größere Teil aber hatte die angeblich langfristige Bindung sogar mindestens zweimal geändert. Die Frage nach der Par-teibindung erfasste dabei eher die politische Grund-haltung als die Bindung der Wähler an eine spezifische Partei.
Kepplinger: "Wähler behaupten heute zum Beispiel, sie würden gerne die FDP wählen und wären schon immer FDP-Anhänger gewesen. Die wiederholte Befragung der gleichen Person zeigt aber, dass sie vor einem halben Jahr gesagt haben, sie wären schon immer CDU-Anhänger." Eine Erklärung dafür sei weniger die Attraktivität anderer Parteien als vielmehr die mangelnde Bindekraft der bevorzugten Partei. Der Wähler, das unbekannte Wesen. Den Parteistrategen bleibt es überlassen, ihre Schlüsse aus dem Verhalten des wenig rationalen Wählers zu ziehen.
In seiner Conclusio geht Kepplinger noch einmal auf das Verhältnis zwischen Fernsehen und Wähler ein und behauptet: Die meisten Zuschauer vergessen einen Großteil dessen, was sie in den Fernsehnachrichten gehört und gesehen haben, innerhalb von wenigen Minuten. Trotzdem beruhe fast alles, was sie über das aktuelle Geschehen wissen, auf den Medien, weil sie vor allem das behalten, was diese über Tage und Wochen berichten. Das heißt: "Die Fernsehzuschauer glauben und behalten nur einen Bruchteil dessen, was die aktuellen Berichte des Fernsehens melden." Trotzdem beruhten die Entscheidungen der meisten Wähler zu einem erheblichen Teil auf den Gewissheiten, die die Medien und hier vor allem das Fernsehen vermitteln. Dies alles sei, so Kepplinger, mit den Grundannahmen von der Theorie des rationalen Wählers kaum vereinbar.
Das Fernsehen und die meinungsbildenden Zeitungen und Zeitschriften, die die notwendigen Hintergrundinformationen liefern, prägen über Wochen und Monate Schritt für Schritt die Sichtweisen von großen Minderheiten, lenken dadurch deren wahlrelevante Folgerungen und üben auf diese Weise einen moderaten, aber zwangsläufigen Einfluss auf die einzelnen Wähler aus. Diese können dann womöglich die Wahlen bei knappen Ausgangslagen entscheiden. Wenn auch der größere Teil der Wähler durch seine soziale Herkunft oder die politische Grundhaltung weitgehend geprägt ist, so bewegt das Fernsehen nach Kepplingers These den, wie er es nennt, beweglichen Teil der Wahlentscheidungen - "und das gibt am Wahltag den Ausschlag."