Stolz zeigen sie den nunmehr gelochten Wahlausweis. Für viele ist und bleibt es unverändert der erste offizielle Pass ihres Landes wie ihres Lebens, den sie in den Händen halten. Bis dato hatten viele Afghanen keinen Ausweis.
"Viele Bürger haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Stimme genausoviel wert ist, wie die von Präsident Karsai. In einem Land mit derartigen Hierarchien ist das ein enormes Ereignis", meint Rupert Neudeck, der mit seiner Organisation "Grünhelme" die Wahl und die Tage danach in der Provinz Herat verbracht hat. Neudeck hat beobachtet, "wie die Menschen mit quasi religiöser Andacht wählen gegangen sind, das Lochen der Karte, das Falten und Stempeln des Wahlzettels, dann hinter dem Vorhang das Kreuz machen, insgesamt mehr Bewegung als in einer Moschee", meint der Cap Anamur-Gründer.
Das Wahlergebnis ist profan und es kommt wie erwartet: Hamid Karsai, der Paschtune und Mann Washingtons, ist der alte und neue Präsident, gewählt mit 55 Porzent der Stimmen. Der Zweitplazierte, Junus Kanuni, Tadschike, ehemaliger Erziehungsminister im Kabinett von Karsai und Verhandlungsführer bei der Bonner Afghanistan-Konferenz im Dezember 2001, folgt abgeschlagen mit 16 Prozent. Ein ernsthafter Herausforderer war er nicht. Kaum eine Stimme für ihn kam von den Paschtunen, Karsai dagegen hat es geschafft, nennenswerte Teile der tadschikischen Wählerschaft auf seine Seite zu ziehen. Das ist ein gutes Zeichen, angesichts eines Wahlkampfes der überwiegend von ethnischem Mauerdenken bestimmt war. Ergebnisse von über 90 Prozent, wie sie Karsai in Kandahar und den südlichen Provinzen erzielt hat, muten sozialistisch an. Sie sind Ausdruck mehr oder weniger erzwungener Wahlempfehlungen durch Mullahs, Stammesälteste oder Milizenchefs. Es braucht mehr als eine Wahl, viel Bildung und auch Mut, bis sich dies ändert.
Massooda Jalal, die einzige Frau unter 18 Kandidaten, hat 1,1 Prozent der Stimmen erhalten. "Wäre die Wahl frei gewesen, ohne Einschüchterung, ohne Waffen, dann hätte ich gewonnen", erklärt sie. Auch wenn sie über wenig Ausstrahlungskraft verfügt, Massooda Jalals Verdienst liegt darin, überhaupt angetreten zu sein. Sie hat die Rolle der Frau in die Öffentlichkeit getragen, wo die meisten Afghaninnen ansonsten ein streng reguliertes Dasein zu Hause fristen. Das wird mittelfrisitg Folgen für diese patriarchalische Gesellschaft haben. Frauen haben sich massiv an der Wahl beteiligt. Fast die Hälfte des Fachpersonals, das für UNAMA an den Urnen im Einsatz war, bestand aus Frauen.
Es hat sich gezeigt, dass die afghanische Zivilgesellschaft präsent und engagiert ist, wenngleich noch schwach. Afghanische NGOs haben das Gros der unabhängigen Wahlbeobachter gestellt, allen voran FEFA, die Free and Fair Elections Foundation of Afghanistan, mit über 2.000 Wahlbeobachtern landesweit. So konnte zweifelsfrei festgestellt werden, dass neben dem Skandal um die abwaschbare Tinte die UNO ihr afghanisches Personal unzureichend geschult hatte. Wo zuwenig Wahlkabinen zur Verfügung standen, ließen Frauen Männer hinter ihrem Wahlvorhang wählen und umgekehrt.
Der großen Zahl afghanischer Wahlbeobachter steht die äußerst geringe Präsenz westlicher Wahlbeobachter gegenüber, vor allem von EU und OSZE. Beide hatten mit Verweis auf die fehlende Sicherheit auf eine offizielle Beobachterdelegation verzichtet. Der Verlauf der Wahlen hat dieses Argument widerlegt.
Die Parlamentswahlen, geplant für Frühjahr 2005, werden der eigentliche politische Härtetest in Afghanistan sein. Es wird sich erst noch zeigen müssen, ob politische Parteien bei einer Mehrheit der Afghanen Anklang finden. Das Wort "Partei" ist politisch belastet. "Viele Afghanen denken dabei an die Kommunistische Partei, die ihrem Land soviel Leid gebracht hat", gibt Rupert Neudeck zu bedenken. Zurzeit bemühen sich Einrichtungen wie das amerikanische National Democratic Institute (NDI) der Bildung neuer afghanischer Parteien nachzuhelfen. "Es gab bei dieser Präsidentschaftswahl keine richtige Opposition, keinen echten Wahlkampf, kein Kandidat hat ernsthaft ein Programm vertreten, und jeder schien zu wissen, dass das Hauptziel die Wiederwahl von Hamid Karsai war", meint Robert Kluyver von der Foundation for Culture and Civil Society, "trotz des ingesamt positiven Verlaufs kann man von einer Farce reden", findet er.
Karsai selbst steht vor der Herausforderung, eine neue Regierung zu bilden. Mit oder ohne Warlords, lautet dabei die Frage. Letzteres erwartet die internationale Staatengemeinschaft, andererseits gilt es, den afghanischen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Nachdem Karsai den Gouverneur von Herat, Ismail Khan, entmachtet hat und dabei ist, General Fahim, den Noch-Verteidigungsminister und bis vor kurzem starken Mann der Nordallianz ins politische Abseits zu befördern, macht sich Hoffnung breit, der Präsident könnte so auch in der neuen Regierung verfahren.
"Ich werde keine Koalitionsregierung bilden", hat Karsai im Wahlkampf betont. Das könnte sich rasch als Schnee von gestern erweisen. Karsai weiß, dass eine Regierung besonders dann als legitim angesehen wird, wenn alle Ethnien angemessen vertreten sind. Eine Schlüsselfrage dabei ist, ob sich Karsais Herausforderer Kanuni in die Regierungspflicht nehmen lässt
Führende Vertreter anderer großer Ethnien sind Usbeken-General Dostum, der bei der Wahl mit 10 Prozent an vierter Position landete, und Mohammad Moahqiq, der Führer der Hazara-Minderheit, Dritter mit knapp 11 Prozent. Wenn nicht persönlich im Kabinett, so werden beide den Einfluss ihrer jeweiligen Ethnie in der Regierung zäh aushandeln. Dostum verfügt über tausende Miliz-Kämpfern, die er als politischen Faustpfand in die Waagschale werfen kann.
Es gibt erste Gedankenspiele, die Parlamentswahlen auf den Sommer oder Herbst 2005 zu verlegen. Die Erfahrungen und logistischen Probleme aus dem Endspurt der Präsidentschaftswahl sprechen dafür und auch das weitaus kompliziertere Wahlsystem für die Parlamentswahlen. Kaum einer der vielen Analphabeten dürfte den geltenden Wahlmodus verstehen.
Hoffnungzeichen gibt es auch: Ein Teil der Taliban, datunter der ehemalige Außenminister Mutawakil, scheint - als Ergebnis der Präsidentschaftswahl - den militärischen Kampf aufgeben zu wollen und eine politische Zukunft anzustreben. Zur Zeit laufen Gespräche mit Wali Karsai, dem Halbbruder des Präsidenten, um diese "gemäßigten Taliban" ins Boot zu holen.